Bewegte Bilder gegen die Gleichgültigkeit

Rolf Spriessler

Mit Anna Thommen wurde für das Jahr 2021 erstmals eine Filmregisseurin mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. Im Rahmen der Preisverleihung würdigte Alfred Schlienger das Schaffen Thommens auf herausragende Weise – und viele Weggefährtinnen und -gefährten waren im Publikum.

An der Übergabefeier vom 30. Juni 2022 im Bürgersaal des Gemeindehauses Riehen stand erstmals in der 40-jährigen Geschichte des Kulturpreises Riehen das Filmschaffen ganz allein im Mittelpunkt. Für das Jahr 2005 war zwar der inzwischen erfolgreiche Regisseur Tim Fehlbaum als Jungfilmer zusammen mit der Musikerin Malwina Sosnowski ausgezeichnet worden und für die Jahre 2016/17, gemeinsam mit drei weiteren jungen Kunstschaffenden aus anderen Sparten, der Filmer Ares Ceylan. Aber diesmal war die Feier erstmals ganz dem Medium Film gewidmet und der Kulturpreis ging an die Filmerin Anna Thommen.

Zur gesellschaftlichen Relevanz ihrer Arbeit sprach die Preisträgerin in ihrer Dankesrede gleich selbst: «Ich möchte mit meinen Filmen etwas gegen die Gleichgültigkeit tun. Man kann mit einem Film nicht die Welt verändern. Aber man kann Menschen wach machen, aufrütteln. Man kann Gefühle vermitteln und so erreichen, dass einige Menschen vielleicht nicht mehr so gleichgültig durch die Welt gehen. Das ist mein grosser Wunsch als Filmemacherin.»

Anna Thommen wurde 1980 geboren und wuchs in Maisprach im Kanton Baselland auf. Nach einer Ausbildung zur Primarschullehrerin begann sie 2005 ein Filmstudium an der Hochschule für Design und Kunst in Luzern. Bereits ihr 2008 entstandener 20-minütiger Abschlussfilm ‹Second me›, in welchem sie einen User porträtierte, der sich ganz in einer virtuellen Welt eingekapselt hatte, wurde an über 20 Festivals weltweit gezeigt und gewann zahlreiche Preise.

Anna Thommen ist Mutter von zwei Kindern und lebt seit rund sieben Jahren mit ihrer Familie in Riehen. «Ich brauche die Nähe zur Natur, aber ebenso die Nähe zur Stadt und zur Kultur», begründete sie in einem Porträt der ‹Riehener Zeitung› ihre Wahl. Da sie und ihr Mann beide auf dem Land aufgewachsen seien, hätten sie nach einer grünen und möglichst kinderfreundlichen Umgebung Ausschau gehalten. Und da lande man halt relativ schnell in Riehen. 

SPEZIELLE FIGUREN MIT UNBEGRADIGTEN GESCHICHTEN
Anna Thommen hat sich vor allem dem Dokumentarfilm verschrieben. Sie habe sich für ihre Filme immer sehr spezielle Figuren mit eher komplizierten, unbegradigten Geschichten ausgesucht, sagte der Autor und Kulturjournalist Alfred Schlienger in seiner Laudatio, aber nie stelle sie jemanden bloss, so absonderlich auch einige der Porträtierten auf den ersten Blick erscheinen würden. Thommen interessiere sich immer auf respektvolle Weise für deren Sondersein und Bestreben, sich den Anpassungszwängen unserer Gesellschaft zu entziehen. Dieses besondere Gespür habe sie schon in ‹Himmelhoch betrübt› bewiesen, einem frühen Porträt des inzwischen verstorbenen Muttenzer Waldmenschen Jean-Claude Ankli. Dieser hatte Angebote der Behörden, ihm eine Unterkunft zu besorgen, stets abgelehnt. Thommen gelinge es in ihrem Kurzfilm, dem Publikum den Eigenbrötler mit seinen heiteren Lebensphilosophien näherzubringen, lobte Schlienger.

Im Jahr 2013 erschienen gleich zwei Filme von Anna Thommen. Der 60-minütige Dokumentarfilm ‹Ein Stück Wahnsinn› entstand in Co-Regie mit Gabriela Betschart. Die beiden Filmerinnen begleiteten eine Gruppe psychisch Erkrankter in einem Theaterprojekt, in dem sie sich mutig und mit viel Humor ihren eigenen Abgründen stellten.

Mit dem Langfilm ‹Neuland› schaffte Anna Thommen den Durchbruch. Der 90-minütige Kinodokumentarfilm, mit dessen Rohschnitt Thommen im Januar 2013 ihr Masterstudium in Filmregie an der Zürcher Hochschule der Künste abschloss, wurde zu einem der erfolgreichsten Schweizer Dokumentarfilme überhaupt und gewann zehn Siegerpreise in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz. Für ‹Neuland› begleitete Thommen während zwei Jahren eine Basler Integrationsklasse von Geflüchteten auf ihrem steinigen Weg in eine hoffentlich bessere Zukunft. «Entstanden ist eine sehr einfühlsame Erkundung über das Ankommen in einem fremden Land», sagte Schlienger dazu, und: «Neben den Jugendlichen aus aller Welt wird auch ihr Lehrer Christian Zingg zum Ereignis. Er ist ein unglaublich optimistischer Brückenbauer für diese jungen Menschen.»

BILDER SAGEN MEHR ALS WORTE
Immer wieder gelinge es Anna Thommen, in ihren Filmen passende, einprägsame Bilder zu kreieren. In ‹Neuland› zum Beispiel drehe ein Schüler aus dem Balkan seinem hilflosen afghanischen Tischnachbarn dessen Heft um 180 Grad um, um ihm klarzumachen: Hier schreibt man von links nach rechts und nicht von rechts nach links, wie im Arabischen. «Es fällt kein Wort. Ein kurzes Lachen. Und alles ist drin in dieser Szene – der totale Kulturwechsel, das solidarische Lernen voneinander, die handgreifliche Freude am Begreifen», erläuterte Schlienger, und schloss: «Solche Bilder, die mehr als tausend Worte zu sagen vermögen, muss man einfangen können und sie dann am dramaturgisch richtigen Ort platzieren.» Und genau darin liege das grosse Können von Anna Thommen.

In ‹Volunteer› ist es dann ein kleines Mädchen, das an einem nasskalten Morgen aus einem Zelt kriecht und versucht, in viel zu grosse Erwachsenenschuhe zu steigen. Das war auch eine der Szenen, die im Anschluss der Übergabefeier während des Apéros in einem Zusammenschnitt aus mehreren von Anna Thommens Filmen auf einer Leinwand im Saal zu sehen waren. Mit ‹Volunteer› gewannen Lorenz Nufer und Anna Thommen, die gemeinsam Regie führten, den Basler Filmpreis 2019. Die Idee zum Film hatte Lorenz Nufer, nachdem sein Cousin Michael Räber 2015 zunächst ferienhalber in Griechenland gewesen war und sich spontan entschlossen hatte, länger dort zu bleiben, um den Flüchtlingen auf Lesbos zu helfen. Im Mittelpunkt des Films stehen weniger die Flüchtlinge als vielmehr die Helferinnen und Helfer aus der Schweiz. «Wir wollten zeigen, wie eine solche Hilfsbewegung entsteht, sich entwickelt und immer weiter wächst. Und dass ein Mensch, der anfängt zu handeln, bereits ausreicht, um diese Bewegung ins Rollen zu bringen», sagte Anna Thommen in einem Interview der ‹Basler Zeitung›, als der Film im September 2020 in einem Basler Kino zu sehen war.

In ‹Les nouvelles Èves› werden sechs Frauen porträtiert
– Anlass für den Film, der 2021 Premiere feierte, war das 50-jährige Bestehen des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Als eine von sechs Regisseurinnen erzählt Anna Thommen darin die Geschichte der 44-jährigen Baslerin Naima Cuica, die aus Venezuela stammt und sich von der Kantinenarbeiterin zur Pflegefachfrau hochkämpft. Mit ihr arbeitet Anna Thommen noch weiter für ihr eigenständiges Filmprojekt ‹Naima›. Und ausserdem arbeitet sie an ihrem ersten Spielfilm, ‹Den Stier bei den Hörnern›, für den sie auch das Drehbuch selber schreibt. Es geht um eine Familiengeschichte mit drei Generationen, die stark aus den eigenen biografischen Wurzeln schöpft. Auch hier bleibt sie also dem Dokumentarischen treu, auch wenn sich dieses nun erstmals mit Fiktionalem mischt.

EMANZIPATIONSGESCHICHTEN UND TEAMARBEIT
«Im Kern sind alle Filme von Anna Thommen immer auch Emanzipationsgeschichten», resümiert Alfred Schlienger. Es gehe um ein sich Freimachen von Zwängen, ein Aufbegehren auch gegen den Wahn, dass es nur eine Form des «richtigen Lebens» geben solle. Und sehr wichtig sei der Regisseurin das Teamwork, sowohl mit den Darstellerinnen und Darstellern als auch mit allen Beteiligten auf dem Set und bei der Produktion.

Dies bestätigte Anna Thommen gleich selbst, als sie im Anschluss an die Preisübergabe, die durch Gemeinderat Stefan Suter erfolgte, viele ihrer Weggefährtinnen und Weggefährten namentlich erwähnte, die auch fast alle persönlich anwesend waren. «Film ist ein Gesamtkunstwerk eines ganz grossen Teams. Jeder Einzelne in diesem Team ist sehr wichtig für mich. Ich wähle mir meine Teammitglieder auch danach aus, wie weit sie sich mit dem jeweiligen Thema beschäftigen, sodass wir zusammen etwas Grosses kreieren können.» So bedankte sie sich als Erstes bei Gabriela Betschart, ihrer Kamerafrau der ersten Stunde, mit der sie für den Waldmensch-Film in Jean-Claude Anklis Garten gezeltet und gefilmt habe. «Das war eine so gute Zusammenarbeit, dass diese Verbindung bis heute Bestand hat, weil Gabriela und ich uns ohne Worte verstehen. Sie weiss immer, was ich denke oder will, wir haben eine ähnliche Wahrnehmung.» Severin Kuhn begleite sie als Kameramann seit ihren Anfängen. Zusammen mit Gabriela Betschart und Severin Kuhn habe sie auch studiert.

An Lorenz Nufer, den Co-Regisseur von ‹Volunteer›, gewandt sagte sie: «Noch nie habe ich mit jemandem eine so gute Streitkultur gehabt wie mit dir.» Ihre Produzentin Judith Lichtneckert lobte sie als eine, die für ihre Projekte kämpfe wie eine Löwin. Weiter ging es mit Mirjam Zimmermann, die für ein neues Projekt den Schnitt mache, sowie den Tontechnikern Wendelin Schmid-Ott, David Rehorek und Patrick Becker. Victor Moser und Fabian Gisler dankte sie für die unglaublich gute Filmmusik in ‹Volunteer›, Adrian Pfisterer für die Filmmusik in ‹Second me› und ‹Les nouvelles Èves›, Hannes Rüttimann für die Farbkorrektur und dem Trio David Schwarz, Simon Hauser und Fanny Oppler für Grafik und Plakate bei ‹Neuland› und ‹Volunteer›. Mit Christian Zingg – dem Lehrer in ‹Neuland› – und Ileana Heer Castelletti – eine der freiwilligen Helferinnen in ‹Volunteer› – erwähnte Anna Thommen auch Mitwirkende aus ihren Filmen, die zur Feier gekommen waren. Und sie entschuldigte die Hauptdarstellerin ihres Filmprojekts ‹Naima›, die sich krankheitsbedingt habe abmelden müssen. Und dann wand sie Sabine Gisiger ein Kränzchen. Sie sei selber eine ganz tolle Filmerin und habe sie als Dozentin bei der Realisierung ihrer Abschlussfilme ‹Second me› und ‹Neuland› ganz grossartig begleitet. Da passte ganz gut dazu, dass zur Umrahmung der Feier Anna Thommens Mann David Schwarz und Pascal Grünenfelder auf der Bühne standen, die auch Musik aus den Filmen vortrugen. 

Dass Alfred Schlienger die Laudatio hielt, war nicht ganz zufällig, denn die von Herbert Matthys präsidierte Kulturpreis-Jury hatte es Anna Thommen selbst überlassen, sich ihren Laudator auszusuchen. Und da hatte sie sich an ein prägendes Erlebnis erinnert, das bereits 24 Jahre zurücklag. Damals leitete Alfred Schlienger ein grosses Schultheaterprojekt. Nach einer Aufführung habe er sie zur Seite genommen und ihr eindringlich gesagt, sie müsse unbedingt weitermachen und dranbleiben mit ihrem Riesentalent. Aufgefallen war sie ihm als Schauspielerin mit unglaublichem Improvisationsvermögen. Dass sie letztlich nicht bei der Schauspielerei gelandet sei, sondern hinter die Kamera gewechselt habe, darüber sei er ganz froh, meinte Schlienger in seiner Laudatio, denn als Darstellerin wäre sie tendenziell Material gewesen für Geschichten, die andere erzählten – als Regisseurin sei sie nun aber Autorin ihrer eigenen Geschichten.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2022

zum Jahrbuch 2022