100 Jahre CVJM Riehen

Michael Raith

Als in der Lehrerwohnung des damaligen Riehener Dorfschulhauses an der Bahnhofstrasse 1 am 3. Dezember 1875 der «Christliche Männerverein Riehen» gegründet wurde, stieg damit die Anzahl der Vereine unseres Dorfes von drei auf vier. Riehen hatte zu jener Zeit 1900 Einwohner und kannte weder geteerte Strassen noch eine Kanalisation. Man lebte ganz bewusst auf dem Lande, auch wenn ein grosser Teil der Einwohnerschaft bereits sein Brot in der Stadt verdienen musste. Vor allem die Jugend fand aber damals das Landleben nicht immer spannend. Mit alkoholischen Exzessen, Schlägereien und Messerstechereien wurden die Zeit — und manchmal auch ein Mensch — tot geschlagen. Die Vereine boten erstmals eine vernünftige Freizeitgestaltung. Dieses Angebot blieb bis weit in das 20. Jahrhundert hinein dankbar und rege benutzt. Die Jugendkriminalität ging in der Folge stark zurück.


Die Vereine waren aber nicht das einzig Neue im damaligen Riehen. In Staat und Kirche tobte der Kulturkampf. Auch Riehen blieb davon nicht verschont. Statt eines konservativen wurde 1875 erstmals ein freisinniger Pfarrrer gewählt und 1876 fiel das Gemeindepräsidium an einen — vergleichsweise zwar harmlosen — Neuerer. In dieser Zeit des Umbruchs gab es Leute, die das überkommene gegen den Ungeist der Zeit zu bewahren suchten. Einer von ihnen war der aus Attelwil AG stammende Riehener Primarlehrer Jakob Baumann-Stump (1836—1905). Baumann hatte seine Prägung im Lehrerseminar von Beuggen bei Badisch Rheinfelden erfahren; dort wirkte als Leiter ein Mann von schlichter Herzensfrömmigkeit und zudem ein begeisterter Verehrer Pestalozzis, der Pädagoge Christian Heinrich Zeller (1779—1860).


Das Beuggener Seminar, zu dem ein Kinderheim gehörte, war, gleich der Taubstummen- und der Diakonissenanstalt Riehen, sowie der Pilgermission St. Chrischona, eine Gründung des Basler Pietismus. Initiant dieser verschiedenen Unternehmungen war der geniale Christian Friedrich Spittler (1782—1867). Der Pietismus löste sich von starrer Dogmatik und betonte die Bedeutung von Wiedergeburt, Bruderliebe und lebendigem Glauben. Seit jeher galt sein Interesse auch der Jugend. So kam es in Basel schon 1768 zur Bildung einer Jugendgruppe; sie wurde nach einem kurzen Unterbruch ihrer Tätigkeit definitiv als «Evangelischer Jünglingsverein» neu gegründet: von diesem neuen Jünglingsverein aus dem Jahre 1825 stammen direkt und indirekt alle CVJM Basels und seiner Umgebung ab.


In Riehen lassen sich pietistische Gruppen, wenn auch ohne Statuten und Protokolle, seit 1716 fast ununterbrochen nachweisen. Beziehungen zu Gruppen in der Stadt waren von allem Anfang an gegeben. In dieser geistigen Umgebung ist die Gründung vom 3. Dezember 1875 erfolgt. Bis 1893 besass der junge Verein noch keine Statuten, aber regelmässig traf sich jeden Mittwoch rund ein Dutzend Männer zu Bibelbetrachtung und Gebet. Neben Lehrer Baumann zählten zu den Gründungsmitgliedern der Landmann Johannes Fischer (1824—1905), der Schreinermeister Christoph Stolz (1848—1922) und der Bäckermeister Nikiaus Löliger (1814—1899).


Obwohl die Vereinsgründung von 1875 allerorten angefeindet, belächelt und mit übernamen bedacht wurde, vermochte sie sich durchzusetzen. Mit Gleichgesinnten in der Stadt und in der Badischen Nachbarschaft nahm man Verbindung auf. Kaum war der Verein zehn Jahre alt, trat er dem Deutschschweizerischen Bund der Jünglingsvereine (heute: der CVJM) und 1899 dem Basler Stadtverband der CVJM bei. Schon vorher (1893) war aus dem «Männerverein» ein «Männer- und Jünglingsverein Riehen» geworden. Seit damals ist die Jugendarbeit erklärte Hauptaufgabe des Vereins geblieben. Die Jünglingsvereine erfreuten sich in jenen Jahren grosser Beliebtheit. Allein in Basel-Stadt zählten sie vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1 300 Mitglieder.


Dieser — in kleinerem Masse auch für Riehen zutreffende — Aufschwung hatte vor allem zwei Gründe : einerseits wurde bewusst darauf verzichtet, in den Vereinen ausschliesslich bekehrte Jünglinge zu sammeln, man sah in den Vereinen, modern ausgedrückt, ein offenes Informations- und Diskussionsforum. Das Ziel dieser Arbeit war und ist, junge Menschen für die Nachfolge Jesu Christi zu gewinnen. Andererseits konnte sich in Basel und Riehen eine ganz bestimmte Form der Jugendarbeit durchsetzen, nämlich diejenige des CVJM. Im Jahre 1844 hatte in London der Kaufmann George Williams (1821—1905) erstmals junge Leute in einem CVJM zusammengefasst. Für die Offenheit, in der diese Arbeit getan wurde, zeugt folgender Ausspruch von Williams: «Die beste Weise, mit einem jungen Mann in Kontakt zu kommen ist: streite dich nicht mit ihm — lade ihn zum Abendessen ein.» Das Gemeinschaftserlebnis steht im CVJM im Vordergrund: Sport und Musik, Beruf und

Reisen, internationaler Gedanken- und Besuchsaustausch, soziale Arbeit und öffentliches Engagement wurden betont: nicht die Abkapselung von dieser Welt, sondern ihre Durchdringung im Namen des Mannes von Nazareth war und blieb erklärtes Programm. Diese Möglichkeit christlicher Existenz stiess in einer Zeit, die Glaube gerne mit der Ablehnung aller sogenannter Freuden dieser Welt identifizierte, auf offene Ohren und Herzen.


Seit einer Vereinsreorganisation des Jahres 1904 nennt sich der aus der Gründung von 1875 hervorgegangene Verein offiziell «Christlicher Verein Junger Männer Riehen». Damals ging auch das Präsidium von Jakob Baumann auf den Landmann Jakob Schmid (1870—1946), einen Mann, der durch seine Frömmigkeit und Nächstenliebe vielen eine grosse Hilfe war, über. Die erwähnte Reorganisation begünstigte die Aktivitäten des Vereins in starkem Masse.


Zuerst einmal wurde das Problem des Raumangebotes gelöst. Bis zum Tode Jakob Baumanns hatten die Vereinsstunden in der Lehrerwohnung stattgefunden. Von 1905 bis 1914 kam man in der Kaffeehalle an der Rössligasse 60 zusammen. Da aber der Verein wuchs, war auch dort keine Bleibe. In enger Zusammenarbeit mit andern frommen Vereinen Riehens entstand 1913/14 das Vereinshaus am Erlensträsschen 47 und als Trägerinstitution der «Verein für Evangelisation und Gemeinschaftspflege». Dass der Bau erfolgreich beendet werden konnte, war vor allem dem Evangelisten Jakob Vetter (1872—1918), einem Schwiegersohn Jakob Baumanns, zu verdanken. Rund fünfzig Jahre lang blieb das Vereinshaus der zentrale Ort der CVJM-Arbeit in Riehen. Zu seiner Errichtung hatten die Mitglieder des CVJM nicht nur Geld zusammengetragen, sondern auch viele Stunden freiwilliger Arbeit geleistet.


Hand in Hand mit der Vergrösserung des Raumangebotes ging die Ausweitung der Jugendarbeit. Schon 1905 wurden die ersten später «Jungschar» genannten Bubengruppen gebildet. Der definitive Start dieser Arbeit gelang aber erst 1915; ohne die treue und aufopferungsvolle Arbeit des von den Buben verehrten Ernst Fischer (1891—1943) wäre er nicht erfolgreich gewesen. Ins Jahr 1913 fällt die Gründung des Posaunenchores des CVJM. Hier hatte vor allem Hans Fischer (1889 bis 1967) Gevatter gestanden. Ebenfalls aus der Vorkriegszeit (1914) werden die ersten Turnversuche im CVJM unter der Leitung des Oberturners Paul Bürglin (1900—1975) berichtet. Doch erst der unermüdliche Einsatz von Ernst Strohbach (* 1901) liess 1919 eine Neugründung erfolgreich werden.


Der Erste Weltkrieg benachteiligte die CVJM-Arbeit schwer. Die Mitgliederzahlen gingen zurück. Doch wurden in dieser Zeit die Augen für die sozialen Nöte geöffnet. Damals nahm gesamtschweizerisch gesehen die Militärarbeit des CVJM ihren Anfang. Und auch im Riehener Verein wurde für die durch den Aktivdienst materiell Benachteiligten viel getan. Trotzdem hinterliess dieser Krieg viel Bitterkeit und manche bange Frage.


Auch der CVJM musste sich damit auseinandersetzen. Die Gedanken der deutschen Jugendbewegung erreichten damals die Schweiz. Gefordert wurde — einmal mehr — die Rückkehr zur Natur und die Sicht der Eigenständigkeit, ja der Selbständigkeit der Jugend. Die Vertreter des Riehener CVJM lernten dieses Gedankengut an den Tagungen des deutschschweizerischen CVJM in Regensberg ZH kennen. Was sie von dort mitbrachten, war vor allem eine neue Sicht ihres missionarischen und sozialen Einsatzes. Sie lebt unter dem Motto: «Gott unser Leben — Christus unser Streben — dem Bruder unser Dienst». Lange Zeit blieben die Einflüsse aus Deutschland wichtig, bis dann, im Zuge des dort aufkommenden Nationalsozialismus, Albert Schudel (* 1910), Willy Mory (* 1901) und andere CVJM-Mitarbeiter dafür sorgten, dass an Stelle des Blickes nach Norden die klare Eigenverantwortung trat.


Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg begann sich das Vereinsleben mehr und mehr vom eigentlichen Verein in die Abteilungen zu verlagern. Es wurde versucht, dieser Entwicklung zu steuern. Der Schlossermeister Jakob Mory (1892-1972), als Nachfolger Jakob Schmids seit 1924 Präsident des CVJM, betonte den Gedanken der Einheit. Die Vereinsarbeit erlebte 1932 eine zentralistische Reform, der Vereinspräsident, unterstützt durch die Sektionsvorstände Ernst Strohbach (Sport) und Fritz Jungck (* 1902), von 1932 bis 1953 Präsident des Posaunenchors, hielt die Zügel fest in der Hand. Nur dank dieser Konzentration der Kräfte war es möglich, das in jenen Jahren gereifte Projekt eines eigenen Hauses zu verwirklichen: 1934 enstand das CVJM-Haus zum Kornfeld. Die evangelisch-reformierte Kirchgemeinde war damit vorläufig der Sorge enthoben, ein eigenes Gebäude errrichten zu müssen. Die mutige Pionierleistung des CVJM nötigt auch deswegen noch heute ehrliche Bewunderung ab, weil hier das «Dorf» zum ersten Mal seine Verantwortung für Neu-Riehen wahrnahm.


Ebenfalls in die Dreissiger Jahre fällt die Bildung von Gruppen für die konfirmierte Jugend («Jungtrupp» 1934), auch Vereinszeitschriften wurden regelmässig herausgebracht. Höhepunkt der letzten Vorkriegsjahre war der Schweizerische CVJM-Turntag des Jahres 1937: unter den Leitern Eduard Hilpert (* 1913) und Otto Schäublin (* 1913) entfaltete sich die Turnsektion zu beachtlicher Grösse. Anlässlich ihres 25. Geburtstages im Jahre 1944 zählte sie über hundert Mitglieder. Von den vielen Verantwortungsträgern jener Jahre soll hier noch Emil Löliger (* 1911) genannt werden: er diente dem CVJM mit Einfallsreichtum und Fleiss in den verschiedensten ämtern.


Wie schon der Erste so unterbrach auch der Zweite Weltkrieg das erfreuliche Wachstum des Vereins empfindlich: fast das ganze Kader leistete Militärdienst, was zwangsläufig zu einem Rückgang der Aktivitäten des CVJM führte. Die Vereinspräsidenten der damaligen Zeit, Albert Schudel (* 1910), im Amte von 1937 bis 1942, und Hermann Ingold (* 1912), im Amte bis 1948, leisteten ihr Möglichstes. Es kam, der Unbill der Zeit zum Trotz, zu Neuanfängen. Die ersten Schritte in der Richtung zu einer teilweise gemischten Jugendarbeit wurden getan. Als mit den Gemeindepfarrern Gottlob Wieser und Werner Pfendsack in der Kirchgemeinde neues Leben erwachte, wurde der CVJM, ohne deswegen traditionelle Positionen zu verraten, mehr und mehr zur kirchlichen Jugendarbeit. Allerdings büsste der CVJM damals sein lange innegehabtes «Monopol» in der Riehener Jugendarbeit ein: es entstanden mehr und mehr auch andere Gruppen. Obwohl man im CVJM diese Zersplitterung nicht gerne sah, so hat der CVJM doch von Anfang an in den gemeinsamen Bestrebungen der Riehener Jugend mitgearbeitet. Auf sich selbst genügende Gruppen legte man jedoch keinen Wert, und der weltoffene Zug der CVJM-Arbeit blieb vorherrschend. Typisch dafür war, dass der von 1948 bis 1952 amtende Vereinspräsident Alfred Stump (* 1922) sogar einen anglikanischen Bischof in den CVJM Riehen einlud.


Vorträge, Diskussionen, Theaterspielen, Leichtathletik, Mannschaftsspiele, Musikpflege in vielen Formen, Lagerleben mit Wasser- und Wintersport bestimmten und bestimmen das Bild des CVJM. Aus diesem vielfältigen gemeinsamen Erleben wuchsen Kameradschaft und Gemeinschaft. Als Stifter dieser Gemeinschaft wird im Glauben Jesus Christus angenommen. Was das konkret bedeutet, ist immer wieder neu zu sagen. Hier stellt sich für den CVJM ein zugegeben schweres Problem. Und es hat immer wieder Kreise gegeben, die sich diesem Problem entzogen haben. Aber weil die Arbeit des CVJM in der Welt und nicht in irgendeinem Getto geschieht, muss sie sich durch diese Welt auch immer wieder in Frage stellen lassen. Die Kraft dazu schöpft der CVJM aus einer glaubensmässigen Verheissung, welche als Präambel schon die

Statuten von 1912 einleitete und die wir im folgenden neu übersetzt wiedergeben: «Jesus Christus und sonst keiner kann die Rettung bringen. Nirgends auf der ganzen Welt hat Gott einen anderen Namen bekanntgemacht, durch den wir gerettet werden können» (Apg. 4,12).


Nachdem der 75. Geburtstag des Vereins im Jahre 1950 — wie schon der 50. anno 1925 — festlich begangen worden war, folgten auch im letzten Vierteljahrhundert der Vereinsgeschichte einige bemerkenswerte Ereignisse. Als Präsidenten wirkten bis 1954 Kurt Dressler (* 1929), bis 1965 Nikiaus Wenk (* 1927), bis 1972 Werner Mory (* 1937) und seither Pfarrer Peter Meier (* 1939). Im erwähnten Zeitraum gewannen die Abteilungen mehr und mehr auf Kosten des Gesamtvereins an Bedeutung. Die Jungschar erlebte in den Sechziger Jahren mit über hundert Buben einen äusseren Höhepunkt. Seit kurzer Zeit gibt es in dieser Abteilung auch Mädchen. Die Arbeit unter den über 16jährigen gestaltete sich zwar schwierig, aber doch mit sichtbaren Resultaten. So hat besonders die Initiative einer Jugendgruppe zur Renovation des Kornfeldhauses im Jahre 1971 geführt. Ohne die treue Hilfe des seit dem Hausbau wirkenden «Frauenarbeitskränzchen Kornfeld» wären die verschiedenen Umbauten dieses CVJM-Zentrums allerdings nicht möglich gewesen.


Am häufigsten an die öffentlichkeit tritt der CVJM-Posaunenchor. Die Turnsektion, durch eine Statutenrevision 1965 in «Sportabteilung» umbenannt, führt immer wieder Wettkämpfe durch, so 1958 den Schweizerischen CVJM-Turntag. Der Basketballmannschaft des CVJM gelang 1971 der Aufstieg in die Nationalliga B. Der Gesamtverein lud 1967 zu einer Schweizerischen Bundestagung der CVJM ein: über tausend Personen nahmen am Festakt teil. Das Wesentliche im CVJM tritt jedoch nicht an derartigen spektakulären Veranstaltungen in Erscheinung. Der CVJM lebt in Freundschaften, in kleinen Gruppen und Kreisen und vor allem im Vermächtnis, das er den von ihm Geprägten für das Leben mitgegeben hat. Und hier nun stossen wir auf das, was den CVJM hat bedeutend werden lassen: der CVJM ist, ohne jemals die erklärte Absicht dazu besessen zu haben, zu einer «Kaderschmiede» ganz besonderer Prägung geworden. Missionare, Prediger, Synodale, Kirchenvorstände und Pfarrer in grosser Zahl sind aus dem CVJM hervorgegangen. Aber auch Leute der Wirtschaft, der Wissenschaft, selbst Militärs und — last but not least — Politiker verdanken ihre Prägung zumindest teilweise dem CVJM. Wenn diese Jugendorganisation gelegentlich vom Mangel aller Jugendorganisationen betroffen wird, nämlich von einem starken Schwanken der Arbeitsqualität, so darf nicht übersehen werden, dass man dem CVJM mit einer Momentaufnahme nicht gerecht wird. Der als Mittel der Mission gedachte CVJM hat seine Aufgabe darin erfüllt, dass er mitgeholfen hat, Menschen für diese Mission in Gemeinde, Kirche und Welt zu befähigen. Der 100. Geburtstag des CVJM ist für ihn Gelegenheit, dankend zu bekennen: «Ich gedenke der vorigen Zeiten, ich rede heute von allen deinen Taten und sage von den Werken deiner Hände» (Ps. 143, 5).


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1975

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