Aus der Erzählung Der Tod

René Regenass

Zu Beginn gefielen ihm diese regelmässigen Spaziergänge durch den Friedhof, die Stille tat ihm gut. Manche Jahreszahl auf den Grabsteinen versetzte ihn in die Zeit zurück, als der Tod für ihn noch kein Anlass war, sich mit ihm näher zu befassen, er ihn bloss aus den Nachrichten in den Zeitungen kannte: wenn sich irgendwo ein Unglück ereignet hatte oder in einem Land Krieg herrschte.

War er deswegen oberflächlich gewesen, oder einfach ehrlicher als die andern, die mit zunehmendem Alter den Tod als Begleiter sahen, voller Selbstmitleid, dass sie weiter vorgerückt waren in der Reihe derer, die sich nicht mehr auf die ihnen statistisch noch zustehenden Jahre berufen konnten? Darum hatte er auch die Zusammenkünfte gemieden, das Gespräch kam unweigerlich, ob sie nun Karten spielten oder einen gemeinsamen Ausflug unternahmen, auf den Tod. Er war immer dabei, ging mit.

Er wollte sich die Tage nicht vergällen lassen, indem er wie die Kollegen einzig auf das Ende hin dachte. Und zuletzt mochte er auch nicht mehr auf den Friedhof. Der Geruch der faulenden Blumen widerte ihn an, ekelte ihn.

Der jüdische Friedhof, den er einmal besucht hatte, entsprach viel eher dem, was er unter Andenken oder Gedenken verstand: da wuchsen und wucherten die Pflanzen, die Grabsteine sanken langsam zurück in die Erde, die Steine wurden wieder ein Teil der Natur. Und keine Umzäunung wollte die Toten vor den Lebenden, oder umgekehrt, schützen.

Eines Tages sagte er seinem Kollegen, dass er nicht mehr mitkomme auf den Friedhof, schlug statt dessen vor, anderswohin zu spazieren. Anscheinend verstand ihn der Kollege nicht; sie trafen sich nicht mehr.

Er ging auch zu keiner Beerdigung mehr. Das Andenken an einen Verstorbenen, sagte er sich, kann genauso im Kopf weiterbestehen, warum diese Rituale, dieses aufdringliche Abschiednehmen, wenn doch die Erinnerung, das Gehirn, keine Schranke kennt, das Gedächtnis erst mit dem Tod aufhört?

Langsam kehrte er zurück an seinen Tisch, in die Gegenwart. Vor ihm stand die Tasse mit dem Kaffee, der inzwischen kalt geworden war. Die Zeitung war noch bei den Todesanzeigen aufgeschlagen; vielleicht beschäftigte er sich deshalb so eingehend damit, weil er kaum einen Steinwurf weit vom Friedhof entfernt geboren wurde. Keine einfache Geburt, wie ihm die Mutter später erzählte. Die Hebamme sei verzweifelt, die Nabelschnur hatte sich verwickelt, er sei schon blau angelaufen gewesen, als er endlich herausschliipfte, habe keinen Laut von sich gegeben, bis ihn die Hebamme auf den Hintern geschlagen und kräftig geschüttelt habe. Dann endlich sei der Schrei des Lebens aus ihm herausgesprungen.

Der Vater berichtete mit Vorliebe von den Totenwagen, die neben dem Haus in den Friedhof gefahren seien, kein anderes Auto habe er so oft gesehen wie den Totenwagen; und als er am Abend vor der Geburt seines Sohnes nach Hause gekommen sei, ziemlich spät, habe er auf der Friedhofsmauer ein Licht wahrgenommen, flackernd. Es sei vor ihm hergegangen, bis er habe abbiegen müssen, verschwunden aber sei es erst, als er die Tür aufschloss.

Diese beiden Geschichten, die von der Mutter und die vom Vater, waren ihm geblieben, er trug sie mit sich, hatte sie von Ort zu Ort, von Land zu Land geschleppt. Sie belasteten ihn nicht, sie waren ja so flüchtig und leicht, brachen nicht mit Gewalt in sein Bewusstsein, schwebten irgendwo in den Höhlen des Gehirns. Wohl stiessen sie sich manchmal an der Wandung des Schädels und verlangten pochend ihr Recht: dass er sich erinnere; doch das war zu ertragen.

Er war nie auf ihre Schliche gekommen. Es konnte geschehen, dass sie sich monatelang ruhig verhielten, dann auf einmal meldeten sie sich. Oft in einem Augenblick, wo er überhaupt keinen Anlass hatte, sich zu erinnern, ausgerechnet an diese Geschichten. Aber sie liessen ihm keine Ruhe, wie ein Blitz zuckten sie durch den Kopf - in der Strassenbahn, im Geschäft, mitten in einer Veranstaltung oder gar bei der Freundin. Sie hatten es offenbar darauf abgesehen, ihn zu stören, mehr: zu verstören.

Die Geschichten regten ihn nicht auf, brachten ihn nicht aus dem Gleichgewicht, aber sie vermochten ihn so auszufüllen, dass er an nichts anderes mehr denken, nichts anderes mehr empfinden und fühlen konnte.

Schlimm war die Leere nachher, sobald er wieder eintrat in die Situation, in der er sich tatsächlich befand. Er hatte jedesmal den Eindruck, er käme gerade von einer weiten Reise zurück, müsse sich erst wieder an die fremdgewordene Umgebung gewöhnen; die Personen waren nah und doch fern. Nicht selten geschah es, dass er sich nicht mehr zurechtfand, plötzlich aufstehen und hinausgehen musste an die Luft, und war er unterwegs, so drängte es ihn in das nächste Lokal oder nach Hause, nur damit er schützende Wände um sich hatte.

Also war es doch eine Lüge zu behaupten, die Geschichten hätten ihn nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie waren stets mit ihm, zwei heimtückische Begleiter, die sich nicht abschütteln liessen, mit ihm Katz und Maus spielten, überall auflauerten. Es kam schliesslich soweit, dass er dachte: Vielleicht bist du bei der Geburt doch gestorben, bist du nichts als dein eigener Geist, der ruhelos umherzieht, und das Licht auf der Mauer ist deine Seele, die den Körper nicht findet, nackt und hilflos in einen Menschen schlüpfen will. Du lebst gar nicht, sagte er sich, wenn ihn diese Geschichten überfielen, du bildest dir das bloss ein. Nein, entgegnete er, ich bilde mir das nicht ein, ich bin ja gar nicht, ich bin nur das dürftige Licht.

Er steckte in diesem Licht, das erlosch, als er bei der Geburt nicht schreien konnte. Die Geschichten hatte er in den wenigen Minuten erlebt, bis er starb. Möglicherweise war sein ganzes Leben, das er nie angetreten hatte, abgespult in dem kleinen Gehirn, das seither ohne Gestalt umherspukte, ihm vorgaukelte, er würde wirklich leben.

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1991

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