Als die Russen nach Riehen kamen

Eduard Wirz

Im Oberdorf lebte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in einem kleinen Häuschen, das inzwischen längst einem Neubau Platz gemacht hat, ein Geschwisterpaar. Bruder und Schwester waren beide aus irgendeinem Grunde ledig geblieben. Böse Nachbarn behaupteten, der Bruder hätte nicht geheiratet, weil sonst die Schwester das Haus hätte verlassen und er ihren Anteil am väterlichen Erbe hätte auszahlen müssen. Beth aber, die Schwester, sei eine solch raubautzige und herrschsüchtige Jungfer gewesen, daß ein Freier bald nach der ersten Bekanntschaft wieder die Flucht ergriffen hätte. Aber, wie gesagt, solches behaupteten nur die bösen Nachbarn, und wir können heute nicht mehr feststellen, wieviel daran wahr war und ob die Verleumder selbst nicht besser getan hätten, erst vor den eigenen Türen zu wischen. Daß Beth aber nicht erschrocken war und das Herz auf dem rechten Fleck hatte, das zeigt die Geschichte, die das Geschwisterpaar erlebte. Diese Geschichte hat dem Bruder den Namen «Cheemijokeb» eingetragen. Wäre er verheiratet gewesen und hätte er Kinder gehabt, so hätte sich dieser Name vielleicht auf die Nachkommen übertragen und wäre zu einem Dorfnamen geworden. So aber starb er mit seinem Träger und ist heute schon längst vergessen.


Die Geschichte trug sich zu in jenen bösen Dezembertagen des Jahres 1813, da die Heere der Verbündeten über die Basler Rheinbrücke nach Frankreich zogen, um dem Kaiser Napoleon den Garaus zu machen. Da der Einbruch hauptsächlich von Lörrach her stattfand, hatte Riehen den ersten Ansturm auszuhalten und von allen baslerischen Dörfern am meisten zu leiden.


Es war an einem trüben Winterabend. Da ritten Kosaken ins Dorf, sprengten auf ihren kleinen, struppigen Pferden durch alle Gassen und stießen, ohne lange anzuklopfen, die Türen auf und lärmten in die Häuser und befahlen den erschreckten Bewohnern, daß man ihnen zu essen und zu trinken herschaffe. Wo aber ein Bauer meinte, er müßte für das Essen und für den Schlipfer und den Branntwein seinen Batzen haben, da lachten die ungestümen fremden Gäste und kauderwelschten: «Alexander alles bezahlt!» Damit meinten sie ihren ober

sten Kriegsherrn. Der aber logierte, wie es einem Zaren geziemte, in dem vornehmen Segerhof am Blumenrain zu Basel und dachte an andere Dinge, denn an das Essen und Trinken seiner wilden Reiter in Riehen. So hatten die Bauern das Nachsehen und mußten erst noch froh sein, wenn das Mausen in Küche und Keller der einzige Schaden war, den sie in diesen Tagen davontrugen.


Der Eger Jakob saß an jenem Abend allein zu Hause, denn die Beth war am frühen Nachmittag weggegangen, um bei einer Bekannten zu wachen, die ein Kind erwartete. Er stand in der Stube und schob von Zeit zu Zeit den Vorhang und öffnete das Schiebfensterchen und sah in die einbrechende Dämmerung hinaus und lauschte. Die Kerze hatte er ausgelöscht, da er meinte, es wäre nicht nötig, daß er den fremden Räubern noch den Weg zeige und sie auf das Licht zustießen wie die Mücken. Aber er hatte sich verrechnet. Auf einmal hörte er Hufegetrappel und schon sprengten drei Reiter die Straße herauf, und gerade vor seinem Haus zügelten sie ihre Tiere, sprangen katzengeschwind herunter und polterten durch die Türe. Der Bauer erschrak erst, dann aber faßte er sich ein Herz und zündete die Kerze wieder an und dachte : «Was gilt's, wenn ich den Gesellen ruhig entgegentrete, kriegen sie Respekt und ich komme so noch am besten davon.» So öffnete er die Stubentüre und stand, die Kerze in der Hand haltend, auf der Schwelle, als die drei gröhlend durch den Gang stürmten. Der Bauer hatte sich zum zweitenmal verrechnet, denn die Soldaten blieben nicht etwa stehen, sondern drängten ihn in die Stube zurück und warfen sich auf die Stühle und bedeuteten ihm, er möge ihnen zu essen und zu trinken bringen. «Schnell! Schnell» radebrechte der eine und zog dabei die Peitsche aus dem Stiefelschaft und ließ sie drohend auf den Tisch sausen. Der Jakob ging in die Küche und überlegte, was er von den Köstlichkeiten, die im Kamin hingen, opfern wollte, da hörte er hinter sich ein Rufen und er sah, daß ihm der eine der unerwünschten Gäste gefolgt war und nun ein Wort in die Stube zurückwarf und seinen Kameraden winkte. Diese standen alsbald neben ihm, und darauf umringten sie den Bauern und zeigten mit lebhaften Gebärden in den Kamin, wo mehr als eine Speckseite und dazu noch ein Dutzend Würste im rauchigen Dunkel hingen.


« Schwarzfleisch ! Schwarzfleisch ! »


Sie stießen Eger, und einer griff nach einer Speckseite.


«Du Sackerlot, willst du das wohl bleiben lassen!» Er tat, als ob er Geld zähle.


«Schwarzfleisch! Alexander alles bezahlt!»


Der Bauer zögerte noch immer. Das ging den Hungrigen zu lange. Sie fielen über ihn her und warfen ihn auf die Bank, und sechs Hände griffen nach der Speckseite. Eger geriet darob in solchen Zorn — denn er ahnte wohl, daß ihm das Säulein unbezahlt das Haus verlassen würde —, daß er nicht überlegte, welcher Ubermacht er gegenüberstand, und sich auf die Räuber stürzte. Diese aber, da sie nahe dem Ziel ihrer Wünsche standen, wollten sich nicht länger aufhalten lassen und fielen mit vereinten Kräften über den Lästigen her und fesselten ihn mit ihren Stricken, die sie um die Hüften gewunden hatten, um jederzeit eine vierbeinige Beute fortführen zu können. Als nun der Bauer verschnürt und verpackt am Boden lag, also daß er kein Glied mehr rühren konnte, langten sie das heißersehnte Schwarzfleisch aus dem Kamin und fuhren mit ihren langen Messern darüber her. Einer hatte in einer Ecke eine Korbflasche entdeckt. Er zog den Zapfen und steckte die Nase an das Glas. Ein Grinsen fuhr über sein Gesicht. Er schleppte die Flasche aus ihrem Versteck und stellte sie auf den Tisch und neigte sie gegen sich, indem er den Mund an das Glas hielt. Der Bauer hörte ein Glucksen. Die beiden andern stießen den ersten, denn sie wollten auch an die Reihe kommen. Jakob aber fing an zu schimpfen, da er sah, wie die schöne Seite immer mehr schwand und die Schelme die Flasche immer stärker neigen mußten. Die Schmausenden ließen sich in ihrem bekömmlichen Werk nicht stören, und immer lauter tönte ihr Schmatzen und Glucksen. Der Gefesselte wurde fuchsteufelswild und schrie und warf seinen unwillkommenen Gästen alle Schimpfnamen zu, die er kannte und erfand dazu in seinem Grimm noch neue und kräftigere. Wie er mitten in seinem Schelten war, sprangen die Soldaten auf und griffen nach ihm, der wie ein wohlverschnürtes Bündel am Boden lag, also daß er kein Glied rühren konnte, hoben ihn in die Höhe und hängten ihn in den Kamin, an denselben Haken, an dem zuvor die Speckseite gehangen. Das Bündel baumelte eine Weile hin und her, dann hing es ruhig und still. Der Bauer war vor Schreck verstummt. Die Kosaken aber gaben sich nun immer eifriger ihrer unterbrochenen Tätigkeit hin, und je mehr sie aßen und tranken, desto lauter und ausgelassener wurden sie. Sie schmatzten und lärmten, und ab und zu versetzte einer dem Bündel einen Stoß, daß es wieder leicht ins Schaukeln geriet.


«Du Schwarzfleisch, du! Alexander nit bezahlt!»


Als die Beth zu später Stunde heimkehrte — es hatte inzwischen ein junger Riehener Bürger trotz der Arglist derZeit mutig und mit viel Geschrei seinen Lebensweg begonnen —, sah sie mit Staunen die Pferde vor dem Haus stehen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie wartete unter der Türe und lauschte, aber sie vernahm keinen Laut. «Es wird doch kein Unglück geschehen sein?!» Sie wollte dem Bruder rufen, doch da schien ihr, es möchte ratsam sein, möglichst unauffällig in das Haus zu kommen. In der Küche brannte der Rest der Kerze nieder.


«Bist du es, Beth?»


«Alle guten Geister stehn mir bei!»


«Bist du es, Beth?»


Jetzt sah sie im flackernden Schein des spärlichen Lichtes ihren Bruder im Kamin hängen.


«Jesus! Gott und Vater! Was hast du angestellt?!»


«Dort!»


In der Ecke lagen die Soldaten und schliefen und schnarchten. Zwei streckten sich nebeneinander, indes der dritte quer über seinen Kameraden lag, nicht anders, als ob er im Rausch gestolpert und liegengeblieben war.


Die Jungfer trat näher. Sie hatte die Speckseite gesehen, die recht klein geworden, sie erkannte mit einem Blick, daß die Zahl der Würste sich vermindert hatte, sie entdeckte die leere Flasche, die mit abgebrochenem Hals am Boden lag, und sie wußte, was sich zugetragen hatte.


«Die Erzstrolche ! »


Sie ging auf die Schlafenden zu.


«Beth!» kam dringend und bittend die Stimme aus dem Kamin.


«Jaso.»


Sie trat zum Bruder. «Bequem haben sie dich nicht gebettet, Jakob, das nicht.» Sie begann die Maschen des Netzes zu lösen. Als sie mit dem Messer durch die Stricke fuhr, gab es plötzlich einen Ruck und der Befreite polterte auf den Herd herunter, mitten in das Aschenloch, so daß eine Wolke auffuhr und die Küche eine Weile in Finsternis hüllte. Mühsam kroch der Bauer vom Herd und schleppte sich zur Bank. Er konnte vorerst kein Glied rühren. Als das die Beth sah, erfaßte sie der gerechte Zorn. Sie ging auf die Sünder zu, ohne auf das leise, dringliche Rufen des Bruders zu achten, bückte sich, als ob sie die Gesichter betrachten wollte, richtete sich wieder auf und tat einen kräftigen Tritt. Es krachte und polterte. Die Geschwister hörten noch ein Fluchen, dann war es wieder still.


«Beth!»


«Sie haben dich erhöht, ich habe sie erniedrigt», antwortete grimmig die Jungfer. Die Gesellen hatten auf dem Kellerladen gelegen, der schon längst hätte geflickt werden sollen, so morsch war er im Laufe der Zeit geworden. Mit entschlossenem Tritt hatte Beth das Brett durchstoßen. Es war unter der schweren Last vollends durchgebrochen, und die Soldaten waren die Treppe hinuntergekollert. Dort blieben sie nach einigem Fluchen und Stöhnen liegen und schnarchten weiter.


Eine Weile harrten die Geschwister atemlos. Als sie keinen Laut mehr vernahmen, fing Jakob an, seine Glieder zu reiben und reckte sich und versuchte, sich von der Bank zu erheben. Wie er eben die ersten unsicheren Schritte tat, tönte plötzlich ein Trompetensignal durch die Stille der Nacht, das rief immer schärfer und dringender.


«Sie kommen!»


«Wer?»


Der Bauer deutete gegen den Keller. «Komm, in den Stall, in die Scheune!» Er tappte gegen die Türe, und die Schwester folgte ihm. In ihr Versteck hinter Heu und Stroh drang der fordernde Ruf der Trompete nur wie ein fernes Klingen. Durch die offenen Türen aber fuhr er laut und unablässig bis in den Keller. Darob erwachte einer der Schläfer. Erstaunt horchte er eine Weile, dann rüttelte er die Gefährten wach. Nun lauschten alle drei, bis einer den qualvollen Augenblick unterbrach: «Alexander! Alexander!» Und alsogleich krochen sie mit zerschlagenen Gliedern und zerbeulten Köpfen die Treppe hinauf und stiegen ächzend und fluchend auf ihre Pferde. Den Bauer hatten sie vergessen; sie dachten nur noch daran, daß sie rechtzeitig auf den Sammelplatz kamen, da sie wohl wußten, daß jedes Säumen hart bestraft wurde.


Als das Geschwisterpaar sich nach bangen Stunden aus seinem Versteck wagte, fand es Haus und Keller leer. Nun besahen sie sich den angerichteten Schaden im Kamin, und sie beschlossen, keinem Menschen ein Sterbenswörtlein von dem aufgehängten Jakob zu verraten. Die Geschichte ist aber doch ausgekommen, sonst hätte sie hier nicht erzählt werden können.


(Diese Erzählung wurde dem Bändchen «Giggishans» entnommen, das im Verlag Th. Schudel erschienen ist.)

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1970

zum Jahrbuch 1970