Das andere Riehen

Barbara Imobersteg

Sozialer Wohnungsbau: was ist das eigentlich? Die Erörterung eines vielschichtigen Themas mit einem Blick auf die Geschichte.

Sozialer Wohnungsbau - ein vordergründig leicht verständlicher Begriff. Wer ihn genau erfassen will, stösst jedoch auf unterschiedliche Definitionen und Vorstellungen, die weitere Fragen nach sich ziehen. Assoziationen werden geweckt von der einfachen und ordentlichen Dienstwohnung über Wohngettos, wo kein Baum wächst, bis zu Abbruchhäusern mit provisorischen Unterkünften auf unbestimmte Zeit. Passend dazu die Bilder zur Bewohnerschaft: kinderreiche Familien, Arbeiter und Angestellte mit geringem Einkommen, aber auch sozial Unangepasste und soziales Elend.

Und wer ist eigentlich zuständig für diesen sozialen Wohnungsbau? Handelt es sich hier um eine staatliche Massnahme - Sache des Bundes, der Kantone oder der Gemeinden? Nimmt die private Bauwirtschaft eine soziale Aufgabe wahr oder sind Hilfswerke und karitative Institutionen engagiert? Die verschiedenen Aspekte widerspiegeln die Vielschichtigkeit des Themas, sind geprägt durch die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus mit den ihm anhaftenden wiederkehrenden Problemen und Krisen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten die fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung in Europa zu einschneidenden Veränderungen bei den bisherigen Wohnformen. Die Etagenmietwohnungen fanden mehr und mehr Verbreitung. Gegen Ende des Jahrhunderts waren bereits der grösste Teil der städtischen Haushalte Mietwohnungen. Viele Arbeiter mit kleinen Einkommen und hohen Mieten lebten in sehr engen Wohnverhältnissen. Zuwanderung und Bevölkerungswachstum verschärften die Situation. Die Fortschritte in Medizin und öffentlicher Hygiene erreichten die arme Wohnbevölkerung vorerst nicht. Im Gegenteil: Zu den ungesunden Arbeitsbedingungen in den Fabriken kam die ungesunde Unterkunft hinzu. Verschiedene Gesellschaftskreise forderten ein Eingreifen des Staates.

In Basel ab 1872 ein Thema In Basel wurde erstmals 1872, im Anschluss an eine öffentliche Versammlung auf der Schützenmatte, eine Petition an den Regierungsrat eingereicht. Nur durch den Bau von Wohnungen durch den Staat selbst könne der Wohnungsnot gründlich und auf Dauer abgeholfen werden, wurde darin kundgetan. Die Regierung erklärte, es sei nicht Aufgabe des Staates, mit seinen Mitteln zugunsten einzelner Klassen einzutreten, und lehnte jede Intervention ab.

In den folgenden Jahrzehnten sah man jedoch menschenwürdiges Wohnen für alle zunehmend als staatliche Aufgabe an. In verschiedenen Städten wurden Wohnunter suchungen durchgeführt. Neu gegründete Arbeiter- und Mietervereine ergriffen die Initiative und forderten Wohngesetze und billige Staatswohnungen. Kaum war man sich einig, dass es tatsächlich eine «Wohnfrage» gab, entbrannte die Diskussion um die «richtigen» Massnahmen zur Verbesserung der Situation. Je nach Standpunkt wurden der Wohnungsnot unterschiedliche Ursachen zugrunde gelegt wie zu hohe Bodenpreise durch Baulandspekulation und Zurückhaltung von benötigtem Bauland, zu hohe Kreditkosten, aber auch zu niedrige Löhne der Mieterschaft sowie bauliche Mängel, vernachlässigte Instandstellungen durch Hausbesitzer oder Mieterschaft.

Entsprechend vielfältig fielen die Reformvorschläge aus. Zäh verliefen die Verhandlungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen. Die Zuständigkeit wurde weitergereicht. Nach Einreichung der ersten Petition vergingen in Basel 47 Jahre, bis der Grosse Rat 1918 eine Vorlage für die Erstellung von sechs Wohnhäusern mit 57 Wohnungen am Sägergässlein genehmigte.

Hieronymus Bischoff war Inhaber der «Bank Bischoff zu St. Alban», als langjähriger Parlamentarier engagiert im Bau- und Verkehrswesen und der erste Präsident der Diakonissenanstalt in Riehen.

Sozialer Wohnungsbau als staatliche Aufgabe blieb bis Mitte des 20. Jahrhunderts ein Thema auf kantonaler Ebene. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Bevölkerungszahl schnell zu. Die Hochkonjunktur brachte eine Zuwanderung auswärtiger Arbeitskräfte mit sich. Der Mangel an Backsteinen und Ziegeln sowie an Arbeitskräften im Baugewerbe bremste den dringend angesagten Wohnungsbau. Der Bund unterstützte vorrangig die Handelsund Gewerbefreiheit. Nicht der Wohnungsbau, sondern industrielles und gewerbliches Bauen wurde gefördert. Die Bewilligungspflicht für den Abbruch bestehender Bauten war aufgehoben - Mehrfamilienhäuser wurden zu Geschäftshäusern. Bundesbeiträge an den sozialen Wohnungsbau wurden nur zögernd gewährt.

Zunehmende Obdachlosigkeit Private Initiative in Riehen In Riehen nahm der soziale Wohnungsbau mit einer privaten Initiative seinen Anfang. Die Ehegatten Hieronymus Bischoff und Dorothea Respinger errichteten 1860 eine Stiftung, in die sie zwei Häuser an der Oberdorfstrasse einbrachten. Laut Stiftungszweck sollten dort «rechtschaffene, wohlbeleumdete und ordnungsliebende, aber unvermögliche Leute» eine Wohnung erhalten können.

Der Kanton Basel-Stadt hatte mit akuter Wohnungsnot zu kämpfen. Er ergriff alle erdenklichen Massnahmen, um der steigenden Obdachlosigkeit zu begegnen wie dem Einbau von Notwohnungen in den Dachgeschossen bestehender Liegenschaften und die Unterbringung in Hotels, Lagerhallen und Baracken. Auch in der Taubstummenanstalt Bettingen sollten sechs Notwohnungen eingerichtet werden. Selbst die Beanspruchung von Schulhäusern und Kasernen wurde geprüft. In seinem Ratschlag vom September 1946 machte der Regierungsrat die Förderung des sozialen Wohnungsbaus zur Zielvorgabe.

Zehn Jahre später war nicht mehr der Mangel an Backsteinen und Neubauten das Thema, dafür aber das fehlende Angebot an billigen Wohnungen. Die günstigen Altwohnungen waren abgerissen oder teuer saniert worden. Die Knappheit von geeignetem Bauland und steigende Baukosten erschwerten die Erstellung von Wohnungen zu erschwinglichen Mietpreisen. In einem Ratschlag vom September 1958 erkannte der Regierungsrat das Wohnproblem als «soziales Problem erster Ordnung» und postulierte einmal mehr - die Förderung des sozialen Wohnungsbaus.

Die Gemeinde sieht Handlungsbedarf Mitte der 50er-Jahre sah sich auch die Gemeinde Riehen zum Handeln veranlasst. Seit 1947 war der Gemeinderat wiederholt ersucht worden, Massnahmen zu prüfen, um Minderbemittelten zu günstigem Wohnraum zu verhelfen und Obdachlosigkeit zu verhindern. Der Gemeinderat war vorerst der Meinung, dass Subventionen Sache des Kantons seien und die Gemeindebeiträge an die Bischoff-Stiftung zur Milderung der Wohnungsnot genügten. In seiner Antwort auf einen Anzug verwies er auch auf die Knappheit an gemeindeeigenem Bauland.

1959 erhielt Riehen jedoch von der Bürgergemeinde Basel ein Stück Bauland im Baurecht am Hirtenweg. Dort wurden sodann die ersten Kommunalwohnungen erstellt. Es folgten weitere Projekte. Bis Ende der 70er-Jahre verfügte die Gemeinde über sieben Liegenschaften mit günstigen Wohnungsangeboten. Mittlerweile war die «überalterung» in Riehen ein Thema geworden. Mit einer kinderund familienfreundlichen Politik sollte eine gesunde Bevölkerungsentwicklung unterstützt werden. Dabei erkannte der Gemeinderat die Vergrösserung und Verbilligung des Wohnungsangebots als wichtigste Massnahme. Doch die Erweiterung des kommunalen Wohnungsbaus erachtete er als problematisch.

Die Gruppe von Privilegierten, deren Mieten durch Steuergelder reduziert werden, wachse damit an. Die Mieten auf dem freien Wohnungsmarkt würden unterboten, was wiederum die private Investitionsfreudigkeit beeinträchtige. In der Folge konzentrierte sich die Gemeinde auf die Unterstützung privater Initiativen und die Förderung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus durch Baurecht- und Landabgabe zu günstigen Bedingungen sowie mittels Gewährung von zinslosen Darlehen und Subventionen.

Gemeinde bietet günstigen Wohnraum an Die Wohnungsfrage kehrte immer wieder. Im Sozialleitbild des Gemeinderats von 1999 ist festgehalten, «dass günstiger Wohnraum für wenig bemittelte Bevölkerungskreise ein ausgeprägtes Problem darstellt. Die Gemeinde könnte mit einer entschlossenen Wohnbaupolitik den erwähnten Bevölkerungskreisen mehr beistehen und damit Fürsorgeabhängigkeit verhindern.» Die Förderung von günstigem Wohnraum für Einkommensschwache ist als Ziel formuliert. Und unter «Massnahmen» wird aufgeführt: «Die Gemeinde bietet selbst günstigen Wohnraum an und vermietet diesen gezielt an wenig bemittelte Bevölkerungskreise.» Sie fördert zudem den privaten Bau von günstigen Wohnungen unter der Auflage von günstigen Mietzinsen. Neue Projekte konnten bis anhin nicht verwirklicht werden.

Welche Angebote stehen den «wenig bemittelten Bevölkerungskreisen» in Riehen zum heutigen Zeitpunkt zur Verfügung?

Die Gemeinde verfügt über sieben Mehrfamilienhäuser: Ecke Baselstrasse/Erlensträsschen, Ecke Lörracherstrasse/ Brünnlirain, Rössligasse 32, 33/35, 43/45 und 66, Rainallee 43/45 und Hirtenweg 16-28. Rund 130 Wohnungen können angeboten werden. Im Sinne einer familienfreundlichen Wohnungspolitik hat der Gemeinderat für die Vermietung spezielle Richtlinien erlassen. So ist eine Einkommenslimite festgesetzt und eine «Kopfzahlbeschränkung». Es gilt das Prinzip: Anzahl Personen +1 = Anzahl Zimmer. Die Gemeindeangestellten haben als Wohnungsanwärter Vorrang und dürfen eine etwas höhere Einkommenslimite ausweisen. Die begehrten Wohnungen stehen nie leer - die Wartelisten sind voll.

Zu den günstigen Genossenschaftswohnungen ist der Zugang in den letzten Jahren eher leichter geworden. Da der Wohnraumbedarf immer grösser wird, haben diese meist klein konzipierten Wohnungen an Attraktivität verloren. Mittlerweile sind die strengen Statuten teilweise gelockert worden, sodass nun auch Einelternfamilien, unverheiratete Paare und Ausländer Aufnahme finden. Für die Wohnhäuser der Riehener Stiftungen gelten mehr als nur Richtlinien zur Vermietung. Ihr Zweck ist urkundlich festgelegt: günstigen Wohnraum erhalten und Einkommensschwachen zur Verfügung stellen.

Die Joseph-Oberle-Stiftung vermietet an der Niederholzstrasse 64, 66 und 68 21 Wohnungen. Die Hälfte des Liegenschaftsertrags geht an Ausbildungsbeiträge - und damit wird ein weiterer Stiftungszweck erfüllt. Die Bischoff-Stiftung Riehen hat Hausbesitz an der Oberdorfstrasse 4, 32 und 34 sowie am Stiftgässchen 9 mit 28 Wohnungen. In den stiftungseigenen Häusern finden auch Mieterinnen und Mieter Aufnahme, die auf Betreuung oder Unterstützung in anderen Lebensbereichen angewiesen sind. So sind in den Vorständen Fachleute des Sozialwesens vertreten.

Mietzinsbeiträge als weitere Möglichkeit Eine weitere Möglichkeit, günstig zu wohnen, ist durch die kantonalen Mietzinsbeiträge gegeben. Dazu berechtigt sind allerdings nur Familien oder allein Erziehende mit Kindern sowie Rentenberechtigte, die seit zehn Jahren im Kanton wohnhaft sind. Die Beiträge sind einkommens- und vermögensabhängig.

Schon in den Anfängen des sozialen Wohnungsbaus in der Schweiz und anderen europäischen Ländern wurden die eingeleiteten Massnahmen auf zwei verschiedene Zielgruppen ausgerichtet: einerseits auf «Kleinverdiener», Arbeiter und Angestellte, die mit einer Eigenleistung zur Bezahlung von Mieten und Wohneigentum beitragen konnten, und andererseits auf die «Zahlungs- und Leistungsunfähigen», die nach den Prinzipien der Fürsorge unterstützt werden sollten.

Der Begriff «Sozialwohnung» wird indessen beiden Gruppen zugeordnet, auch wenn es sich im einen Fall um gemeinde- oder staatseigene Wohnungen handelt, die zu moderaten Mietpreisen auf dem offenen Wohnungsmarkt angeboten werden, und im anderen Fall um staatliche Notwohnungen für Obdachlose. Letzteres Angebot ist auch in Riehen zu finden. 1947, zur Zeit der grössten Wohnungsnot in Basel, erstellte der Kanton am Rüchligweg 77 Notwohnungen. Das Baudepartement war mittlerweile dazu übergegangen, anstelle behelfsmässiger Lösungen eine grössere Anzahl permanenter Notwohnungen einzurichten. Man rechnete mit einer Belegung auf längere Zeit.

Um schnell, einfach, billig und möglichst ohne die Mangelware Backstein bauen zu können, kam ein völlig neues Konstruktionssystem zur Anwendung: der Durisolbau. Als Baustoff dienen «Holzspan-Mantelsteine», die auf der Basis von Holz und Zement hergestellt werden. Dass die verbilligte Bauweise keine lange Lebensdauer verhiess, konnte man für ein Provisorium in Kauf nehmen. Doch wie so oft dauern Provisorien etwas länger. 1959 kamen am Hirtenweg weitere 18 Notwohnungen in derselben Bauweise hinzu.

Bei unmittelbar bevorstehender Obdachlosigkeit und nachgewiesener erfolgloser Wohnungssuche auf dem freien Wohnungsmarkt kann sich, wer im Kanton Basel-Stadt wohnhaft und angemeldet ist, um eine Notwohnung bewerben. Bei der Zuteilung werden Familien mit Kindern bevorzugt. Die Verwaltung obliegt dem Amt für Miet- und Wohnungswesen. Eigentlich ist dieses Angebot als übergangslösung für die Betroffenen konzipiert, um eine momentane Notsituation zu überbrücken. Die Not bleibt aber oftmals ein Leben lang bestehen. Auf die Strasse gestellt wird aber niemand. Nach zwei Jahren Wohnhaftigkeit in Riehen ist das Riehener Sozialamt für allfällige finanzielle Unterstützung zuständig. Im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen leistet das Sozialamt bei Fürsorgeabhängigkeit auch die Mietzinszahlungen. Die Höhe der Miete ist jedoch beschränkt. Eine Dreizimmerwohnung für drei oder vier Personen sollte beispielsweise nicht mehr als 1300 Franken kosten.

Es ist indessen nicht unmöglich, in Riehen Wohnungen zu solchen Bedingungen zu finden. Sie liegen meist dort, wo das schöne, ruhige und grüne Dorf etwas verborgen ist. Zum Beispiel an der Lörracherstrasse. Und nach wie vor bevorzugen viele Riehener Einwohnerinnen und Einwohner mit geringem Einkommen diese Wohnlage gegenüber einem Umzug in die Stadt.

Quellen: Wenger, Rudolf: Wohnungsnot und kommunaler Wohnungsbau in der deutschen Schweiz Juan Rodriguez-Lores: Sozialer Wohnungsbau in Europa Gemeindearchiv

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2003

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