Autoren in Riehen Rolf Hochhuth

Valentin Herzog

Sollte Riehen eine Chance haben, in die Literaturgeschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts einzugehen, so verdankt sich das dem Umstand, dass dieses Dorf, dessen Villen eher Sammlungen und Privatbibliotheken von Rang beherbergen als lebendige Künstler, in den Jahren 1963 bis 1971 Heimat gewesen ist für einen Autor, der gefeiert und gehasst, gelobt und verdammt wurde wie kein zweiter deutscher Schriftsteller der Nachkriegszeit: Rolf Hochhuth.

Am 20. Februar 1963 hatte Erwin Piscator im Berliner Theater am Kurfürstendamm das dramatische Erstlingswerk eines bis dato völlig Unbekannten uraufgeführt; Hochhuths «Stellvertreter» hatte eine erbitterte Diskussion um die Mitschuld der katholischen Kirche und insbesondere des Papstes Pius XII. am Holocaust ausgelöst, eine Diskussion, die vom Familientisch bis in die akademischen Hörsäle reichte, vom Leitartikel bis zur diplomatischen Demarche. Als das Basler Stadttheater im November des gleichen Jahres die schweizerische Erstaufführung riskierte, mussten 200 Polizisten die Premiere gegen erregte Demonstranten beschützen, die - vermute ich - nicht nur das Ansehen des Papstes verteidigen wollten, sondern sich wohl auch an einem helvetisch-empfindlichen Nerv getroffen fühlten durch die zentrale Aussage des Stückes, nämlich dass auch Schweigen eine Mitschuld am Verbrechen begründen kann.

Anlässlich dieser Aufführung besuchte Rolf Hochhuth Basel zum ersten Mal - «um gleich zu bleiben», wie er 1970 in einem Text schrieb, der dann im Riehener Jahrbuch von 1971 erschien («Station Basel»), Warum er damals seinen Wohnsitz Unterm Schellenberg in Riehen aufgeschlagen habe?

Statt einer Antwort deutet Rolf Hochhuth auf ein Bild an der Wand. Im ersten Moment meine ich den Tüllinger Hügel und dahinter die in der Ferne sich verlierenden Höhenzüge des Schwarzwalds zu erkennen. Aber Hochhuth dementiert meine Vermutung mit einem verschmitzten Lächeln: Das ist die Umgebung meiner Heimatstadt Eschwege aber du wirst begreifen, dass mich die Riehener Landschaft sofort sehr verwandt angemutet hat... Riehen, wie es da eingebettet ist in diese Landschaft, ist ein wwiderbarer Ort... Es war ungeheuer angenehm, dort zu wohnen.

Rolf Hochhuth gerät ins Schwärmen, spricht von den herrlichen Spaziergängen im Wenkenhof, von der Möglichkeit täglicher Radfahrten in den Langen Erlen und davon, dass sein ältester Sohn Martin hier eingeschult, die beiden jüngeren, Fritz und Sascha, hier geboren wurden. Dana Hochhuth, Rolf Hochhuths zweite Frau und Mutter seines jüngsten Sohnes, ist übrigens Bürgerin von Riehen und würde «lieber heute als morgen wieder dorthin ziehen».

Warum das Ehepaar nun doch in der Stadt wohnt, in einem prachtvollen Patrizierhaus übrigens und an der gleichen Strasse, an der vor über hundert Jahren ein anderer grosser ärgerniserreger seine Basler Jahre verbrachte: Friedrich Nietsche?

Die Antwort auf diese Frage klingt ein bisschen schofel ich kann mir meine Arbeit nicht denken ohne die Lesegesellschaft (am Münsterplatz) und die Universitätsbibliothek, die ich von hier aus mit dem Fahrrad frequentiere.

Hingesagt in einem Raum, in dessen wandhohen Regalen allein schon an die fünftausend Bücher stehen mögen. Weitere Bücher türmen sich im Gang, vermutlich in den anderen Teilen der Wohnung, ganz sicher in jenem ausserhalb des Hauses gelegenen, störungs- und telefonfreien Raum, wo Rolf Hochhuth arbeitet: Der unerbittliche Forscher nach unbequemen Wahrheiten und Zusammenhängen ist ein Büchermensch, wie es nicht viele gibt. Deshalb begnügt er sich auch nicht damit, Bücher zu schreiben, sondern ist daneben immer noch als Herausgeber tätig, hat beispielsweise vor wenigen Jahren eine wundervolle Anthologie deutscher Erzählkunst im Zwanzigsten Jahrhundert geschaffen; es scheint mir bezeichnend für Rolf Hochhuth, dass der einzige publizistische Erfolg, den er während unseres Gespräches mit Zahlen belegt, nicht der eines eigenen Werkes ist, sondern der jener Wilhelm Busch-Ausgabe, die er Anfang der 60er Jahre für den Bertelsmann-Lesering mit einem Vorwort von Theodor Heuss herausgebracht hat und von der innert kürzester Zeit eine Million Exemplare verkauft waren.

Dies alles war Rolf Hochhuth nicht unbedingt an der Wiege gesungen. Vielleicht ist es auch darum so schwer, die Rede auf Persönliches zu bringen und diesem Autor, der in seinen Stücken und Erzählungen die Biographien geschichtlicher Figuren und namenloser Opfer scharfsinnig durchleutet hat, wenigstens ein paar Details seiner privaten Entwicklung zu entreissen. Schon sein Geburtsdatum - es ist der 1. April 1931, «einfach ein Witz» - scheint Rolf Hochhuth peinlich zu sein. «Meinen Geburtsort kennt sowieso niemand.» Es ist dies das Städtchen Eschwege, zwischen Kassel und Eisenach direkt an der Grenze der Bundesrepublik zur Deutschen Demokratischen Republik gelegen und von jeher als ein kleines Zentrum der Lederindustrie bekannt. Vater Hochhuth besass hier denn auch eine Schuhfabrik - «ach so einen kleinen Betrieb, 250 Arbeiter ungefähr». Die Firma ging allerdings in den Stürmen der Weltwirtschaftskrise unter und musste 1931 geschlossen werden. Da die Mutter jedoch aus dem «ältesten Handels haus Hessens» stammte, fand der Vater bald wieder eine angemessene Beschäftigung. Ein «bürgerliches Elternhaus» also; aber vorstellen kann ich es mir kaum, denn im Gegensatz zu den meisten Menschen gerät RolfHochhuth, nach seiner Jugend befragt, nicht ins spontane Erzählen, lässt sich nur bruchstückweise ein paar dürre Fakten abgewinnen: dass er das Eschweger Gymnasium bis zur Mittleren Reife besucht, anschliessend eine Buchhändlerlehre absolviert, verschiedene Universitäten als Gasthörer frequentiert, als Sortimenter, später als Lektor gearbeitet und nacheinander in Marburg, Heidelberg, Kassel, München, Gütersloh und Hamburg gewohnt hat. Als überraschte ihn diese Tatsache immer wieder selbst aufs neue, stellt er schliesslich fest: Basel ist die Stadt, in der ich länger gelebt habe als in jeder anderen. Basel hat mich sesshaft gemacht.

Gesprächig wird Rolf Hochhuth erst wieder, wenn die Rede auf seine literarische Entwicklung kommt: Ich habe nie geplant, etwas anderes zu werden als Schriftsteller - aber du kannst ja keinem sagen, du willst Schriftsteller werden, ohne dich lächerlich zu machen. So habe ich den Buchhändlerberuf vorgeschützt, was sicher nicht ganz falsch war, allerdings auch sehr anstrengend: tagsüber im Sortiment bedieiien, abends schreiben...

In jenen Buchhändler jähren sei ein erster, bis heute unpublizierter Briefroman entstanden. Darin wird die Agonie der Nazizeit und der Einmarsch der Dritten US-Armee (General Patton) in Hessen aus den Perspektiven verschiedener Bewohner des Hauses «Victoriastrasse 4» - so der Titel beschrieben.

Ich war anscheinend von ausgeprägter Instinktlosigkeit. Ich hätte eigentlich wissen müssen, dass das Drama meine Form ist. Aber ich stand damals völlig im Banne des grossen Thomas Mann...

So ganz verfehlt kann freilich die erzählende Form nicht gewesen sein: 1960 erzielte Rolf Hochhuth einen ersten Achtungserfolg mit jener Geschichte, die später in erweiterter Form als «Zwischenspiel in Baden-Baden» erscheinen und dann, nochmals überarbeitet, das Hauptstück des Erzählungsbandes «Atlantik-Novelle» bilden sollte. Hochhuth reichte den Text damals unter dem Pseudonym Brigitte Calden bei einem Verlagswettbewerb ein und gewann den ersten Preis. Im übrigen sind aus seinem Gesamtwerk weder die späteren Erzählungen noch der Roman «Eine Liebe in Deutschland» wegzudenken; und wer Hochhuths Dramen gelesen hat, weiss, welche Bedeutung darin dem epischen Element, den oft seitenlangen Regieanweisungen, Situationsbeschreibungen, Hintergrundsberichten zukommt.

Wie dem auch sei: Der literarische Durchbruch kam 1963 mit dem «Stellvertreter». Dann ging es Schlag um Schlag: 1965 sollte ein Drama mit dem Titel «Der Arbeitgeber» erscheinen. RolfHochhuth stellte es nicht fertig, aber er publizierte das dafür recherchierte Material im «Spiegel»: «Der Klassenkampf ist nicht zu Ende.» Aus der relativen Distanz seines Riehener Exils gelang es ihm, mit dieser Studie zu beweisen, was damals niemand in der BRD wahrhaben wollte, nämlich, dass es im «Wirtschaftswunderland» krasse Armut, Obdachlosigkeit (mehr als 1932!), krasse Unterprivilegierung und Ungerechtigkeit gab - dass die vielgepriesene soziale Harmonie also nichts weiter als ein leeres Schlagwort war. Der Schock, den diese Publikation auslöste, war so gross, dass sogar der damalige Bundeskanzler Erhard in den Fettnapf unsterblicher Lächerlichkeit taumelte, indem er Hochhuth als «ganz kleinen Pinscher» beschimpfte.

1967 löste das Drama «Soldaten» in England eine Reihe politischer Skandale aus. Ursprünglich ging es in diesem Stück um die Brutalität - und die strategische Sinnlosigkeit - des totalen Bombenkrieges gegen die Zivilbevölkerung. Zunehmend aber geriet die Figur des von Hochhuth kritisch verehrten Winston S. Churchill in den Mittelpunkt der Debatte. Ihm wurde der Luftkrieg, ihm wurde auch der Tod des polnischen Exilpolitikers Sikorski als verstehbare, vielleicht historisch notwendige, darum aber nicht einfach unter den Tisch zu wischende Schuld angelastet. Eine beispiellose Verleumdungskampagne mit Beschimpfungen als «Nazi» und «Bolschewist», ein Prozess, dessen Urteil es dem Autor seither verunmöglicht, englischen Boden zu betreten - und die Abschaffung der Zensur in Grossbritannien waren die Resultate.

Die letzten beiden Werke der Riehener Epoche stehen in denkbar starkem Kontrast zueinander: In «Guerillas» geht es um die Utopie eines Staatsstreichs in den USA, durch den soziale Gerechtigkeit hergestellt und der Geist der Verfassung verwirklicht werden soll. «Die Hebamme» dagegen greift die Thematik der «Klassenkampf»-Studie wieder auf und enthüllt das Elend der Obdachlosensiedlungen in Deutschland. Die komödiantische Form erlaubt Hochhuth, seine satirische Begabung frei zu entfalten. Auch dieses Stück löste - schon vor der Premiere - hemmungslose Polemiken aus. Von Kennern wird es als Hochhuths wirkungsvollster Beitrag zur Lösung konkreter gesellschaftlicher Probleme bezeichnet.

Die Dramen der 70er und 80er Jahre seien nur noch kurz gestreift: «Lysistrate und die Nato», «Juristen» (seit dem «Stellvertreter» das erste Hochhuth-Stück, das auch in Basel gespielt wurde), «ärztinnen» (eine bittere Enthüllung skrupelloser Versuchs- und Verkaufspraktiken in der Pharmaindustrie - in Basel nicht gespielt) und zuletzt: «Judith», eine gnadenlos bohrende Diskussion der Frage, ob und unter welchen Bedingungen Mord als Mittel der politischen Not-Wehr zu rechtfertigen sei (in Basel - unter Protest des Autors - gespielt).

Und Rolf Hochhuth ist weiterhin äusserst produktiv: Im Sommer 1988 hat er ein Stück mit dem Titel «Unbefleckte Empfängnis» fertiggestellt, worin er sich mit der ihm eigenen Vehemenz gegen die Versuche politischer Kreise in Deutschland und der Schweiz wehrt, unfruchtbaren Frauen den medizinisch eventuell gangbaren Weg zum eigenen Mutterglück zu blockieren, das heisst die In-Vitro-Fertilisation von Staats wegen zu verbieten. Und schon arbeitet er an einem nächsten Projekt, einem Auftrag des Wiener Burgtheaters zum 75. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges. «Sommer 1914» lautet der Arbeitstitel dieses Dramas, das in den nächsten Monaten fertig werden muss.

Ausserdem sind allein im vergangenen Jahr erschienen: «Täter und Denker», eine Sammlung von Essays über Schlüsselfiguren der (Geistes-)Geschichte, worin Hochhuth unter anderem das Churchill-Sikorski-Problem noch einmal aufrollt, seinen Gross- und Lehrmeister Thomas Mann gegen modische Herablassung in Schutz nimmt, den greisen Ernst Jünger werbend porträtiert und scharf mit jenen Historikern abrechnet, die eine so zwiespältige Persönlichkeit wie Julius Caesar zum Kultidol geschichtlicher Grössenverehrung (und zur Gallionsfigur ihrer eigenen nationalistischen Konzepte) gemacht haben. Fast gleichzeitig ist die grosse Alan Turing-Erzählung herausgekommen, deren Titelheld zu jenen Figuren gehört, die Hochhuth seit jeher besonders fasziniert haben: Alan Turing, höchstbegabter Mathematiker, entwickelt nach Kriegsausbruch die ersten praktisch einsatzfähigen Computer, mit deren Hilfe es den Engländern gelingt, den als todsicher geltenden deutschen Enigma-Code zu knacken - und praktisch sämtliche Funksprüche der Wehrmacht zu entschlüsseln, Truppenverschiebungen und Flugzeugangriffe vorauszusehen, die Position deutscher U-Boote zu bestimmen und so die Schlacht um England und die nordatlantischen Verbindungswege zu gewinnen. Nach Kriegsende aber wird dieser ebenso geniale wie persönlich chaotische Mensch nicht nur durch den Geheimhaltungsfimmel der britischen Generalität um die Anerkennung seiner Leistung gebracht - er wird als Homosexueller von der puritanischen Gesellschaft ausgestossen, kriminalisiert, in den Selbstmord getrieben.

Wenn man mit Rolf Hochhuth durch die Stadt bummelt oder wenn man ihm vor seinen Bücherwänden gegenübersitzt, fällt es einem schwer, sich zu vergegenwärtigen, wieviele Informationsstränge, Be- und Erkenntnisse in dieser Person zusammenlaufen, an deren konservativem äusseren nichts, aber auch gar nichts verrät, dass sie seit nunmehr 25 Jahren zu einer äusserst unbequemen Instanz des europäischen Gewissens geworden ist. Immer wieder, wenn ich RolfHochhuth begegne, fällt mir Thomas Manns Tonio Kröger ein, diese stark autobiographisch geprägte Figur eines Schriftstellers, der alles daran setzt, möglichst unauffällig, möglichst bourgeois zu erscheinen, wenn ihm als Künstler schon «die Wonnen» eines bürgerlichen Daseins verwehrt sind. RolfHochhuth: Wer selber zu schreiben versuchte, stand ... fassungslos vor der Tatsache, dass ... der sensationell revolutionäre «Tonio Kröger», der ... die Novelle in Deutschland erstmals um den Essay bereichert hatte, ... von einem erst Siebenundzwanzigjährigen geschaffen worden [war], («Täter und Denker») Vielleicht, geht mir manchmal durch den Sinn, vielleicht ist diese äusserliche Unauffälligkeit (neben Kombinationsgabe, Spürsinn, Mut und Geduld) einer der Gründe für Hochhuths Erfolg beim Auffinden von Zusammenhängen und Informationen, die den Betroffenen dann später peinlich und mehr als peinlich sind: Wer könnte diesem harmlosen Mann, dessen ein wenig schiefes Lächeln durch die Perfektion seiner Umgangsformen fast etwas Mitleiderregen des bekommt - wer könnte diesem Gentleman eine Bitte abschlagen, gar eine Information verweigern ...

In Hochhuths bisher einzigem Roman «Eine Liebe in Deutschland» kann der Leser miterleben, wie das zugeht, wenn selbst ein Mann zu reden beginnt, der allen Grund hätte, misstrauisch zu sein, da er durchaus aktiven Anteil hatte am Geschick jenes Polen Stani, den man in einem Steinbruch bei Lörrach wegen «Blutschande» mit einer deutschen Frau 1941 öffentlich erwürgte: Längst führt er (Stackmann) das Gespräch nicht mehr ohne gedächtnisselige Genugtuung. Ist es doch eine Erinnerung an seine grosse Zeit. An Jahre, da viele strammstanden, wenn sie ihn kommen sahen. Obgleich das mit der Geschichte ... nichts zu tun hat, erwähnter oft, dass er keineswegs nur der führende Polizist der Gemeinde war, sondern auch ihr führender SA-Chef...

«Eine Liebe in Deutschland» ist Hochhuths einziges Buch, das dort spielt, wo der Autor seit 25 Jahren wohnt. Obwohl Hochhuth betont, er habe «die Landschaft nicht um ihrer selbst willen geschildert, sondern um die Figuren in ihre Lebenssphäre einzubetten», behaupte ich, dass dieser scharfsinnig zwischen Trauer und Bitterkeit angesiedelte Roman nirgends anders in dieser Form hätte entstehen können. Schon die ersten Zeilen machen dies deutlich: Brombach im Markgräflerland.

Literarisch Lokalkundige kennen dieses Dorf an der Grenze zur Schweiz durch das «Gespräch auf der Straße nach Basel zwischen Steinen und Brombach, in der Nacht»; dies ist der Untertitel, den Hebel seinem Gedicht «Die Vergänglichkeit» gab; vermutlich schrieb er es in Lörrach, dem heute Brombach eingemeindet ist. Im angsterregenden Mondlicht scheint dem Sohn eines Fuhrmanns die imposante Ruine des Schlosses Rötteln «so grauslich wie der Tod im Basler Totentanz». Und zum erstenmal überhaupt aufgerührt von Vergänglichkeits-Angst, stellt der Junge dem Vater Fragen, die den Fuhrmann sagen lassen: «... und mit der Zit verbrennt die ganzi Welt.» Denn die beiden reden alemannisch.

Die wenigen Landschaftsbeschreibungen des Romans gehören zu den besten, die ich kenne. Sie zeigen die Verführungskraft des Idyllischen und lassen zugleich jene Hypothek aus Schuld und Unmenschlichkeit sichtbar werden, die auf dieser heilen Welt lastet.

Im Wald bei Brombach

Wir fuhren abends zu dem sehr stattlichen, oberhalb Brombachs in einen schönen Schwarzwald-Berghang hineingebauten Hof mit großer neuer Reithalle für die über zwanzig, Stackmanns meist nicht gehörenden, doch bei ihnen stehenden Pferde. Es roch betörend nach nassen Wiesen, die wie Himmel und Felder schon zwetschgenblau waren im Vorabendlicht; der Wald war schon schwarz - auf der Heimfahrt würden wir nicht mehr wie noch soeben den Steinbruch zu sehen bekommen ... Die hingeschmiegten Bergwiesen haben weibliche Formen, frauliche Frische in der Abendkühle - ja noch die Farben eines weiten Futtermais-Feldes vor einem kaltweißen Kalkfels und das späte Licht in einer jetzt düster-dunklen Blutbuche genügen schon, wiederum in mir - wie so oft - Bedauern darüber auszulösen, daß es nicht genug sagt, zum Beispiel dieses Landschaftsbild in Worten zu malen oder wenigstens zu zeichnen, sondern daß wir als Vertriebene aus der Natur, was ja nur ein modernes Wort für Paradies ist, eben diesen Steinbruch da unten, den Holunder fast überwachsen hat, gar nicht mehr ansehen können, ohne zu denken, was in ihm Menschen mit einem Menschen angestellt haben.

Von Rolf Hochhuth sind u.a. folgende Werke im Rowohlt Verlag erschienen: Der Stellvertreter, Ein christliches Trauerspiel (1963). - Soldaten, Tragödie in fünf Akten (1967). - Guerillas, Tragödie in fünf Akten (1970). - Die Hebamme, Komödie (1971). - Lysistrate und die Nato, Komödie (1973). - Juristen, Drei Akte für sieben Spieler (1979). - ärztinnen, Fünf Akte (1980). - Judith, Trauerspiel (1984). - Unbefleckte Empfängnis, Ein Kreidekreis (1988). - Eine Liebe in Deutschland, Roman (1978). - Atlantiknovelle, Erzählungen (1985). - Alan Turing, Erzählung (1987).

Ausserdem liegen vor: Täter und Denker, Profile und Probleme von Caesar bis Jünger; Deutsche Verlagsanstalt (1987). - Rolf Hochhuth, Dokumente zur politischen Wirkung, herausgegeben von Reinhart Hoffmeister; Kindler Verlag (1980). - Die Gegenwart, Deutschsprachige Erzähler der Jahrgänge 1900—1960, herausgegeben von Rolf Flochhuth; Verlag Kiepenheuer & Witsch (2 Bände, 1981). - Die zweite Klassik, Deutschsprachige Erzähler der Jahrgänge 1850—1900, herausgegeben von Rolf Hochhuth; Verlag Kiepenheuer & Witsch (2 Bände, 1983).

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1988

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