150 Jahre Singen und Jubeln

Lukrezia Seiler-Spiess

Der «Gemischte Chor Liederkranz», der in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag feiert, ist der älteste Riehener Dorfverein. Das Vereinsarchiv erlaubt interessante Einblicke in längst vergangene Zeiten.

Spannende Gründungsgeschichte

Eigentlich könnte der «Liederkranz» in diesem Jahr sogar den 165. Geburtstag feiern, denn seine Anfänge gehen bis ins Jahr 1841 zurück. Damals war Johann Jakob Schäublin, der spätere Sängervater und Verfasser des berühmten Singbuches «Lieder für Jung und Alt», Lehrer an der Schule seines Heimatdorfes Riehen. Obwohl selber erst 19 Jahre alt, betreute er nicht weniger als 90 Schülerinnen und Schüler. Er kannte die rauen Sitten, die damals in den Dörfern herrschten - in Riehen waren es die Oberdörfler und die Unterdörfler, die sich in wilden Schlägereien bekämpften, in deren Verlauf wenige Jahre zuvor ein junger Riehener umgebracht worden war. Aber Schäublin glaubte an die Kraft der Musik, und so sammelte er 1841 ein paar sangesfreudige junge Männer um sich, um einen Männerchor zu gründen. Das Interesse war gross - 24 Mitglieder nahmen an der ersten Probe teil - das Können der Sänger jedoch sehr gering, da der Gesangunterricht in Riehen damals praktisch nicht existierte. Schäublin schulte und unterrichtete den Chor mit viel Geduld und stellte für ihn eine Sammlung von 18 einfachen, vierstimmigen Liedern zusammen, darunter auch eine eigene Komposition. Der «Liederkranz» besitzt noch immer zwei handgeschriebene Notenbüchlein für 2. Bass, die aus jener Zeit stammen dürften.

Als J. J. Schäublin 1846 an die Realschule Basel berufen wurde und Riehen verliess, löste sich sein Gesangverein nicht auf, sondern wurde von verschiedenen Lehrern mehr oder weniger intensiv weitergeführt. Das anfänglich etwas belächelte Tun der jungen Männer wurde von der Riehener Bevölkerung bald mit Wohlwollen aufgenommen, da der Chor seine schönen, vierstimmigen Lieder auch ausserhalb des Vereinslokals erklingen liess. Gute Musik zu hören war ja damals auf dem Dorfe ein seltener Genuss. Dass sich auch Sitte und Anstand der jungen Leute deutlich verbesserte, wurde schon bald dem guten Einfluss der Musik zugeschrieben.

1856 ergriffen zehn junge Männer die Initiative, diesen Chor auf eine geregelte Vereinsbasis zu stellen. Die Gründer gehörten führenden Riehener Familien an oder waren junge, selbständige Handwerker; viele von ihnen wirkten später als Mitglieder des Gemeinderates und des Grossen Rates, zwei davon sogar als Gemeindepräsidenten.

Nun ging alles sehr schnell. Im Januar 1856 wurden die Vereinsstatuten beraten, im Mai das Geld für eine Fahne zusammengesteuert, und schon Mitte Juni fand die Fahnenweihe und die Taufe des neuen Vereins statt, und zwar auf den von J. J. Schäublin vorgeschlagenen Namen «Liederkranz Riehen». Den Anlass zu dieser Eile gab die Einladung, am basellandschaftlichen Kantonalgesangfest in Muttenz Ende Juni 1856 mitzuwirken. Und so zog denn der frischgebackene Verein zum ersten Mal mit wehender Fahne an ein Gesangfest. Die erste Vereinsfahne mit prächtig gesticktem Eichenlaub und schwungvoller Lyra existiert heute noch (Bild S. 82); sie wurde vor kurzem vom Historischen Museum Basel sorgfältig restauriert. Und wir wissen sogar, wer die schönen Stickereien in so kurzer Zeit fertigbrachte: Es waren Rosine und Marie Völlmy, die Töchter des damaligen Rössliwirts, zusammen mit einer Basler Freundin.

Bald setzte ein reges Vereinsleben ein. Mit Eifer nahm der «Liederkranz» an den seit dem 1. Eidgenössischen Sängerfest in Aarau so beliebten Bezirks-, Kantonal- und Regionalgesangfesten teil, nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den benachbarten badischen Gemeinden.

Ein besonderer Erfolg war ihm 1864 am Gesangfest in Steinen beschieden, als er zusammen mit den Chören von Bettingen und Kleinhüningen unter der Leitung von J. J. Schäublin das Lied «Wir wollen frei sein, ein einig Volk von Brüdern» sang: «Unter den Einzelvorträgen machte das von unseren Vereinen mit ihrer stattlichen Sängerzahl und dem gewaltigen Stimmaterial vorgetragene Lied einen mächtigen und überwältigenden Eindruck», schrieb Heinrich Weissenberger, der erste Chronist des Vereins." Bei anderen Gesangfesten fiel das Urteil freilich manchmal ganz anders aus. «Lässt sich hören», hiess es einmal, was die sofortige Demission des Dirigenten zur Folge hatte. Bald trat der «Liederkranz» auch mit Konzerten in der Dorfkirche an die öffentlichkeit; der Erlös fiel meist wohltätigen Zwecken zu, zum Beispiel den Brandgeschädigten von Glarus im Jahr 1861 oder den Wassergeschädigten im St. Galler Rheintal. Dass daneben auch die geselligen Seiten des Vereinslebens mit Ausflügen, Reisen, Breakfahrten und Ständeli nicht zu kurz kamen, versteht sich von selbst.

Doch wie in allen Chören schwankte auch beim «Liederkranz» die Mitgliederzahl, und als 1873 wieder einmal besonderer Mangel an Tenören herrschte, schlug der damalige Dirigent Ernst König vor, den «Liederkranz» in einen gemischten Chor umzuwandeln. «Die Idee hatte viel Verlockendes - aber sie war geradezu revolutionär!», beschreibt Ernst Würgler, der zweite Chronist des Chors, die Diskussion, die nun im Verein einsetzte. «Damals war die Ansicht gang und gäbe: die Frau gehöre ins Haus und nirgendwohin sonst! Vereinsbildung und Vereinstätigkeit wurden noch als ausschliessliches Recht des freien Mannes angesehen. Nun sollten sich Frauen und Mädchen - wenn auch nur zur Pflege des Gesanges abends in einem Gasthofzimmer zusammenfinden, einen Verein bilden und sogar in Gesellschaft von Männern auch anderswo als in der Kirche und auf dem Tanzboden öffentlich auftreten dürfen? Man schüttelte ungläubig den Kopf, man lächelte über diesen Antrag, discoutierte ihn eifrig und - erhob ihn schliesslich doch zum Beschluss!»21

Die Idee zündete, 15 junge Frauen traten noch im gleichen Jahr in den Chor ein. Als bald darauf auch der Jünglingsverein «Eintracht» mit 14 Mitgliedern und sechs Jahre später der Männerchor «Helvetia» dem Verein beitraten, war der «Gemischte Chor Liederkranz», wie er nun hiess, zu einem stattlichen, in der öffentlichkeit geachteten Chor herangewachsen. Dass in dieser Zeit als Dirigent Pfarrer Benjamin Buser wirkte, der die Sänger auch musikalisch weit brachte, trug zu seinem Ansehen noch bei.

Von Dorfkönigen und grossen Festen

Im 19. Jahrhundert spielten die Vereine im Dorfleben eine wichtige Rolle. Sie waren Träger des nach der Gründung des Bundesstaates aufbrechenden Bürgersinns und trugen viel dazu bei, dass innerdörfliche Spannungen abgebaut werden konnten. Die Vereinspräsidenten, so stellte Michael Raith in seiner Gemeindekunde fest, seien die wichtigsten Persönlichkeiten im Dorf gewesen,31 ja sie waren oft eigentliche Dorfkönige, die auch in der Politik das Sagen hatten.

So war denn auch der erstarkte und geachtete «Liederkranz» bereit, sein 25-Jahr-Jubiläum zu einem grossen Ereignis zu gestalten. Der Vorstand unter der Leitung seines Präsidenten Heinrich Weissenberger beschloss, in Riehen am 26. Juni 1881 einen Sängertag durchzuführen. Eine mächtige Festhalle wurde aufgebaut und alle Gesangvereine der näheren und weiteren Umgebung zur Teilnahme eingeladen.

Es ist ein Glücksfall, dass alle Unterlagen zu diesem Fest im Archiv des «Liederkranzes» die Zeit überdauert haben, und zwar fein säuberlich in Packpapier eingewickelt und mit einer dicken Schnur umwunden. Da findet sich die Anfrage der «Direction der Wiesenthal-Eisenbahn an das Organisations-Comité des Gesangfestes», wie viele Extrazüge bereitzustellen seien. Da liegt die Rechnung des Gasthofs «Zur Goldenen Blume» über 700 in die Festhalle gelieferte Mittagessen à Fr. 1.90 neben einer Rechnung der Firma Ph. Silbernagel, «Fabrication de Chapeaux de Paille et Feutre» liber die Lieferung von 13 Lorbeer- und Eichenkränzen. Besonders interessant ist eine Rechnung der Firma C. WeberUnholz über «100 Stück Illuminationsgefässe und 100 füllen derselben»; einige der kleinen irdenen Gefässe, mit denen wohl das Festzelt illuminiert wurde, existieren heute noch.

Es muss ein eindrückliches Fest gewesen sein. Neben dem «Liederkranz» wirkten 18 Gastchöre bei den Wett- und Einzelgesängen mit, fast die Hälfte davon aus der badischen Nachbarschaft - der Regiogedanke war damals gelebter Alltag.

Wie wichtig die Stellung des «Liederkranzes» im Dorf geworden war, zeigte sich auch bei der Organisation der ersten Bundesfeier. Der junge Bundesstaat hatte 1891 beschlossen, einen Nationalfeiertag einzuführen und diesen auf den 1. August zu legen. In Riehen ergriff der «Liederkranz» die Initiative, an diesem Tag nicht nur eine kirchliche Feier, sondern ein eigentliches Volksfest zu veranstalten. Es gelang ihm, den Gemeinderat für seine Idee zu gewinnen und die verschiedenen Riehener Dorfvereine und auch die Lehrerschaft in die Organisation einzubinden. Und so stieg denn am Sonntag, dem 2. August 1891, ein prächtiges Fest. Am Vorabend loderten oberhalb des Wenkenhofs und auf dem Hungerbach mächtige Feuer - das Festprogramm spricht sogar von einem «Feuerwerk im Schlipf». Am Sonntag, nach dem «Vaterländischen Gottesdienst», bewegte sich am Nachmittag ein Umzug zum Festplatz am Erlensträsschen, wo ein buntes Programm über die Bühne ging mit Chorgesängen, Vorträgen des Musikvereins, Turnreigen der Schüler, Darbietungen und Pyramiden des Turnvereins und einer vaterländischen Rede. Nach dem offiziellen Programm entwickelte sich ein fröhliches Festleben mit Gesang, Musik und Tanz. Die «National-Zeitung» berichtete am 4. August ganz begeistert: «Das war ein Fest; davon wird man noch reden in den spätesten Zeiten. [...] Das Fest hatte für unser Dorf in der äussersten Ecke der Schweiz noch eine besondere Bedeutung. Die umliegenden deutschen Ortschaften waren bei uns auf Besuch und feierten von ganzem Herzen mit.»4)

Etwa zur gleichen Zeit begann der «Liederkranz», öffentliche Vorträge zu veranstalten. Er fühlte sich, wie ein Jahrzehnt später der Verkehrsverein, bis zu einem gewissen Grade verpflichtet, nicht nur das gesellschaftliche und kulturelle, sonder auch das geistige Leben des Dorfes zu fördern. Verschiedene Persönlichkeiten der Gemeinde - Sekundarlehrer, der Chefarzt des Diakonissenhauses und der Dorfpfarrer - sprachen über damals aktuelle Themen: über die Völker Afrikas oder die deutschen Kolonien in Brasilien, über den menschlichen Blutkreislauf, oder, in einem Experimentalvortrag, über Elektrizität und vieles mehr.

Im Rahmen dieser Veranstaltungen hielt Vereinspräsident Heinrich Weissenberger einen Vortrag «über die Entwicklung des Gesangwesens in Riehen und Geschichte des Liederkranzes Riehen, ein unschätzbares Dokument über die ersten Jahre des Vereins, welches zum Glück vom Referenten selber ins Protokollbuch eingetragen wurde und so der Nachwelt erhalten geblieben ist.5 Die soziale Stellung der Vereine und ihre Bedeutung im Dorf konnten aber auch zu ernsthaften Spannungen führen. So geschah es, als 1895 ein Teil der Chorsänger sich vom «Liederkranz» abspaltete und sich als neuer Männerchor unter dem Namen «Sängerbund» etablierte, der rasch zu einem kräftigen Verein heranwuchs. Die Konkurrenz zwischen den beiden Gesangvereinen um den Vorrang und das Ansehen im Dorf führte zu vielen Querelen, die erst viele Jahre später in ein freundschaftliches Miteinander übergingen.6

Musik, Musik

In all den Jahren seines Bestehens hat der «Liederkranz» seinen Hauptzweck, das Singen, nie aus den Augen gelassen. In den wöchentlichen Singstunden wurden Sängerinnen und Sänger kontinuierlich weitergebildet. Waren die Leistungen bei schwankenden Mitgliederzahlen oder allzu häufigem Dirigentenwechsel gelegentlich auch ungenügend, so erstarkte der Verein doch immer wieder und trat oft mit weit herum beachteten Leistungen an die öffentlichkeit. Ein grosser Erfolg war zum Beispiel das Konzert vom Juni 1895 in der Dorfkirche, das zu Gunsten des Basler Sanatoriums in Davos durchgeführt wurde. Der Dirigent Johannes Rohner studierte mit dem Chor verschiedene Werke von Mendelssohn ein, zwei Instrumentalisten aus Basel bereicherten das Programm und «die Herren Gebr. Hug in Basel stellten dem Verein einen prächtigen Konzertflügel von Steinway unentgeldlich zur Verfügung». Die «National-Zeitung» war vom Gebotenen beeindruckt: «Die vom <Liederkranz> vorgetragenen Lieder mussten das kälteste Herz wieder aufwecken zu neuer Lust und Lebensfreude. [...] Man war geradezu erstaunt, von einem Landvereine solche vortrefflichen Gesangsleitungen zu vernehmen. Wir haben den Eindruck bekommen, dass es in Riehen gesanglich-musikalische Kräfte giebt, die sich wohl einmal bei uns in der Stadt dürften hören lassen.» Nicht ganz zufrieden mit dem Anlass war der Chronist des Vereins, der ins Protokollbuch schrieb: «Wohl hätten die weiten Räume unserer Kirche noch mehr Gesangs- und Musikfreunde aufgenommen, doch war auch trotz der günstigen Witterung, die unsere Mitbürger vielfach zur Heuernte glaubten benützen zu müssen, der Besuch des Conzerts ein ziemlich günstiger zu nennen.»7

Die erste Hälfte des 20. Jahrhundert, geprägt von zwei Weltkriegen und der dazwischenliegenden Krisenzeit, war für den Verein eine ruhigere Zeit. Während der Kriegsjahre schrumpfte die Zahl der Sänger, da viele Männer im Aktivdienst weilten. Grosse Feste fanden nun keine mehr statt, mit einer Ausnahme: Das Fest zur Feier der 400-jährigen Vereinigung von Riehen mit Basel wurde 1923 zehn Tage lang gefeiert. Der «Liederkranz» wirkte im grossen Festspiel «Wettstein und Riehen» von Albert Oeri und Hermann Suter mit und zog, angetan mit den Festspiel-Kostümen, im grossen Festumzug durchs Dorf. Doch auch in dieser dunkleren Zeit wurde die Musik gepflegt. Unter der Leitung von Wilhelm Vaupel, der den Chor 25 Jahre lang dirigierte, fanden immer wieder Kirchen- und Wohltätigkeitskonzerte statt. 1926 nahm der «Liederkranz» nach vielen Jahren erstmals wieder an einem Gesangfest, und zwar in Schaffhausen, teil, von dem er mit einem Lorbeerkranz nach Hause kam. Viele Gesangfeste folgten, der politischen Lage entsprechend nicht mehr in der Regio, sondern in verschiedenen Schweizer Kantonen, und meist erntete der «Liederkranz» gute Noten für seine Leistungen.

Vor allem aber wurde nun das gesellige Leben des Vereins gepflegt mit gemütlichen Abenden, Frühlingsausflügen, Sommerreisen, Herbstbummeln und winterlichen Familienabenden. Und etwas Neues kam dazu: Erstmals 1935 wirkte der «Liederkranz» bei einem volkstümlichen Konzert am Radio mit. «Es ist dies das einträglichste Unternehmen, und es ist nur zu erhoffen, dass wir bald wieder im Radio antreten dürfen», schrieb der Chronist ins Protokollbuch. Sein Wunsch sollte in Erfüllung gehen, denn in den folgenden 15 Jahren trat der Chor immer wieder bei Radio Beromünster auf.

Neuer Aufschwung Als der Zweite Weltkrieg endlich vorbei war, atmete man auf, und neuer Schwung kam ins Dorf. Nun wurden wieder Feste gefeiert. Den Anfang machte der Musikverein 1946 mit dem grossen Winzerfest, das in den folgenden sechs Jahren wiederholt wurde. Und jedes Mal war der «Liederkranz» beim Umzug dabei mit kostümierten Gruppen von Winzern und Landleuten und mit Liedvorträgen beim Festprogramm.

Ganz gross feierte der «Liederkranz» sein 100-Jahr-Jubiläum im Juni 1956. «Es war unglaublich!», erzählt Marianne Stücklin, die schon mehr als 50 Jahre im Chor mitsingt. «Das ganze Dorf hat mitgemacht, alle Vereine, alle Freunde und Bekannten. Wochenlang haben wir Frauen und Mädchen Rosen aus Seidenpapier gebastelt und Girlanden aus Tannenreis gebunden. Diese wurden im ganzen Dorf aufgehängt, quer über alle Strassen. Das Fest dauerte drei Tage lang. Auf dem Platz hinter der alten Taubstummenanstalt wurde ein grosses Zelt aufgebaut, es gab eine Rössliiytti und andere Bahnen, und das ganze Dorf hat miteinander gefeiert - es war grossartig!» Alle Riehener DorfVereine machten mit und beinahe 20 Chöre aus Basel, dem Baselland und erstmals auch wieder aus den badischen Nachbargemeinden.

Wieder hatte der Chor das Glück, während vieler Jahre unter der gleichen Stabführung singen zu können. Unter den Dirigenten Rupert Bausenhart und Conrad Bertogg wagte er sich an grosse Werke klassischer Komponisten, an Kantaten und Motetten, an Lieder der Romantik und an Opernchöre, oft zusammen mit dem Kirchenchor St. Franziskus. «Es war eine schöne Zeit», erinnert sich Marianne Stücklin, «aber leider liegen die Ausgaben für grosse Orchester und Solisten heute nicht mehr im finanziellen Bereich des Vereins.» So kamen denn in den letzten Jahren neue Lieder ins Programm - Melodien aus Operetten und Musicals, Schlager aus den 20er-Jahren, französische Chansons und Evergreens, welche auch die jüngeren Sängerinnen und Sänger ansprechen. Oft stellte sich der Chor in den Dienst der öffentlichkeit, sang bei Bundesfeiern, bei Advents- und Bettagsgottesdiensten in der Dorfkirche und später auch beim Weihnachtssingen der Basler Chöre in der Pauluskirche.

Bald nach dem Krieg brach auch das Reisefieber aus. Hatten früher die Vereinsreisen vielleicht ins Berner Oberland oder ins Appenzellerland geführt, so siegte nun das Fernweh: Vier-, fünftägige Reisen nach Wien, Venedig, London, Paris und an die Riviera standen auf dem Programm. Und überall wurde gesungen, auf Plätzen und Strassen. «Nie werde ich vergessen», sagt Robi Thommen, das älteste Chormitglied, «wie wir in Paris in der Kathedrale Notre Dame standen und spontan das Ave Verum von Mozart sangen. Es war ein packender Moment.»

Das gesellschaftliche Leben hatte für den Chor nach wie vor grosse Bedeutung - die Familienabende mit Konzert, Theater aus eigenem Boden, Tombola und Tanz waren alljährliche Höhepunkte. Später kamen dann die Beizlein bei Dorffesten dazu, die Flohmärkte und - gewissermassen in Fortsetzung der Bildungsvorträge aus dem 19. Jahrhundert - die Ferienanlässe mit Stadtspaziergängen, Museumsführungen und Besichtigungen. Das Wichtigste neben dem Singen war den Chormitgliedern stets die gute Kameradschaft, das Zusammengehörigkeitsgefühl oder, wie Robi Thommen es ausdrückt: «Der Chor bedeutet mir Heimat!»

Das Singen und Jubeln geht weiter Längst haben die Vereine ihre Vormachtstellung im Dorf verloren. Und heute kann jedermann zu jeder Zeit so viel Musik hören, wie er will. Aber der «Liederkranz» singt weiter, «weil mich Singen befreit, entspannt und fröhlich macht», «weil ich jedes Mal gut gelaunt nach Hause gehe», und «weil ich allein nicht vierstimmig singen kann». Dies sind ein paar Aussagen von Chormitgliedern auf die Frage, warum sie im «Liederkranz» mitmachen. Die allwöchentliche Singstunde, das Erarbeiten und Ausfeilen eines neuen Programms, aber auch die gute Kameradschaft bedeuten den Sängerinnen und Sängern viel. Für Florian Engelhart, der den Chor seit einem Jahr leitet, hat das Singen etwas Befreiendes und Beglückendes, das die Menschen verbindet. «Ich habe gleich gespürt, dass bei diesem Chor etwas zurückkommt, dass meine Gestaltungsideen aufgenommen werden, und das macht Freude», sagt er. «Schön wäre es, wenn noch einige neue Mitglieder, besonders jüngere Leute, den Weg zu uns finden würden.»

In bewährter Tradition, ausgiebig und originell, feierte der «Liederkranz» sein 150-Jahr-Jubiläum: Mit der Teilnahme am Kantonalgesangfest beider Basel in Oberdorf, von dem er die Benotung «vorzüglich» nach Hause brachte, mit einem Liederkonzert im November und vor allem mit einer interessanten, von Chormitglied Helene Wartmann gestalteten Ausstellung im Dorf- und Rebbaumuseum, welche unter dem Titel «Singen und Jubeln» all die Schätze ausbreitete, welche in der Tiefe des Vereinsarchivs geschlummert hatten. An der Vernissage vom 30. August 2006 sang der Chor das von Chorpoet Robi Thommen getextete Lied «Rieche» mit der Schlussstrophe: Hundertfuffzig Johr duets klinge frisch und froh im Liederkranz.

Dass diesen 150 Jahren noch viele weitere folgen werden, das sieht man an der Begeisterung der Sängerinnen und Sänger - und das erhofft man sich für Riehen.

Quellen

Protokollbücher 1864-1896, 1896-1923, 1923-1957, Jahresberichte, Notenmaterial, Programme und Akten im Vereinsarchiv des Gemischten Chors Liederkranz Riehen Heinrich Weissenberger, Vortrag über die Entwicklung des Gesangwesens in Riehen und Geschichte des «Liederkranzes Riehen», in: Protokollbuch des Liederkranzes 1864-1896, S. 137-158, Vereinsarchiv Ernst J. M. Würgler: Geschichte des «Liederkranz» Riehen 1856-1931, unveröffentlichtes typoskript, 78 S„ Vereinsarchiv Eduard Wirz, 100 Jahre Liederkranz Riehen, in: Festschrift 100 Jahre Liederkranz Riehen 1856-1956, Riehen 1956 Michael Raith, Gemeindekunde Riehen, 2. Auflage, Riehen 1988 Michael Raith, «Das war ein Fest; davon wird man noch reden in den spätesten Zeiten». 2. August 1891: Die 600-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft in Riehen, in: RJ 1991, S. 83-87

 

Anmerkungen

1) Weissenberger, S. 149 2) Würgler, S. 19 3) Raith 1988, S. 274 4) Raith 1991; Würgler S. 25/26 5) Weissenberger, S. 137-158 6) Würgler, S. 36-38 7) Protokollbuch des Liederkranzes 1864-1896, S. 228/29

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2006

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