Blut und Tinte – das Gedächtnis des Gemeindespitals


Sibylle Obrecht Lösch 


Die historischen Patientenakten aus dem Gemeindespital Riehen erzählen viele 
Geschichten über die medizinische Praxis, aber auch über das Alltagsleben der Patientinnen und Patienten. Sie sollen deshalb der Forschung zugänglich gemacht werden.


Still ist es auf dem Dachboden und auch ziemlich staubig – der Kontrast zum geschäftigen Treiben in einem gut belegten Spital mit seinen desinfizierten Räumen ist gross. Wer ins Dachgeschoss des heutigen Gesundheitszentrums hinaufsteigt, findet dort viel Papier: Über Jahrzehnte haben die Mitarbeitenden des Riehener Spitals die alten Unterlagen in den fünften Stock hinaufgetragen. Auch nach der Schliessung des Gemeindespitals lagern dort noch über tausend Ordner mit Patientenakten. Die Unterlagen datieren zurück in die 1890er- und reichen bis in die 1980er-Jahre.1 Sie erzählen von Blessuren und Erkrankungen, die für die allermeisten Betroffenen längst nicht mehr aktuell sind. Für laufende Behandlungen werden diese Akten nicht mehr benötigt – dass sie nicht dem Reisswolf übergeben wurden, ist ein Glücksfall, denn sie bilden einen wichtigen Teil des Gedächtnisses der kommunalen Institution, die seit Ende 2009 nicht mehr existiert. 


Freuden und Leiden chronologisch geordnet 

Wer im schummrigen Licht in den Unterlagen blättert – sofern die strengen personenschutzrechtlichen Auflagen dies überhaupt zulassen –, erliegt schnell der Faszination der Aufzeichnungen: Amüsiert liest man den Eintrag in einem rund 100 Jahre alten Registerbuch, der einem Neugeborenen anstelle einer Krankheit einfach «Freude am Leben» attestiert, und irritiert stösst man beim Blättern auf herausoperierte Nadeln, die sozusagen als Corpus Delicti direkt in die Unterlagen geklebt wurden. Oft klappt man eine Krankengeschichte auch verstört wieder zu, wenn sie einen daran erinnert, wie fragil und wenig selbstverständlich die eigene Existenz ist – die Aufzeichnungen dokumentieren zwar unzählige Genesungen, sie zeugen aber auch von grossem Leid durch unheilbare Krankheiten und schwierige Lebensumstände.


Über mehr als 100 Laufmeter reiht sich Akte an Akte: Knappe Aufzeichnungen zu Bagatellunfällen stehen neben ausführlichen Berichten zu langwierigen Erkrankungen mit tödlichem Ausgang, unzählige Fieberkurven und Laborberichte neben Angaben zu den Lebensumständen der Behandelten. Ohne Register verliert man sich rasch im Dickicht aus Einzelinformationen. Zum Glück ist zumindest ein Teil der Patientenakten in dicken, handgeschriebenen Folianten verzeichnet, die eine gezielte Suche nach bestimmten Personen, Krankheitsbildern oder Berufszugehörigkeiten ermöglichen. Ein Teil der Register lagert ebenfalls im Gesundheitszentrum; die Verzeichnisse aus dem 19. Jahrhundert sind bei der Kommunität Diakonissenhaus Riehen (KDR) archiviert, zusammen mit weiteren Dokumenten, die aufschlussreiche Einblicke in die Spitalgeschichte ermöglichen, darunter einer Auswahl an älteren Krankengeschichten und vielen Fotos. 


In der Gesamtschau wird deutlich, wie gross das Einzugsgebiet des Diakonissenspitals war, das 1973 durch die Gemeinde Riehen übernommen und entsprechend umbenannt wurde.Längst nicht alle Patientinnen und Patienten stammten aus Riehen; neben einer beachtlichen Zahl an stationär Behandelten aus der Region Basel reisten insbesondere im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert auch viele aus dem südbadischen Raum an. Abhängig von der politischen und ökonomischen Situation, überstieg ihr Anteil in einzelnen Jahren ein Drittel der behandelten Personen. Angesichts der geringen Grösse und der – zumindest aus Schweizer Perspektive – peripheren geografischen Lage des 1852 gegründeten Spitals beeindruckt nicht nur das Einzugsgebiet, sondern auch die grosse Bandbreite an Therapien, die auf die spezielle Funktion der Institution zurückzuführen ist: Das Diakonissenspital war als Lehrspital für angehende Schwestern gegründet worden und verstand sich nicht primär als Institution für die lokale Grundversorgung, die sich auf Routinefälle konzentrierte. Komplexe Eingriffe – darunter ab den 1880er-Jahren auch anspruchsvolle Operationen an den Gallenwegen oder an der Schilddrüse – sollten die Diakonissen optimal auf ihre künftige Tätigkeit an anderen Spitälern vorbereiten. 


Spitalgeschichte ist auch Lokalgeschichte 

Kaum jemand dürfte bestreiten, dass die Geschichte des Diakonissen- und späteren Gemeindespitals interessant ist. Doch will die Nachwelt tatsächlich wissen, dass Frau Y im Dezember 1965 am Blinddarm operiert wurde? Lohnt es sich, sämtliche Unterlagen aufzubewahren, auch die vielen Krankengeschichten von den 1920er- bis in die 1980er-Jahre? «Ja, es lohnt sich», fasst die Medizinhistorikerin Iris Ritzmann von der Universität Zürich ein Gutachten zusammen, das die Gemeinde in Auftrag gegeben hat.«Es gibt nur wenige Allgemeinspitäler, die eine ähnlich dichte Überlieferung vorweisen können. Die meisten Schweizer Spitäler haben, wenn überhaupt, nur eine Auswahl an Krankengeschichten aus dem 20. Jahrhundert aufbewahrt. Dass in Riehen so viel erhalten geblieben ist, ist ein Glücksfall», unterstreicht sie die nationale Bedeutung des Bestands. Sie verweist aber auch darauf, dass dieser für lokal- und sozialhistorische Perspektiven fruchtbar gemacht werden könnte.


Tatsächlich zeichnet sich beim Blättern in den Registern und Akten ab, wie eng die Geschichte des Spitals mit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Geschichte Riehens und seiner näheren Umgebung verwoben war. So verweist zum Beispiel die Krankengeschichte eines ehemaligen polnischen Zwangsarbeiters, der im Jahr 1945 auf der Flucht über die Grenze angeschossen und anschliessend in Riehen gesund gepflegt wurde, auf die exponierte Lage des Spitals. Aber auch weniger spektakuläre Fälle sind aus lokalhistorischer Perspektive interessant. So kann man aus den Krankengeschichten erfahren, wie sehr die Lebensumstände und Berufe viele Menschen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein physisch forderten und gefährdeten – wenn die Unterlagen Angaben zu den Unfällen von Handwerkern oder Bauern oder zu Erschöpfungszuständen von Arbeiterfrauen enthalten, ergeben sich Einblicke in den Alltag in Riehen und der Region Basel.


Ein Archivraum im Geistlich-Diakonischen Zentrum 

Bis ins Jahr 2019 ist der integrale Erhalt der historischen Patientenakten garantiert. Die Gemeinde Riehen wird im kommenden Jahr in Zusammenarbeit mit der KDR im Geistlich-Diakonischen Zentrum, das derzeit im älteren Flügel des ehemaligen Spitalgebäudes entsteht, einen Archivraum einrichten. Dort sollen – betreut von der Dokumentationsstelle der Gemeinde Riehen – möglichst viele spitalbezogene Unterlagen zusammengeführt und interessierten Forschenden zugänglich gemacht werden. Die Riehener Spitalgeschichte ist so interessant wie wenig erforscht – der neue Archivraum bietet hoffentlich genug Anreiz, diese Lücke bald zu schliessen. 

 

Strenge Schutzfristen

Auch wenn sie für aktuelle Behandlungen nicht mehr benötigt werden, enthalten die Unterlagen aus dem Diakonissen-/Gemeindespital besonders schützenswerte Personendaten. Das Archivgesetz des Kantons Basel-Stadt schützt die Interessen der ehemaligen Patientinnen und Patienten sowie ihrer Nachkommen, indem es den Zugriff auf die Unterlagen stark einschränkt und Schutzfristen festlegt.4 Diese orientieren sich an einer Kombination von Faktoren, nämlich dem Entstehungsdatum der Unterlagen sowie den Lebensdaten der ehemaligen Patienten. Unterlagen, die noch der gesetzlichen Schutzfrist unterliegen, dürfen nur zugänglich gemacht werden, wenn ein schriftlich begründetes Einsichtsgesuch an die Gemeinde Riehen vorliegt und dieses bewilligt wird. Diese Regelung gilt nicht für die ehemaligen Patientinnen und Patienten selbst: Sie können Einsicht nehmen, sofern ihre Krankenakte ohne längere Suchaktion auffindbar ist.

Blutige Skizzen

Weil die Nahrung und das Trinkwasser besonders wenig Jod enthielten, litten in Riehen und im Wiesental bis ins 20. Jahrhundert hinein vergleichsweise viele Menschen an einer vergrösserten Schilddrüse, einem sogenannten Kropf. Nicht zuletzt aufgrund dieser lokalen Besonderheit wagten sich die Chirurgen des Diakonissenspitals bereits in den 1880er-Jahren an die operative Entfernung dieser Kröpfe. Die anspruchsvolle Schilddrüsenchirurgie entwickelte sich zum Spezialgebiet des Spitals. Patientinnen und Patienten aus der ganzen Schweiz und Europa reisten nach Riehen, um sich hier behandeln zu lassen.5
In den erhaltenen Patientenakten sind Tausende dieser Operationen dokumentiert. Um angesichts der zeitweise beachtlichen Zahl an Eingriffen nicht zu viel Zeit bei der Anfertigung der Operationsskizzen zu verlieren, entwickelten die Riehener Chirurgen eine eigenwillige Dokumentationsmethode: Bis in die 1980er-Jahre pressten sie die entfernten Organe wie Stempel direkt in die Krankengeschichte und ergänzten diese durch Skizzen.

1 Diejenigen Patientenakten aus dem Gemeindespital, die aus der Zeit nach 1998 stammen, lagern im Luftschutzkeller des Gesundheits-zentrums.
2 Zur Geschichte des Diakonissen-/Gemeindespitals vgl. Michael Raith: Das Dorfspital in Riehen, in: z’Rieche 1998, S. 13–25; Ludwig Georg Courvoisier: Ärztliche Mitteilungen, in: J. J. Kaegi (Hg.): Eben Ezer. Das Diakonissenhaus Riehen 1852–1902. Mitteilungen aus der Geschichte seines Werdens und Wirkens, Riehen 1902, S. 185–194; Emmanuel Veillon: Ärztliche Mitteilungen, in: Karl Stückelberger (Hg.):
Neues «Eben Ezer». Das Diakonissenhaus Riehen in seinem Werden und Wirken 1852–1927, Riehen 1927, S. 210–221; Fritz Hoch (Hg.): Hundert Jahre Diakonissenanstalt Riehen 1852–1952, Riehen 1952.
3 Gudrun Kling / Iris Ritzmann / Eberhard Wolff: Gutachten für die Gemeinde Riehen über das Archiv des ehemaligen Gemeindespitals,
Typoskript, Zürich 2011.
4 Gesetz über das Archivwesen (Archivgesetz)
des Kantons Basel-Stadt vom 11. September 1996, § 10.
Peter Nussberger: Der Kropf und seine Bedeutung für Riehen, in: z’Rieche 1998, S. 27–35.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2012

zum Jahrbuch 2012