Autoren aus Riehen René Regenass

Valentin Herzog

Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren ist René Regenass ein grossartiger Geschichtenerzähler, der ganze Szenen spielt, gnadenlos zur grotesken Pointe treibt. Denn er wandelt mit einem unheimlich geschärften Blick für komische und entlarvende Situationen durchs Leben: Ein Regentag im Mai, wir gehen miteinander über den Hörnlifriedhof, kommen zu jener diskreten Seiteneinfahrt für die dunklen Lieferwagen mit mattierten Glasscheiben; neben dem Tor, das nachts mit einem Stahlgitter geschlossen wird, gibt es eine kleine Drehtüre; Notausgang steht darüber. René Regenass bleibt völlig perplex stehen, deutet auf das Metallschild: «Notausgang - hast du das schon mal gesehen: Friedhof mit Notausgang!»

Dort, am Hirtenweg, ist René Regenass am 15. Mai 1935 zur Welt gekommen. Wo sich damals ein stattliches Bürgerhaus mit französischem Dachstock erhob, stehen heute diskriminierend hässliche Sozialwohnblöcke - kein sehr ergiebiger Lokaltermin. Aber hier an der Friedhofsmauer kommt René Regenass ins Erzählen. Spricht von seinem Grossvater, dessen Eltern auswanderten, das Kind aber einfach im Baselbiet «vergassen»; berichtet von seinem Vater, der 1918 in Berlin noch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht erlebte, dann nach Basel zurückkehrte, beim Elektrizitätswerk arbeitete, hinter dem Friedhof wohnte, wo er wenigstens einmal ein Geisterlicht sah, als er auf seinem gewohnten Schleichpfad vom badischen Abendschoppen heimkehrte; erzählt von der Mutter, einer Bauerntochter aus Tunsei bei Bad Krozingen, und von den ersten illegalen Familienzusammenkünften gleich nach dem Krieg in Inzlingen.

René Regenass ist zwar in Riehen auf die Welt gekommen, bewusst aber hat er das Dorf nur auf Sonntagsspaziergängen erlebt, die zuerst zum Grab der Grosseltern führten und dann ins Stammlokal der Riehener Mandolinen-Gesellschaft, die damals sogar noch richtige Umzüge durchs Dorf organisierte und deren Mitglied Vater Regenass blieb, auch als er schon längst am Morgartenring wohnte.

1954 legte René Regenass eine brillante Handelsmatur ab und begann, Germanistik, Romanistik und Geschichte zu studieren: «Allerdings fand ich mich an der Universität nie zurecht, die Studentenschaft war damals noch von den sogenannten besseren Schichten geprägt, ich erlebte ein Gefühl der Inferiorität und Hilflosigkeit, das ich nie überwinden konnte. Schliesslich kam mir der Sinn des Studiums völlig abhanden.»

Die «Lockung, das andere zu erleben», befreite René Regenass aus dieser Phase der Depression: Er unternahm Reisen kreuz und quer durch Europa, meist mit dem Fahrrad, immer allein und immer in Geldnot. Dann tat er den Sprung ins andere Extrem, gründete eine bürgerliche Existenz, ging 1958 seine erste Ehe ein («auch eine Fluchtbewegung»), arbeitete in verschiedenen Berufen, zuletzt als Direktionssekretär im Kantonsspital.

«Zum Schreiben bin ich sehr spät gekommen. Auslöser war die grosse Unruhe des Jahres 1968: Nach einer langen Phase der Unsicherheit fasste ich den Mut, mich selber kennenzulernen, zu fragen: Wo stehe ich eigentlich in der Gesellschaft, was erwarte ich vom Leben? Damals wurden in Basel gerade der Lenos Verlag und der «Drehpunkt» gegründet, am Totentanz fanden die berühmten, von Robi Blum, Christoph Geiser und Ueli Kaufmann organisierten Lesungen statt - es war eine Stimmung des Aufbruchs, des Neubeginns und für mich ein entscheidender Moment der persönlichen und gesellschaftlichen Bewusstwerdung. In dieser Zeit begann ich zu schreiben, veröffentlichte meinen ersten Band mit Prosa und Kurzgeschichten: <Der Besuch blieb meist über Nacht».»

Seither hat René Regenass praktisch jedes Jahr ein Buch vorgelegt: Gedichte, Prosa, Erzählungen und fünf Romane; ausserdem hat er vier Theaterstücke, mehrere Hörspiele und zahllose Kurzgeschichten für Zeitschriften und Anthologien (unter anderem für «Texte in der ARENA», 1988) geschrieben. Auf die Frage, welche dieser Publikationen für ihn persönlich besonders wichtig seien, nennt er neben seinen sehr bekannten Romanen «Porträt eines Portiers» und «Vernissage» die beiden folgenden Titel: «Aufbruch nach Urbino» (1976). Die schmale Erzählung enthält schon viele Motive, die für Regenass' literarisches Schaffen typisch sind: Da gibt es als Ich-Erzähler eine jener überangepassten Figuren, die heimlich unter der «toten Geometrie» ihres Alltags leiden; da gibt es den Versuch, auszubrechen, den kleinbürgerlich «schmalen Streifen Freiheit» mit der wirklichen Freiheit des wirklichen Lebens zu vertauschen; da ist aber auch die Unfähigkeit, diesen heroischen Entschluss in die Tat umzusetzen - zunächst scheinen nur äussere Schwierigkeiten, den «Aufbruch nach Urbino» zu verzögern, bald aber merkt der Leser, dass die wahren Hindernisse im Wesen des Erzählers selbst liegen, der seine Angst vor der ersehnten Freiheit nicht zu überwinden vermag. Da bei Regenass jedoch schon harmlose (nur gedachte) Verstösse gegen die bürgerliche Konvention einen diabolischen Mechanismus von Ursache und Wirkung auslösen, nehmen die Dinge zwangsläufig die schlechtestmögliche Wendung: Der Erzähler kann nicht zurück, verwandelt sich in ein hoffnungs- und hilfloses Wesen, das unter die Fuchtel eines furchtbaren Spiessbürgers gerät und in einem Kellerraum langsam verdämmert.

«Die Kälte des äquators» (1982) dürfte unter Regenass' Büchern dasjenige sein, das «am relativ nächsten an meiner Biografie» angesiedelt ist. Die Niederschrift des Romans war «auch ein Stück Selbsttherapie - erstaunlicherweise aber hat diese Darstellung eines Vater-Tochter-Konflikts bei einer grossen Zahl von Lesern ein ungewöhnlich starkes Echo ausgelöst».

«Scott's Einsamkeit» (1989) ist das letzte Buch von Regenass, das ich gelesen habe. Die seltsam faszinierende Erzählung schildert den Gang eines nach Einsamkeit süchtigen (im übrigen völlig unauffälligen) Mannes hinaus in die gefährliche, verwirrende ödnis einer Winternacht am Wattenmeer; er findet dort den Tod, weil er - typische Regenass-Figur - nicht rechtzeitig umkehrt, das heisst, weil er sich dieses eine Mal die kleine, alltägliche Feigheit der Anpassung an die Gegebenheiten versagt.

Von Regenass' jüngstem Roman («Die Fussangel», Herbst 1991) kenne ich bislang nur den Klappentext, welcher die Geschichte eines Philosophieprofessors verspricht, der einem sonderbaren Fetischismus verfällt und dem es trotz aller Intelligenz nicht gelingt, «sich aus dem Denkschema der Gesellschaft zu lösen, ein eigenes Bewusstsein zu erlangen».

 

Vor gut zehn Jahren hat René Regenass seinen einträglichen Brotberuf aufgegeben und sich als freier Schriftsteller etabliert. Seither teilt er seine sehr streng geregelte Arbeitszeit zwischen dem eigentlichen Schreiben, dem Korrespondenzkram, der natürlich vor allem in jenen Jahren beängstigende Ausmasse annahm, in denen er Präsident der Gruppe ölten war, und jenen «Fingerübungen», die wenigstens ein bisschen etwas einbringen: Kurzgeschichten für den «Nebelspalter» beispielsweise.

 

Seiner Heimatstadt ist Regenass lebenslänglich treu geblieben. Abgesehen von einem halben Jahr, das er als «Stadtschreiber» in Mannheim verbrachte, hat er immer in Basel gelebt. Er braucht die «vertraute Kulisse», aber auch die «Reibungsflächen», und davon hat es wahrlich genug gegeben. Denn «der Schriftsteller ist nicht überall ein gerngesehener Gast. Sein Wort wird oft gefürchtet, es behaftet und lässt sich nicht leicht löschen, seine Kritik erregt Anstoss.» («Notizen und Betrachtungen eines Stipendiaten», Mannheim, 1986). René Regenass hat sich den kritischen Aussenseiterblick bewahrt: «Basel ist eng, und die Enge färbt ab, man wird selbstgerecht, neigt zur Selbstüberschätzung. Basel ist eine Insel - nicht zufällig reisst die grosse geistige Tradition wenige Jahrzehnte nach dem Beitritt zur Eidgenossenschaft ab. Schriftsteller wie der kürzlich verstorbene Ulrich Becher, Hermann Kesten, Rolf Hochhuth, Dieter Forte mögen hier leben, aber was sie tun, wird in diesem provinziellen Klima kaum wahrgenommen.»

 

René Regenass wohnt heute in der Breite. Besucht man ihn und seine Frau, die Schauspielerin und Sprecherzieherin Eva Nussbaumer, zu Hause, trifft man sie auf einem Spaziergang in Riehen oder im Elsass, so erlebt man die Eltern zweier äusserst lebhafter und phantasiebegabter Söhne, eine ebenso sensible wie temperamentvolle Mutter und einen stets in Bewegung befindlichen, zu jedem Spass und ausgelassenen Spiel bereiten Vater, kurz eine Familie, wie man sie sich lockerer und freier kaum denken kann. Woher kommt der abgründige Pessimismus in Regenass' Erzählungen und Romanen?

 

«Intensiv nehme ich nur das wahr, was in meinen psychologischen Raster passt - das erklärt wohl die Wahl meiner literarischen Themen.»

 

«Der Schreibende ist ein Medium, in gewissem Sinne jedenfalls. Er gibt nur das wieder, was er in sich hat.»

 

«Ich habe eine starke Beziehung zum Tod, habe sie immer gehabt. Abgesehen von der hypothetischen Frage, was nachher kommt: Der Tod ist die Summe des Lebens, das Absolute.»

 

Soweit René Regenass selbst über den privaten Aspekt seines Schreibens. überblickt man das Gesamtwerk, entdeckt man rasch auch seine politische Dimension: Wenn schon ein kleiner Mangel an Anpassungsfähigkeit regelmässig in die Katastrophe führt, so entlarvt das eine Gesellschaft, die solche Menschen hervorbringt und sie dann bis zum äussersten treibt. Die Sehnsucht nach Klarheit, Ehrlichkeit, Liebe und Freiheit kann so selbstzerstörerisch nur werden in einem System sozialer Mechanismen, in dem all diese Werte zum Werbegag verkommen sind. Ich bewundere die Hartnäckigkeit, mit der René Regenass anschreibt gegen Unehrlichkeit, Lieblosigkeit und Anpassungszwänge. Er tut das hoffnungs- und illusionslos, hintergründig und realistisch, wie es nur wenige noch wagen in dieser Zeit.

 

Publikationen

«Der Besuch blieb meist über Nacht», Prosa, Wagner Verlag, Bernl969; «Wir haben das Pulver nicht erfunden...», Lenos-Presse, Basel 1971; «Alle Wege bodenlos», Erzählungen, Gute Schriften-Verlag, Basel 1972; «Wer Wahlplakate verschmiert...», Roman, Lenos-Presse, Basel 1973; «Triumph ist eine Marke», Texte, Lenos-Presse, Basel 1975; «Aufbruch nach Urbino», Erzählung, Edition proThese, Basel 1976; «Ein Schlagbaum treibt keine Blätter», Roman, Bubenberg-Verlag, Bern 1976; «In aller Stille», Erzählungen, GS-Verlag, Basel 1977; «Mord-Steine», Prosa, Bubenberg-Verlag, Bern 1978; «Porträt eines Portiers», Erzählung, Rowohlt, Reinbek/Hamburg 1979; «Damit die Zunge nichts Falsches sagt», Gedichte, GS-Verlag, Basel 1979; «Die Kälte des äquators», Roman, Schweizer Verlagshaus, Zürich 1982; «Vernissage», Roman, Schweizer Verlagshaus, Zürich 1984; «Kopfstand», Kurzprosa, Nebelspalter-Verlag, Rorschach 1984; «Die Liliputanerin», Erzählungen, Verlag Nachtmaschine, Basel 1986; «Schattenreise», Erzählung, Schweizer Verlagshaus, Zürich 1986; «Scott's Einsamkeit», Erzählungen, GS-Verlag, Basel 1989; «Fussangel», Roman, Edition Hans Erpf (erscheint Herbst 1991).

 

Theaterstücke: «Die Sitzung», Einakter, Städtebundtheater Biel-Solothurn, 1974/75; «Der Anschneider», Landestheater Salzburg, 1976; «Schöne Zeiten», Städtebundtheater Biel-Solothurn, 1983; «Wo liegt der Hund begraben», Einakter, Basler Theater, 1984. - Ausserdem drei Hörspiele. Freier Mitarbeiter bei der Zeitschrift «Nebelspalter».

 

Personen

(soweit nicht schon in der GKR, im RRJ oder in RJ 1986 ff. vorgestellt)

Becher, Ulrich (1910-1990), Schriftsteller

Blum, Robert (*1925), Buchhändler

Kaufmann, Ulrich ("'1948), Primarlehrer, Schriftsteller, Illustrator, Mitglied Landrat BL Regenass-Nussbaumer, Eveline (*1946), Lehrerin

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1991

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