Das 9. Kantonalturnfest beider Basel in Riehen

Kurt Schaubhut

Die Bezeichnung «Fest» hat heute in Anbetracht der Vielzahl von Anlässen, für die es in Anwendung gebracht wird, nicht mehr den Wert und Inhalt, den es einmal besass. Nur noch verhältnismässig wenige Veranstaltungen sind es, bei denen dieses Wort zu seiner tieferen und eigentlichen Bedeutung gelangt, wo es über den Alltag hinaushebt, wo eine festliche Atmosphäre spürbar wird und neben den feierlichen, erhebenden Akzenten die Verbundenheit innewohnt und ein natürlicher Frohsinn sichtbar wird.

Wohl die eindrücklichste Bestätigung, dass das 9. Kantonalturnfest beider Basel vom 14./15. und vom 20.—22. Juni 1975 in Riehen diesem Ausdruck gerecht wurde, war der Schlussakt dieses über zwei Wochenende dauernden Anlasses. Als über 1000 in blau gekleidete Turnerinnen ein Meer rhythmischer Bewegung voll Anmut und Beschwingtheit auf den grünen Rasenteppich der Grendelmatte zauberten und sich anschliessend die Turner mit ihren Fahnen mit den Reihen der Turnerinnen zu einem monumentalen Bild vereinten, gab es unter den Tausenden von Zuschauern kaum jemand, der sich dem überwältigenden Eindruck dieses faszinierenden Geschehens entziehen konnte. Worte vermögen nicht, diesen festlichen Höhepunkt zu fassen. Vielleicht waren die Tränen der Ergriffenheit, die man in vielen Augen glitzern sah, ein stiller, ungewollter Ausdruck dieser Empfindung.

Eine Fülle sportlicher Wettkämpfe, Vorführungen, Demonstrationen und festlicher Anlässe wurden im Rahmen dieses Kantonalturnfestes dargeboten. Es würde zu weit führen, sie alle zu erwähnen. Wir müssen uns daher auf das wichtigste Geschehen dieses grossen sportlichen Ereignisses beschränken.

Eine glückliche Synthese

15 Spezialkomitees hatte das Organisationskomitee des TV Riehen als Veranstalter unter seinem Präsidenten Peter Degen gebildet, um in monatelanger minutiöser Kleinarbeit die riesigen Vorbereitungen zu treffen, die für dieses Ereignis erforderlich waren.

Erstmals in der Geschichte der Kantonalturnfeste waren die vier Kantonalturnverbände vereint, d. h. Frauen BL und BS sowie Männer BL und BS feierten nicht mehr getrennt, sondern demonstrierten Sport in beeindruckender Geschlossenheit. Dieses erstmalige «Miteinander» gehörte sicher mit zu den hervorstechendsten Eigenschaften und Erlebnissen, man denke nur an den vorerwähnten imposanten Schlussakt, der über 2000 Turner und Turnerinnen vereinte.

Das Turnfest war durch die Vielfalt des gebotenen Sports mit Leichtathletik, Kunstturnen, Gymnastik, Trampolin, Spiele verschiedener Art, Nationalturnen mit Ringen und Schwingen, dem faszinierenden Sektionsturnen, herrlichen Gruppenvorführungen der Frauen, Ausschnitten zur Gymnaestrada sowie einer zu Herzen gehenden Demonstration «Mutter und Kind» eine umfassende Dokumentation dessen, was Sport umfasst, was er den Menschen zu bieten vermag und sein kann. Die überwältigende Breitenarbeit, das überwinden der Trennung zwischen den Generationen im Mittun von den Jüngsten bis zu den ältesten und die Erkenntnis, dass Spiel und Sport für Frauen ein unersetzlicher Ausgleich bedeutet, wurden zu einem weiteren Reichtum. Schlussendlich wurde das Wissen jedes einzelnen um das Miteinbezogensein in das grosse Ganze — ungeachtet seiner Leistung — mit zu einem Teil der Lebensfreude, die dieses Fest immer wieder auszustrahlen verstand. Dass sportlicher Einsatz und Leistungsstreben sich mit Feiern, Frohsinn und Gemütlichkeit nicht ausschliessen, sondern zusammengehören, zeigten die in das Geschehen integrierten festlichen Anlässe.

Priorität Sport

Eingeleitet wurde dieses Turn-Fest nicht mit einem sonst allgemein üblichen Festakt, sondern seinem Inhalt entsprechend, mit sportlichen Wettkämpfen. Erst nach einem sportlich arbeitsreichen Tag der Leichtathleten, der Kunstturner und der Gymnastik fand man sich am Samstagabend, 14. Juni, im rund 2000 Personen fassenden Festzelt zu einem ersten unterhaltsamen Abend zusammen. Der Art des Festes angemessen, enthielt er neben unterhaltsamen Darbietungen auch eine sportliche Note durch die Vorführung der Turnerinnen der Gymnastikgruppe des TV Gundeldingen.

Oekumenischer Gottesdienst

Zu einem ersten Höhepunkt wurde am Sonntagmorgen, 15. Juni, der Oekumenische Gottesdienst und die anschliessende Feier der Weihe der neuen Fahne des Turnvereins Riehen. War dieser Oekumenische Gottesdienst nur eine Einstreuung in das allgemeine sporliche Programm auf Grund von Gepflogenheit und überlieferung? Wer diesen Gottesdienst miterlebt hat und das, was die beiden Geistlichen, Vikar Knöpfel von der röm.-kath. und Pfarrer Schubert von der evang.reformierten Kirchgemeinde, aufgrund des Pauluswortes 1. Kor. 9 ausführten, in sich wirken liess, für den waren sie mehr als nur eine religiöse Zeremonie. Neben das einfach zu sehende und abzusteckende Ziel des Sportes müsse ein Ziel für das Leben treten, das unvergänglich sei und neben dem nötigen Training für den Körper müsse das Training für die Seele Platz haben. Mit einem Lied und dem gemeinsamen Gebet fand die erhebende Stunde ihren Abschluss, an deren würdigem Charakter der Musikverein Riehen grossen Anteil hatte.

Erhebende Fahnenweihe

Nicht weniger feierlich, wenn auch in anderer Form, war die Weihe der neuen Fahne des TV Riehen, die sich dem Oekumenischen Gottesdienst anschloss.

Mit der Gründung im Jahre 1882 erhielt der TV Riehen auch seine erste Fahne. Nach 28 Jahren bewegter Vereinsgeschichte wurde diese Fahne 1910 durch eine neue ersetzt. 37 Jahre lang war dann dieses Symbol dem Turnverein ein treuer Begleiter und erlebte bis 1947 die Zeit, die für den TV Riehen wohl zur erfolgreichsten zu zählen ist. 1947 wurde die Fahne eingeweiht, die nun durch die neue Fahne ersetzt wurde. Sie begleitete den Verein, wie die erste Fahne, 28 Jahre lang und war auch Vorbild zur Gestaltung ihrer Nachfolgerin.

Es war ein ergreifender Augenblick, als die alte Fahne, begleitet von blau-weiss gekleideten Ehrendamen, in die Grendelmatte einzog, gefolgt von der neuen, noch verhüllten Fahne und der sie begleitenden Patensektion des TV Bettingen. Der Präsident des TV Riehen, Willi Geering, würdigte in einer kurzen Ansprache die Bedeutung der Fahne, worauf F. Mettler und H. Nebiker, Mitglieder der Fahnenkommission, feierlich die neue Fahne entrollten und sie dem Präsidenten übergaben. Sie lehnt sich in ihrer Gestaltung eng an ihre Vorgängerin an und zeigt in ihren geschwungenen Linien symbolisch die Bewegung, in die auch das Auf und Ab des Vereinslebens einbezogen ist. Eine Fahne, verständlich in ihrem Ausdruck und bestechend in ihrer Wirkung. Mit der übergabe der Fahne an den Fähnrich HR. Bärtschi, und dem symbolischen Gruss der alten an die neue Fahne, fand dieser feierliche Akt seinen würdigen Abschluss.

Menschliche Begegnung

Ein Anlass besonderer Art bot das erste Treffen der Kranzgewinner vom zweiten Kantonalen Turnfest, das 1935 auf der Schützenmatte in Basel stattfand. Dieses Wiedersehen nach 40 Jahren gehört mit zu den festlichen Gelegenheiten, die eine von den Aufgaben erfüllte, die Vikar Knöpfel im Oekumenischen Gottesdienst als das Zueinanderführen der Menschen bezeichnete. Rund 80 von 116 Eingeladenen fanden sich am Sonntagmorgen im Festzelt ein. Dieses Wiedersehen wurde nicht nur zu einem in turnerischem Geist und Freude gehaltenen Austausch von Erinnerungen, sondern auch zu einer wertvollen Begegnung von Menschen, die viele Jahre ihres Lebens ihrem Idealismus nachlebten, der wohl in den vier F, frisch, fromm, fröhlich und frei, seinen kürzesten und treffendsten Inhalt findet.

Festliche Musik

Der Bericht wäre unvollständig, würde man den musikalischen Beitrag, insbesondere des Musikvereins Riehen unter Leitung von Musikdirektor Walter Häfeli, nicht einfügen. War die Musik zum Oekumenischen Gottesdienst und bei der Fahnenweihe schon ein wesentlicher Bestandteil, so gab das Frühschoppenkonzert des Musikvereins diesem Sonntagmorgen noch eine besondere Note. Man darf wohl zu Recht sagen, dass diese Stunde mehr war als ein «Frühschoppenkonzert». Es war ein festliches Konzert, das nicht nur köstliche musikalische Darbietungen in allen Varianten bot, sondern durch die gekonnte meisterliche Aufführung Stimulanz war zu froher, belebender Feststimmung.

Während all dieser Festlichkeiten, mit Ausnahme des Gottesdienstes, lief das sportliche Geschehen programmgemäss weiter. Es waren vor allem die Spiele der Frauen mit Korbball, Faustball und Volleyball, die diesem Kantonalturnfest eine neue Note gaben. Die Leichtathletik mit ihren vielen Disziplinen beeindruckte sowohl auf den modernen Anlagen der Grendelmatte wie auch auf dem eigens dafür hergerichteten Nebenplatz des «Eisweihers». Grosses Interesse fanden auch die Kunstturner und Kunstturnerinnen mit ihren gekonnten übungen. Das erste Festwochenende klang mit einem Tanzabend aus, zu dem die Hardwaldmusikanten die passende Musik boten.

Sport als Gemeinschaftsidee

Das zweite Festwochenende vom 20.—22. Juni 1975 stand ganz im Zeichen der Riegen- und Sektionswettkämpfe, der Wettkämpfe im Nationalturnen, der Demonstrationsspiele, des Turnens «Mutter und Kind», der Vorführungen der Jugend und des Männerturnens sowie als Höhepunkt und sportlichen Abschluss die allgemeinen übungen der Turnerinnen mit dem Aufmarsch zur Rangverkündigung. Eingebettet in dieses sportliche Non-Stop-Programm waren die festlichen Veranstaltungen.

Festlicher Akzent im Dorf

Der Empfang der Kantonalfahnen am Samstag, 21. Juni, festlicher Mittelpunkt im grossen sportlichen Geschehen, zog erstmals auch den Dorfkern Riehens in das Turnfest ein. Auf dem mit Fahnen und Blumen hübsch geschmückten Platz vor dem Gemeindehaus erwartete Gemeindepräsident G. Kaufmann mit dem Gemeinderat, den Ehrengästen, unter ihnen Regierungsrat Schneider, sowie den Delegationen der Turnverbände die Kantonalfahnen von Baselland und Basel-Stadt. Von den adrett in gelb gekleideten Pratteler und den in blau-weiss gekleideten Riehener Ehrendamen flankiert, mit dem Musikverein Riehen an der Spitze und gefolgt von den OK-Präsidenten von Pratteln und Riehen, den Fahnendelegationen sowie der Aktivitas des TV Riehen, traf der kleine Festzug mit den beiden Kantonalfahnen im Zentrum ein.

Gemeindepräsident G. Kaufmann begrüsste die Gäste und stellte in launigen Worten fest, dass Riehen wohl jenseits des Rheines liege, der Dialekt aber dem des Baselbietes, wie man leicht feststellen könne, nicht fremd sei. Gelänge es, durch den Sport Lebensfreude zu vermitteln, sei eine seiner Hauptaufgaben erreicht. Mit dem Dank an alle, die sich des Sportes annehmen und mit ihrer Arbeit zum Gelingen dieses Festes beigetragen haben, schloss der Gemeindepräsident seine mit starkem Applaus aufgenommene Ansprache.

Ein Ehrentrunk mit Riehener «Schlipfer» leitete über zu den gehaltvollen Worten von H. Koch, dem OK-Präsidenten des letzten «Kantonalen» von Pratteln. Peter Degen, Riehener OK-Präsident, schloss die Reihe der Ansprachen, indem er auf die Bedeutung der Fahne und die Synthese zwischen körperlicher Ertüchtigung und geistigen Werten hinwies. Ein Marsch und ein kleiner Festzug mit den Ehrengästen durch die leider nur schwach besetzten Strassen des Dorfes in Richtung Grendelmatte beschloss diesen festlichen Akt.

Beeindruckendes Sektionsturnen

Erlebte das Dorf mit dem Empfang der Kantonalfahnen einen kleinen festlichen Ausschnitt, der bei der Bevölkerung leider nur ein bescheidenés Echo fand, so wickelte sich auf Riehens Sportanlage wohl die spannendste Phase im sportlichen Sektor ab. Das Sektionsturnen der Vereine aus Basel-Stadt und Baselland sowie den Gastsektionen bot Leistungen in so vielfältiger Art, dass die Wahl fast zu einer Qual wurde. Hier Körperschulung in vollendeter Form, dort Sektionen im leichtathletischen Kampf oder im Kunstturnen an den Geräten, dazu das Ringen und Schwingen der Nationalturner und die graziöse Beschwingtheit von Gymnastikabteilungen der Frauen. Wenn wir in diesem Bericht aus Raumgründen keine Resultate veröffentlichen, so darf im Riehener Jahrbuch doch festgehalten werden, dass der TV Riehen mit dem Höchstresultat von 89 Punkten in seiner Kategorie den 1. Rang erreichte und damit den ersten Kranz im Sektionsturnen an seine neue Fahne heften durfte.

Abgeschlossen wurde dieser ereignisreiche Samstag mit einem grossen Tanz- und Unterhaltungsabend, und neben all den andern erstklassigen Darbietungen war es vor allem die Dorados Show Band, die für eine gelöste, freudige Stimmung sorgte, ein vielversprechender Auftakt zum letzten Festsonntag.

Glanzvoller letzter Tag

Sonnenschein, das unentbehrliche Attribut für ein derartiges Fest, sorgte schon am Sonntagmorgen für eine Atmosphäre, die sich, je weiter der Tag seinem Höhepunkt zuschritt, von Stunde zu Stunde steigerte. Dies schien auch nötig, hatten doch die übrigen Tage nicht immer die Stimmung und das Interesse erbracht, die man eigentlich hätte erwarten können. Während auf dem herrlich grünen Rasen die letzten 26 der total 82 Sektionen um die wertvollen Punkte kämpften und man über dem Trampolin akrobatische Saltos und Drehungen bewundern konnte, waren es im festlichen Teil die Veteranen, die den Reigen der Empfänge eröffneten. Diese Ehrung der Veteranen, eine ebenso würdige wie sinnvolle Aufgabe, leitete über zum Empfang der Ehrengäste.

Ein Fest dieser Grössenordnung entbehrte des Rückhaltes, würde die Sache des Sports und der Turner nicht auch von den gewählten Regierungs- und Parlamentsvertreter getragen und die Verbundenheit durch deren Anwesenheit dokumentiert. Die Liste der Ehrengäste wäre zu gross, als dass wir alle namentlich erwähnen könnten. Sie alle konnten sich im Laufe dieses Sonntags davon überzeugen, dass sie ihre Unterstützung einer guten und verdienstvollen Sache angedeihen lassen.

Festlicher Abschluss

Wenn wir an den Beginn dieses Berichtes über das Kantonalturnfest, das erstmalig Frauen und Männer in überzeugender Weise zu einer Einheit werden liess, den beherrschenden Schlussakt der über 1000 Turnerinnen und über 1000 Turner stellten, so dürfen wir ihn wiederum mit diesem überwältigenden Höhepunkt beschliessen. Das Bild, das die Einheit von Turnerinnen und Turnern in Riehen darboten, wird unvergesslich bleiben als ein Dokument der Kraft, der Schönheit und der gesunden sportlichen Betätigung, aber auch der Gemeinschaft und als Beispiel dafür, dass der Idealismus und die Hingabe für eine gute Sache auch heute noch zu begeistern vermögen. Eine Dokumentation auch, dass Sport heute kein gesellschaftliches Aussenseitertum mehr darstellt, sondern zu ihrem festen Bestandteil zählt.

Riehen erlebte in diesen Tagen ein Fest, das, wenn auch die Beteiligung der Bevölkerung da und dort zu wünschen übrig liess, zu Recht als eines der eindrucksvollsten in die Ortsgeschichte eingehen wird.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1975

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