Beobachtungen am Rande

Franz Osswald

Für sein beachtliches Werk, seinen sorgfältigen Umgang mit der Sprache und die Fähigkeit, menschliches Schicksal atmosphärisch dicht darzustellen, erhielt der Schriftsteller Alain Claude Sulzer den Riehener Kulturpreis 2004.


Sie kennen das. Sie lesen ein gutes Buch, das kurz darauf verfilmt wird. Sie gehen den Film ansehen und das Resultat lautet meist: «Das habe ich mir ganz anders vorgestellt.» Die Welt, die Texte beim Lesen in uns erzeugen, ist immer eine subjektive Wirklichkeit. Sie ist weder richtig noch falsch - sie ist. Texte sind so gesehen wie Bausteine aus denen sich jeder Leser, jede Leserin, jeder Filmemacher und jede Filmemacherin ein eigenes Gedankengebäude erstellt. Eine solche Wirklichkeit, meine Wirklichkeit, die mir die Bücher von Alain Claude Sulzer geschenkt haben, möchte ich mit ihnen teilen, ihnen Einblick in jenes Zimmer meines literarischen Gedankengebäudes gewähren, zu dem der heutige Preisträger das Baumaterial geliefert hat.


Am 12. Dezember 1987 wurde der Text «Die Frau des Architekten» von Alain Claude Sulzer in der «Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder» veröffentlicht. Dass sein Beitrag offenbar nur als brauchbar erachtet wurde, relativiert sich sehr schnell. Nebst Alain Claude Sulzer wurden auch so brauchbare Autorinnen und Autor wie Ingeborg Kaiser, Erica Pedretti, Paul Nizon, Bruno Steiger, Hugo Lötscher, Yvette Zgraggen, Jürg Federspiel oder der in unserer Region ebenfalls nicht ganz unbekannte Urs Allemann berücksichtigt. Dass Alain Claude Sulzer sich in die Liste vieler bereits etablierter Schriftstellerinnen einzureihen vermochte, ist hingegen nicht ganz selbstverständlich, denn sein Erstlingswerk «Das Erwachsenengerüst» erschien erst fünf Jahre zuvor, 1983, sein zweites Buch «Bergelson» 1985. Die erwähnte Zeitschrift heisst übrigens «Wespennest» und widmete sich in besagter Ausgabe der Schweizer Literatur.


Wespennest - Alain Claude Sulzers Bücher sind Wespennester. Wer sie liest, wird bewegt, aufgerührt, angestachelt; das haben wir in unseren Kommissionsdebatten erfahren. Und das ist in gewisser Hinsicht erstaunlich, denn so ortsgebunden und immobil ein Nest zwangsläufig ist, so eng begrenzt sind oft die Bewegungsradien und Handlungsspielräume seiner Protagonisten.


In Alain Claude Sulzers kürzlich erschienenem Roman «Ein perfekter Kellner» beschränkt sich die örtlichkeit hauptsächlich auf das Grand Hotel Giessbach. Erzählt wird die Liebesgeschichte des Kellners Erneste. Erneste, der mit absoluter Hingabe seinen Beruf ausübt, ist wirklich perfekt - aber eben nur als Kellner. In seiner Tätigkeit geht er voll auf, im Privatleben voll unter, auch wenn er vorgibt, mit seinem Leben zufrieden zu sein. In einem Punkt scheint mir das aber nicht zu stimmen: in der Liebe.


Die Thematik, dass ein Mensch sich in einen anderen verliebt, wie es Erneste widerfährt, ist nicht neu. Dass es sich um eine homosexuelle Liebe handelt nicht weniger. Die Liebe auf den ersten Blick, die in vielen Fällen - auch unserem - einem zweiten nicht standhält, wird für Erneste zur Vollendung aller Wünsche und somit scheinbar perfekt. Für seinen Geliebten Jakob Meyer hingegen - der innert kürzester Zeit ebenfalls zum perfekten Kellner avanciert - ist sie ein Anfang, der im wahrsten Sinne des Wortes einen schnellen Fortgang findet: fort von Erneste hin zum reichen Schriftsteller Julius Klinger, von dem sich Jakob aushalten lässt.


Und damit begann für mich - und vielleicht auch für andere Lesende - das, was kaum auszuhalten war: Ernestes jahrzehntelanges, wohlgemerkt klagloses Nachsinnen über den Verlust der vollkommenen Liebe - zumindest in sexueller Hinsicht. Denn Erneste müsste doch irgendwann einmal einleuchten, dass der verlustig gegangene Geliebte charakterlich seinem fixierten und idealisierten, ja verklärten Bild in keiner Weise entspricht. Jakob ist eben, um ein bereits abgegriffenes Bild zu bemühen, ein Traum-Mann, der nur in Träumen oder in unserem Fall im «Nachträumen» zu existieren vermag, für die Wirklichkeit des Lebens aber nicht geschaffen ist.


Und Ernestes sonstiges Privatleben? Perfektion, die per defmitionem eine Weiterentwicklung ausschliesst, bedeutet Stillstand. So gesehen ist Ernestes Privatleben ebenfalls perfekt, denn er tritt vor Ort. Und abgeschlossen ist auch sein Beziehungsnetz. Erneste führt im Grunde genommen ein einsames Leben. Einsamkeit, um hier eine Klammer zu öffnen, ist ein steter Begleiter in Alain Claude Sulzers Werk - wie dies Valentin Herzog in seinem Beitrag im Riehener Jahrbuch 1986 schon anmerkte. Sie ist in «Das Menschengerüst» ebenso anzutreffen wie in «Bergelson» oder als willentlicher Rückzug in die Einsamkeit in «Urmein», Abgeschlossenheit in ihrer irdisch-menschlich absoluten Form, im Tode, ist Gegenstand in «Annas Maske». Klammer geschlossen.


In Ernestes so ausweglos scheinender Situation schreit mir aus Sulzers Text geradezu ein gängiger Slogan aus Wirtschaft und Politik entgegen: «Krise als Chance!» Ich bin gewiss kein Freund solcher platten Verkürzung und Verallgemeinerungen. Doch beim Lesen kam der Moment, in dem ich mich fragte, warum? Warum, vergisst dieser Erneste nicht endlich diesen Charakterlump namens Jakob und sucht sich ein neues Glück auf Erden? - Oder zumindest in seiner eng begrenzten Lebenswelt. Auch, weil Jakob wahrlich ein billiger Jakob ist und Erneste nicht auch noch teuer sein soll.


Ernestes Lebensführung ist nicht nur beengt, sondern wirkt auch beengend. Alain Claude Sulzer versteht es, das Schicksal von Erneste atmosphärisch dicht darzustellen. So dicht, dass es einen bedrückt, ja auf einem lastet. Atmosphäre zu schaffen, ist eine von Alain Claude Sulzers Stärken.


Als Erneste von Schwulenhassern spitalreif geschlagen wird, sind ihm die Hände gebunden, war doch damals Homosexu

alitât noch ein absolutes Tabuthema. Eine Situation, die uns zum Reflektieren anregt, vielleicht über die eigene Lebenssituation, vielleicht sogar über die eigene Handlungsunfähigkeit. Eine wünschbare Reaktion darauf wäre, dass wir in unserem eigenen Leben vermehrt zur Tat schritten und Zivilcourage bewiesen. Eine Anmerkung dazu: Bezüglich Homosexualität fand seit Ernestes Zeit in den Köpfen ein Umdenken statt, Handlung war die Folge, eine vom Volk am 5. Juni angenommene Gesetzesvorlage ihr Resultat. Die Möglichkeit, gleichgeschlechtliche Partnerschaften registrieren zu lassen, ist seit zehn Tagen Realität.


Zum Handeln anregen - genügt das für ein Buch? Muss ein Text nicht mehr hergeben? Ich meine Nein. In «Ein perfekter Kellner» wird die Frage gleich selbst beantwortet: «Es liess sich mit anderen Worten alles, was bereits beschrieben war, noch einmal und anders sagen, denn andere Worte warfen ein neues Licht auf das, was alle sahen und zugleich übersahen. Natürlich musste das, was er glaubte sagen zu müssen, nicht wirklich noch einmal gesagt sein, die Erde würde sich auch weiterdrehen, wenn es ungesagt blieb.» Und trotzdem oder gerade deswegen schrieb Julius Klinger und schreibt Alain Claude Sulzer: damit nicht nur die Erde sich dreht und die Welt sich bewegt, sondern auch wir uns bewegen oder bewegt werden - und sei es nur auf Grund der Sprachästhetik.


Nicht, dass es in Sulzers Werk gänzlich an Handlungen und Umbrüchen fehlen würde. Erneste handelt auch: er erfüllt den Wunsch Jakobs und erpresst den Schriftsteller Julius

Klinger - mit wenig Erfolg und eher gegen seinen Willen. Alte Liebe rostet offenbar nicht.


In «Urmein» ist ebenfalls Veränderung angesagt, aber einmal mehr nicht für die Protagonisten. Während Europa im ersten Weltkrieg einen grundlegenden Wandel erfährt, wendet sich der italienische Graf Galli seinen Erinnerungen zu. Er möchte in der Abgeschiedenheit des Domleschg, genauer im Dorf Urmein, seine alten Tage in illustrem Freundeskreise verbringen. Der Krieg hat draussen vor der Tür zu bleiben, ebenso die sich abzeichnende neue Welt.


Galli und sein Freundeskreis werden, nach einem erfüllten Leben zwar, zu Exponenten einer No-Future-Gemeinschaft, denn ihr Rückzug kommt einem Abschied aus der Welt gleich. Das Potenzial zur Veränderung ist Galli und seinen Freunden nicht mehr gegeben, es liegt aber im Text verborgen. Dessen Kraft wirkt wie eine Induktion, bei der die Energie auf den Gegenpart übertragen wird, auf die Lesenden. Es stellt sich uns die Frage, ob wir denn selbst bereit und fähig sind, auf Neues einzugehen, uns den unvermeidlichen Veränderungen nicht zu verwehren. Denn bekanntlich hat nur Bestand, was sich verändern, oder unpopulär gesagt, anpassen kann - Schengen/Dublin und die Personenfreizügigkeit lassen grüssen. Was sich dem Wandel entzieht, ist dem Untergang geweiht. Die Kraft des Textes soll also gleichsam Treibstoff für die Lesenden sein.


Der Abstand zwischen den zwei sich beeinflussenden, aber sich nicht berührenden Induktionsspulen stellt beispielhaft

das Verhältnis zwischen Leserin/Leser und Erzähltem in Sulzers Werk dar. Egal aus welcher Erzähl-Perspektive die Abhandlung geschildert wird: man fühlt sich stets in beobachtender Position, spürt eine gewisse Distanz, wirft hier einen Blick hin, nimmt dort eine Begebenheit wahr, erfährt dies und das, als ob man durch Räume wandelt - die ja bei Alain Claude Sulzer eine wichtige Rolle spielen -, und Atmosphäre und Geschehen auf sich einwirken lässt.


Alain Claude Sulzers Sprache ist dabei präzis, der Zeit, der Situation und den Umständen entsprechend. Es gäbe viele Möglichkeiten, dies zu zeigen. Ich wähle zwei Beispiele, eines davon, das meine Aufmerksamkeit beim Lesen von «Urmein» auf sich gezogen hat (Seite 186): «Valérie hielt Adolphs Hand fest, und Flavio hätte schwören können, dass sich die Liebenden in dieser Nacht erkennen würden.» Adolph gilt nämlich als Valeries Liebhaber, obwohl - wie man drei Seiten zuvor erfährt - «jeder wusste, dass er ihr bisher nicht näher gekommen war als ein Bruder seiner leiblichen Schwester».


In heutigem Sprachgebrauch würden wir wohl sagen, sie gehen zusammen ins Bett, sie haben Sex oder sie machen Liebe - alles noch brav genug. Nun, es ist wohl klar, dass eine solche Ausdrucksweise in diesem Fall nicht situationsgerecht wäre. Die geschilderte Unberührtheit erinnert mich stark an jene Stelle im Lukasevangelium, wo der Engel Gabriel Maria die Geburt Jesu ankündigt und sie antwortet: «Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?» Auch bei Adolphs ungelenkem Liebesgebaren fragt man sich, wie es geschehen soll, dass er sie erkenne? Das Wort «erkennen» zeugt zudem von einer Zeit, in der die Bibel zuhause noch auf dem Nachttisch lag, wogegen sich ihre Präsenz heute oft auf einen Begriff im heimischen Lexikon beschränkt.


Ganz anders in Sulzers erstem Buch «Das Erwachsenengerüst». Da erzählt ein junger Mann von seiner Kindheit und Jugendzeit in einer Sprache, die in Wortwahl und Satzbau jugendgerecht ist. Sie ist zudem Ausdruck eines Schriftstellers, der sich noch auf der Suche nach seinem Sprachstil befindet. Kein Vergleich zur geschliffenen, präzisen Sprache, wie wir sie in «Ein perfekter Kellner» vorfinden.


Ich zitiere: «Was da so schön geklöppelt wurde in jahrhundertelanger Arbeit, aus. Mampfend reissen sie an den Fasern und verschlingen, tun sich gütlich daran. Sie zerstören rübis und stiibis das ganze herrliche Gewebe. Natürlich sind das nur so Bilder, symbolhaft. Es ist nur eine Frage der Zeit wann. Eines Tages steht das Land in Unterhosen da. Entblösst und unstattlich, nichts weiter als die äussere Hülle eines Sonntagsstaates im Sonntagsstaat, in dem die Motten überhand genommen haben. Ganz blutt.»


Wir sind bei den Kindheitserinnerungen angelangt, was uns die Gelegenheit gibt, mit ein paar nackten - blutten - Zahlen und Daten den Lebensweg des Preisträgers kurz nachzuzeichnen.


Alain Claude Sulzer wurde am 17. Februar 1953 in Basel geboren und wuchs in Riehen auf. Er machte eine Ausbil

dung als Bibliothekar, arbeitete als Journalist und Hörspielautor. Sein Erstlingswerk «Das Erwachsenengerüst» erschien 1983. Es folgte 1985 «Bergelson», 1988 «Das Künstlerzimmer», 1990 «Die siamesischen Brüder», 1998 «Urmein» und 2001 «Annas Maske». Nach einem längeren Aufenthalt in Deutschland lebt Alain Claude Sulzer heute als Schriftsteller in Basel und im Elsass. Sein neuster Roman trägt den Titel «Ein perfekter Kellner», kam im Spätsommer 2004 heraus und erlebt - meines Wissens - bereits die vierte Auflage.


Alain Claude Sulzer erhielt diverse Preise und Auszeichnungen: 1983 den Förderpreis der Stadt Köln, 1984 den Rauriser Literaturpreis, 1988 ein Stipendium des Berliner Senats, 1999 den Preis der Schillerstiftung - und heute, am 15. Juni 2005, erhält er den Kulturpreis 2004 der Gemeinde Riehen.


Meine Damen und Herren, Wilhelm Genazino hat sich in seinem Buch «Der gedehnte Blick» mit dem Thema Kulturpreise und Kulturpreisträger befasst. Er bemängelt, dass nur die vollendeten, ausgefeilten Texte in der Welt der Literaturkritik Beachtung finden und als preiswürdig erachtet werden, nicht aber die missratenen, von denen wohl zahlreiche existierten, die ebenfalls interessant zu lesen wären. Und Genazino stellt einen Vergleich an, den ich ihnen nicht vorenthalten möchte: «Schriftsteller, die immer nur gut austarierte, sozusagen geschminkte Texte veröffentlichen, kommen mir vor wie mein Obsthändler auf dem Wochenmarkt, der die fleckigen, eingedrückten, formlosen Birnen und äpfel und Pfirsiche gar nicht erst auf seinen Tisch ausbreitet.»


Mit diesem Zitat schliesst sich der Kreis meiner Ausführungen, wir stehen wieder am Anfang, beim «Wespennest». «Die Frau des Architekten» erfüllt nämlich Genazinos Anforderungen voll und ganz, handelt es sich doch bei diesem Text um das erste Kapitel eines Romans, der nie fertig geschrieben wurde, und damit - salopp gesagt - um jene «FallobstLiteratur», die Genazino anspricht. Literatur, die zwar (noch) keinen Preis gewonnen hat, aber von der Kritik, wie wir wissen, für brauchbar erklärt worden ist.


Auch in diesem frühen Text ist die Perfektion im Sinne der Abgeschlossenheit schon in übertragener Weise zu erkennen; als Roman ein abgeschlossenes Kapitel und ein abgeschlossenes Kapitel zugleich. Die Zukunft finden wir einmal mehr nicht im Text, aber er beeinflusst sie ausserhalb: Bei Alain Claude Sulzer, für den «Die Frau des Architekten» zu einem der ersten Kapitel auf dem Weg zum erfolgreichen Schriftsteller wurde.


Das Fazit: Sulzers Werk ist für mich zukunftsträchtig im eigentlichen Sinne. Im Schosse der Abgeschlossenheit wächst eine Zukunft heran, die in die Welt der Lesenden hineingeboren wird, um sich dort zu entfalten.


In diesem Sinne gratuliere ich Alain Claude Sulzer zur Verleihung des Riehener Kulturpreises 2004 und wünsche ihm eine «imperfekte» Zukunft. Eine, in der sein Name nicht nur im Wespennest zu finden ist, sondern auch einmal im Basler Literaturführer. Ich danke Ihnen.


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2005

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