20 Jahre HillChill: Vom selbstgebastelten Rock-Plausch zum Riehener Kultur-Highlight
Michel Schultheiss
Das Openair im Sarasinpark feierte nach zwei coronabedingten Ausfällen seinen 20. Geburtstag. Über 5000 Leute besuchten das HillChill 2022. Was heute ein Festival mit überregionaler Ausstrahlung ist, hat anno 2001 klein angefangen. Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte voller Rock, Lärmdiskussionen und viel ehrenamtlichem Engagement.
Das Schlagzeug ist auf einem Teppich platziert. Ein Sonnenschirm spendet dem Drummer ein bisschen Schatten. Seine drei Kollegen der Band Fort Wendy stehen mit Gitarre, Bass und Mikrofon auf dem Kiesplatz. Auf dem nackten Boden brummen die Verstärker. Das Publikum: eine Gruppe junger Menschen. Mit Dosenbier in der Hand nehmen sie auf dem winzigen Hügel bei der Baselstrasse Platz. Bühnen, Verkaufsstände und Abschrankungen sucht man am Bündelitag 2001 noch vergeblich. Fünf junge Bands aus der Region spielen vor insgesamt 200 Leuten.
21 Jahre später: Zwei Bühnen mit allem Drum und Dran stehen im Sarasinpark. Der englische Garten hat sich in ein Festivalgelände verwandelt und wird für zwei Tage eingezäunt. Während beim Weiher und auf dem Kiesplatz Bands wie Cari Cari, Ikan Hyu, Evelinn Trouble oder Arthur Hnatek für Stimmung sorgen, legen DJs weiter vorne im Beduinenzelt elektronische Clubmusik auf. Über 5000 Gäste geniessen das Openair. Im Hintergrund arbeiten 85 fleissige Helferinnen und Helfer daran, dass auch alles gelingt. Sie verkaufen Hamburger, Hill-Chill-Bier und erstmals auch einen eigenen Gin.
Das Festival hat klein angefangen. Längst ist es der grösste Jugendkulturanlass Riehens und auch weit über die Gemeindegrenzen bekannt. «Es hat sich von einem Do-it-yourself-Anlass von jungen Leuten zu einem professionellen Festival gemausert», stellt Lukas Pfeifer fest. Der Gründervater des Openairs versichert, der Geist der Anfangsjahre sei aber noch immer spürbar. «Wir haben damals diejenigen Bands ans HillChill geholt, die wir interessant fanden. Die Herangehensweise ist noch die gleiche – mit dem Unterschied, dass jetzt ein Budget da ist.»
Als Bassist stand er mit Fort Wendy neben Teppich und Sonnenschirm vor dem namensgebenden kleinen Hügel. Die Geschichte dazu ist schnell erzählt: Lukas Pfeifer und seine Bandkollegen wünschten sich mehr Gigs. «Es war ein pragmatischer Move – wir sagten uns einfach: Machen wir doch selbst etwas», erinnert sich Lukas Pfeifer. Sie fragten beim damaligen Jugendarbeiter Guido Morselli nach, ob sich etwas organisieren liesse, und die Gemeinde Riehen stellte ihnen den gewünschten Platz im Sarasinpark zur Verfügung. Die Jungs von Fort Wendy holten vier weitere junge Bands aus dem Freundeskreis an Bord – oder eben auf den Teppich. Equal, Out of Key, Fashion Magazine und Gumpen machten mit. Ein Openair, das in den ersten Jahren noch ‹Lil`HillChill› hiess, war geboren. Bands mit überregionaler Bekanntheit waren damals noch kein Thema. Das hätte man sich gar nicht leisten können. Notabene spielten die Bands damals noch ohne Gage.
REAKTIONEN ALLER ART
Beim zweiten HillChill anno 2002 waren es bereits 20 Bands, die während zwei Tagen spielten. Teppich und Sonnenschirm waren mittlerweile Geschichte, es gab eine Bühne. Noch immer blieb es aber ein ‹Lil`HillChill›. So schrieb damals die ‹Basler Zeitung›: «Alles wirkte im positiven Sinne ein bisschen selbstgebastelt an diesem Open Air. Die Werbung im Vorfeld beschränkte sich auf ein Minimum, Mund-zu-Mund-Propaganda hiess das Zauberwort.» Mit dabei war die Band Speck mit ihrer Mischung aus Grindcore und Free Jazz, begleitet von einem Feuerspucker. Was die Band auszeichnete: ultraschnelle Stücke, oft kürzer als die Ansage, beides gespickt mit Witz und Ironie. Offenbar verstanden nicht alle diese Art von Humor. Ein freikirchlicher Pfarrer stattete dem HillChill eine Stippvisite ab und war über den Auftritt von Speck konsterniert. In einem Leserbrief in der ‹Riehener Zeitung› echauffierte er sich über die aus seiner Sicht «destruktive Musik». Die Reklamation blieb nicht ohne Folgen. Im nächsten Jahr mussten sich die Bands verpflichten, keine Gewaltverherrlichung und Rassismus in ihren Texten zu bringen. Das war ohnehin nicht der Fall. Wie Lukas Pfeifer 20 Jahre später sagt, sei dieser Zusatzvertrag eine Kurzschlussreaktion der Gemeinde gewesen. Letztendlich kam es gar nicht erst so weit, dass Texte kontrolliert wurden.
Eine andere Reklamation hatte weit originellere Folgen. Den HillChill 2004 eröffnete Schorf, ein Projekt aus den Speck-Musikern Marlon McNeill und Niels Werdenberg, zusammen mit dem Gitarristen Tom Hofer. Als Gastsänger trat Sami Abdel Aziz ans Mikrofon. Das Ergebnis war schreiender Avantgarde-Sound, irgendwo zwischen Free Jazz, Noisecore und Industrial. «Es gab keine Texte, zum einem aus Bequemlichkeit, zum anderen ging es nicht um eine ideologische Message, sondern pure emotionale Expression», erinnert sich Sami Abdel Aziz.
Während des Konzertes stand plötzlich Christoph Vitali vor der Bühne. Der damalige Direktor der Fondation Beyeler war gar nicht erfreut über die Darbietung und verlangte das sofortige Ende des Konzerts. Er beteuerte später, man habe während der Darbietung an der Museumskasse nicht einmal mehr das eigene Wort gehört. Schlagzeuger Niels Werdenberg verfasste daraufhin einen Brief an Christoph Vitali. Er nannte Igor Strawinsky, Thelonious Monk und Charles Ives als Beispiele für missverstandene Performances der Kulturgeschichte. Zudem verglich er den Sound von Schorf mit der Schonungslosigkeit eines Otto Dix. Weiter schrieb er: «Ich bin mir daher sicher, dass im Vergleich zum Sarasinpark eine Darbietung auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse unserer Performance erst den richtigen Kontext liefert, um auch als das wahrgenommen zu werden, was wir sind: eine Konsequenz der Musik- und Kulturgeschichte und Ausdruck der Emanzipation von Misstönen und Nebengeräuschen unserer Zivilisation.» Museumsdirektor Vitali war gerührt über diese Antwort. Er nahm das Angebot eines Auftritts im Museum an, «zu einem gegebenen Zeitpunkt». Zwar kam es schlussendlich nie dazu, doch die anfänglichen Misstöne zwischen zwei unterschiedlichen Riehener Kultureinrichtungen endeten damit versöhnlich.
In den Anfangsjahren des HillChills waren Lärmklagen auch sonst ein Thema. So klingelte auch schon mal das Telefon bei der Polizei, wenn die letzte Band um 22.03 Uhr noch immer spielte.1 Noch bis 2008 war um diese Uhrzeit Schluss. In der Folge wurde die Gemeinde kulanter. Ein Jahr darauf konnten die Bands bis 23 Uhr spielen, ab 2010 gar bis Mitternacht. Schon ein Jahr später gab es einen Rückzieher und es war wieder um 23 Uhr Schluss. Seit 2012 endet die Livemusik stets um Mitternacht.
‹LÄRM› ODER ‹GUTER TON›?
Die anfänglichen Lärmdiskussionen taten dem Erfolg des Festivals aber keinen Abbruch. Im Jahr 2007 knackte das HillChill erstmals die Tausendergrenze, drei Jahre später waren es bereits doppelt so viele Besucher und Besucherinnen. Auch die Schar der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer wuchs stetig. 2003 wurde der Verein ‹Freunde des guten Tons› ins Leben gerufen, der bis heute das Rückgrat des Festivals bildet. In den Anfangsjahren konnte man das Team noch an zwei Händen abzählen, anno 2019 werkelten hingegen 134 Freiwillige hinter der Kulisse. Zudem unterstützt die Gemeinde Riehen das Festival seit seinen Anfängen. Zu Beginn waren es nebst finanziellen Beiträgen Hilfeleistungen wie Transport und Material. Mit den höheren Besucherzahlen stockte die Gemeinde ihren Beitrag mehrmals auf. Er liegt mittlerweile im unteren fünfstelligen Bereich, wie die Abteilung Kultur, Freizeit und Sport auf Anfrage schreibt.
Auch musikalisch veränderte sich das Festival stark. Bei den ersten paar Ausgaben war es noch ein Treffen der härteren Bands aus der Region. Rock, Punk, Grunge, Metal und Hardcore dominierten das Line-up. So manche Nachwuchsband konnte sich die ersten Sporen abverdienen. So etwa Hot Cut Up Pancake. Die Schülerband aus Riehen probte damals noch im Luftschutzkeller der Kornfeldkirche. Was bei ihrem HillChill-Auftritt im Jahr 2003 noch niemand erahnen konnte: Das Quartett machte sich später als Bitch Queens einen Namen. Die Band kehrte – wenn auch in anderer Besetzung als in den Anfangsjahren – immer wieder ans HillChill zurück. So sorgten sie auch bei der Jubiläumsausgabe 2022 für einen Pogotanz im Publikum.
Während in den Anfangsjahren harte Gitarrenriffs dominierten, kamen im Laufe der Jahre vermehrt lokale Rapper zum Zug, so etwa Pyro, Black Tiger und Sista Lin. Auch rückten wiederholt stadtbekannte Bands wie Baschi & the Fucking Beautiful, Anna Aaron, Prekmurski Kavbojci und die Lombego Surfers ins Line-up. Unvergesslich bleiben die Auftritte des Spasspunk-Duos Das Pferd. Felix ‹Fips› Hohler schlüpfte später auch in die Rolle des Moderators. Bis 2022 trat er immer in ausgefallenen Verkleidungen auf die Bühne – mal als knallroter Ketchup-Lobbyist, mal als bärtiger Gottvater.
In den 2010er-Jahren kamen vermehrt Bands ins Programm, die schweizweit bekannt sind, so etwa PVP, The Jackets, Faber, Steiner und Madlaina, Crimer und Dagobert. Auch internationale Bands machten zunehmend in Riehen Halt. Man denke etwa an die russische Surfband Messer Chups, die Discofunk-Formation Midnight Magic aus New York, die deutschen Rapper Fatoni und Edgar Wasser oder die südafrikanisch-niederländische Formation Skip&Die. Immer wieder gab es auch ungewöhnliche Auftritte. So spielte einmal gar das Alphorntrio Frenkendorf während einer Umbaupause.
Nicht nur bei der Musik gab es in den 2010er-Jahren einige Veränderungen. Vereinspräsident Lukas Pfeifer legte 2012 das Festival in die Hände von Tobias Abt und Chris Pfeifer. Vier Jahre später gab es erstmals eine zweite Bühne beim HillChill. Sie löste die Orangerie ab, die jahrelang als Auftrittsort für die leiseren Töne gedient hatte. Auch bei den Preisen durchlief das Festival eine Entwicklung. Bei den ersten fünf Ausgaben war der Eintritt gratis. Ab 2006 war das einen ‹Fünfliber› wert. Eine Zeit lang kostete der AbendEintritt jeweils das Doppelte. Ab 2014 stellte das Festival seine Eintrittspolitik ganz auf den Kopf: ‹«Pay as you like›. Dieses Prinzip war damals neuartig. Man bezahlt, so viel man kann oder will. Bis heute hält das HillChill daran fest.
NEUBEGINN UND GENERATIONENWECHSEL
Für Schlagzeilen in den lokalen Medien sorgte das HillChill anno 2019. Es ist eine Anekdote, die ganz an die Vorkommnisse aus den Anfangsjahren erinnert. Als ‹Festival im Festival› hätte ein ‹Hügel Prügel› stattfinden sollen. Die Idee: Pro Abend spielen drei Bands der skurrilen Art, die es nicht ins Line-up geschafft haben. Sie sollen mit wilder Musik die Wartezeiten überbrücken. Es war aber weniger die Idee einer solchen Parallelveranstaltung, sondern ein bizarres Video, das für Aufsehen sorgte. Unbekannte stellten es ins Netz: Zu rüder Punkmusik stellen Menschen mit Tiermasken Sexszenen und Schlägereien nach. Das Video sorgte für Wirbel in den lokalen Medien. Das HillChill-OK betonte jedoch, nichts mit der Organisation dieser Guerilla-Aktion zu tun zu haben. Schliesslich befasste sich sogar der Gemeinderat mit dem ‹Hügel Prügel›. Die Riehener Exekutive sagte daraufhin gemeinsam mit dem HillChill-OK das Parallelfestival ab.
Der ganze Rummel um das Video im Vorfeld konnte dem Festival nichts anhaben. Im Gegenteil: Im 2019 schaffte das HillChill den Besucherrekord mit insgesamt 5200 Personen. Damals konnte noch niemand ahnen, dass eine lange Durststrecke bevorstand. Die Coronapandemie liess den Festivalsommer der zwei Folgejahre platzen. Daher musste das OK die Feier zum 20. HillChill um zwei Jahre verschieben. «Es sind zwei Jahre, die in der Festivalkultur gefehlt haben», meinte Tobias Abt vor dem Festival 2022. Der Neubeginn des Festivals ist auch eine Gelegenheit für eine Stabübergabe. Tobias Abt wie auch der Vizepräsident Chris Pfeifer geben ihre Ämter ab, werden aber weiterhin im Hintergrund mithelfen. Neu übernehmen Simon Fries und Kim Bugno die Leitung. Somit ist beim HillChill bereits die ‹dritte Generation› am Ruder.
In den zwei Jahrzehnten hat das Riehener Openair eine grosse Veränderung durchgemacht. Es gibt aber einen roten Faden bis heute: Nach wie vor ist es ein junges ehrenamtliches Team, welches das Festival auf die Beine stellt – vom Booking bis zu den Essständen. In den Anfangsjahren musste das Festival noch um seine Akzeptanz in der beschaulichen Umgebung kämpfen, die nicht als Hochburg für laute Töne bekannt ist. Was mit Teppich und Sonnenschirm seinen Anfang nahm, ist heute ganz oben in der Riehener Kulturagenda.