Das Hörnli-Museum Den Tod nicht verdrängen

Simone Burgherr

Peter Galler, Konservator einer ungewöhnlichen Sammlung von Bestattungsgegenständen, leistet mit seiner Arbeit einen mutigen Beitrag dazu, dass wir lernen, ungezwungener mit dem Sterben umzugehen.

 

Der Tod gehört für Peter Galler zum Alltag. Als einstiger Grabmachermeister war er bei sämtlichen Erdbestattungen auf dem Hörnli mit dabei, hob die Gräber aus, liess den Sarg hinunter. Alltäglich wird der Tod für ihn aber nie. Jedesmal ging es ihm nahe, wenn er einen jungen Menschen beerdigen oder einer Mutter den Sarg aus den Händen nehmen musste. «In solchen Momenten die richtigen Worte zu finden, ist ungemein schwierig. Ich leide selbst ja auch mit.» Manchen Kollegen hat er an dieser Aufgabe zerbrechen sehen. Warum er es ausgehalten hat, weiss er auch nicht recht. Vielleicht, vermutet er, weil er schon mit zehn Jahren seinen Vater verloren hatte. «Das formt dich irgendwie. Ich bin nicht fromm, ich bin Realist im Leben. Aber ich habe schon früh gelernt, dass der Tod zum Leben gehört.»

Seit 1960 arbeitet Peter Galler auf dem Hörnli. Nach einer Gärtnerlehre bei Breitenstein in Riehen fand er eine Stelle in der Friedhofsgärtnerei. Bleiben wollte er nicht. «Ich bin einfach unmerklich hinübergerutscht.» Als Junge hatte er davon geträumt, Flugzeugmechaniker zu werden. «Anstatt in die Lüfte abzuheben, hat es mich halt in den Boden verschlagen.»

Als eine seiner ersten Arbeiten sollte Peter Galler alle Grab- und Bestattungsgegenstände, die im Friedhofskeller gelagert waren, zertrümmern. Sie stammten grösstenteils aus den drei zwischen 1870 und 1880 erbauten Basler Friedhöfen Kannenfeld, Horburg und Wolf, die mit der Hörnli-Eröffnung 1932 weitgehend geschlossen worden waren. Er brachte es kaum über sich. Das sei doch noch Handwerk, Kulturgut, dachte er, so was finde man heute gar nicht mehr. Deshalb bewahrte er die schönsten Sachen auf. Wofür? Das wusste er nicht.

Ein Museum fürs Herz

Aus der Nostalgie von gestern ist im Laufe von über dreissig Jahren die erste und einzige Sammlung von Objekten der Sepulkralkultur in der Schweiz entstanden. Vor fünf Jahren konnte Peter Galler im ehemaligen Krematorium ein Museum eröffnen. Wer über die Museumsschwelle tritt, dessen Blick fällt als erstes auf kunstvolle, schmiedeiserne Grabkreuze, die an einer der Längswände hängen. «Ich wollte ein Museum fürs Herz machen, nicht ein Totehüsli», sagt Peter Galler. Man solle über die ausgestellten Sachen staunen und sich nicht ängstigen.

Die älteren Grabkreuze weisen prachtvolle Verzierungen auf: Engel, Maria mit Jesuskind, goldene Inschriften. Später werden sie unprätentiöser und strenger. Alle aber müssen die Gräber gutbetuchter Verstorbener geschmückt haben. Einfachen Leuten waren schlichte Holzkreuze vorbehalten, die heute nicht mehr erhalten sind.

An der gegenüberliegenden Längswand sind in Vitrinen unterschiedlichste Urnen zu bewundern. «Wir haben über hundert verschiedene Urnen, wir können gar nicht alle zeigen», sagt Peter Galler sichtlich stolz. Eine seiner liebsten Urnen kommt aus Davos. Ein Lehrer fertigte sie während der Wintermonate an, als er eingeschneit war, und verkaufte sie ans Lungensanatorium. Dort starben auch junge Basler. Und so kam diese Urne aufs Hörnli. Die ältesten Basler Urnen stammen aus dem Jahr 1898. Seit 1932 gibt es die normierten Hörnli-Urnen. Selbstverständlich dürfen Angehörige aber eigene Urnen mitbringen. Auch ausländische Urnen sind darunter, aus ägypten beispielsweise, Budapest, Argentinien oder Simbabwe, die alle den Weg aufs Hörnli fanden. Je nach Gegend und Zeit sind die Urnen ganz verschieden gestaltet. Jene aus San Francisco oder Los Angeles etwa sind aus Blech, die aus dem Zweiten Weltkrieg, wo es nur fürs Nötigste langte, aus schwarzbemaltem Weissblech. Da gibt es aber auch Urnen aus den neunziger Jahren, die aussehen wie eine Maggibiichse oder eine Kaffeedose von Eduscho. «Wir kremieren jetzt seit hundert Jahren», so Peter Galler, «und man merkt, wie der Mensch immer weniger wert wird. Die Urnen sind ein Spiegel unserer Zeit.»

«Erzählungen sind mein Wissensschatz»

Besonders stolz ist der Museumsgründer auf seine Haarbildchen. Vor allem in der katholischen Innerschweiz war es einst Brauch, Verstorbenen Haare abzuschneiden und daraus etwa eine Trauerweide zu flechten. Die Knaben erhielten eine Uhrkette aus den Haaren der Mutter, Mädchen ein Armband oder einen Ring. All diese Objekte sind über hundert Jahre alt. Die meisten bekam Peter Caller von Museumsbesuchern. «In letzter Zeit kommt vieles so rein. Es spricht sich allmählich herum. Man hat noch einiges daheim, weiss aber gar nicht, was es ist.» Wir könnten uns die damalige Zeit überhaupt nicht mehr vorstellen, meint Peter Galler. «Sterben ist ein Bereich, der einen wahnsinnig raschen Wandel durchgemacht hat.» Von den alten Traditionen und Bräuchen sei aber kaum mehr etwas erhalten. Peter Galler lebt von den Erzählungen älterer Leute. «Das ist mein Wissensschatz.» Unlängst habe eine Frau ihm erzählt, wie sie als Kinder auf dem Friedhof die Krällelikränze plünderten, um daraus für sich Halsketten zu machen. Damals gab es noch nicht wie heute überall bunte Glasperlen zu kaufen. Noch heute plagt jene Frau deswegen ein schlechtes Gewissen.

Zu allem weiss Peter Galler eine Geschichte oder eine amüsante Anekdote. So auch zu dem Bildchen, das über den Urnen hängt. Eines Tages rief ihn eine Frau an, sie hätte da eventuell etwas für ihn. Was genau, wusste sie nicht. Der Gegenstand lag oben auf einem Schrank, und der Pfarrer hatte verboten, ihn anzusehen. Jeden Palmsonntag segnete er das Ding, und ihr Mann durfte es abstauben, ohne aber einen Blick darauf zu werfen. Als Peter Galler auf die Leiter steigen wollte, fiel die Frau betend auf die Knie, und er tat es ihr gleich. Und fand dann oben jenes Bildchen. Es wurde 1906 von Sargträgerinnen zum Lod einer jungen Frau gestiftet und zeigt ein Blumengesteck.

«Zuerst bezahlte ich oft Lehrgeld»

Peter Galler hat sich all sein Wissen selbst angeeignet. «Zuerst musste ich oft Lehrgeld bezahlen, ich war ja ein völliger Laie. Ich behaupte nicht, ich würde heute durchblicken, ich verstehe einfach etwas mehr.» überall ging er auf Friedhöfe, um auszukundschaften, was dort anders ist und was er mit den Augen heimnehmen könnte. Er befragte Leute, forschte in den Archiven. So stiess er auch auf das Meisterstück des ersten Basler Bestattungsunternehmers. Die früheren Sargschreiner gingen zu den Verstorbenen nach Hause, oder die Angehörigen brachten den Leichnam in die Schreinerei. Und die Särge wurden alle nach Mass gefertigt. 1907 wollte Schreiner Constant Matthey ein Bestattungsunternehmen gründen, wie wir das heute kennen. Das Prüfungsstück, das er unter den gestrengen Augen der Zunftherren vorlegen musste, ist heute im Museum zu bestaunen. Der 120 Kilo schwere Zinnsarg wurde ganz von Hand fabriziert. In den dreissiger Jahren kamen die reichen Amerikaner in die Schweiz und mit ihnen auch besonders kitschig ausstaffierte Särge - etwa jener schwarze Holzsarg, der mit seinem Glasdeckel, dem purpurroten Samtboden und all den weissen Spitzen und Rüschen geradewegs dem Märchen von Schneewittchen entstammen könnte.

Mit den Autos verschwanden die Rössliwagen

Gleich am Eingang zum Keller steht der erste von fast zwanzig pferdegezogenen Leichenwagen, die Peter Galler in alten Werkstätten, Abstellhallen oder bei Trödlern in der ganzen Schweiz aufgespürt hat. Mehrere Leichenwagen können aus Platzgründen gar nicht ausgestellt werden. So auch jener, mit dem General Henri Guisan zu Grabe gefahren worden war. Auf einen Fernsehbericht hin tauchte der Basler Leichenwagen auf, den Peter Galler jahrelang gesucht hatte. «Dass ich den erwischt habe, ist für mich der absolute Hammer.» Die meisten Leichenwagen waren in einem «himmeltraurigen Zustand, verfallen, vergammelt, voller Hühnermist». Peter Galler hat sie alle wieder auf Vordermann gebracht. Und nun stehen sie schwarzglänzend und ebenso elegant wie damals in den Kellerräumen des Museums und vermitteln so noch eine Ahnung jener Festlichkeit und Würde, die den Tod ehedem umgeben hatten. Mit dem Aufkommen der Autos in den dreissiger Jahren verschwanden die Rössliwagen. «Man sagte sich: Wenn ich schon im Leben nie ein Auto haben konnte, will ich wenigstens im Tod einmal darin fahren.»

Die Rössliwagen fielen natürlich viel mehr auf als die schwarzen Leichenautos. Der Sarg lag sichtbar auf dem Wagen, der Kutscher sass würdevoll auf seinem Kutscherbock. Was heute so diskret wie möglich vor sich gehen muss, war früher ein festlicher Anlass, fast ein Spektakel. Der Trauerzug zog durch die halbe Stadt, an jeder Ecke standen von der Familie des Verstorbenen bezahlte Klageweiber, die herzergreifend jammerten. Kaum war der Trauerzug ausser Sicht, rannten sie durch die Gärten und Hinterhöfe, tauschten blitzschnell Hüte und Häubchen, Taschen und Körbe und standen dann als ganz andere Frauen an der nächsten Ecke, um den Anschein zu erwecken, die halbe Stadt trauere um den Toten. «Wenn wir heute im Süden oder in einem islamischen Land solche Klageweiber sehen, machen wir uns darüber lustig», meint Peter Galler. «Dabei vergessen wir ganz, dass es das bei uns vor gar nicht so langer Zeit auch gab.»

Auf Beerdigungen ging es früher meist hoch zu und her. Man trank gerne einen über den Durst, überhockte. Irgendwann wurde es dem Ross zu dumm, und es trabte mit angezogenen Handbremsen allein nach Hause in den Stall. Es gibt darum kaum einen Leichenwagen ohne Schleifspuren, bei einem sind die Räder durch bis aufs Holz.

«Ich fühlte mich oft allein und unverstanden»

Bis Peter Galler sein Museum eröffnen konnte, sollten mehr als dreissig Jahre vergehen. Von den Kollegen als Spinner belächelt, schleppte er die gesammelten Sachen von einem Ort zum andern, lagerte sie im Keller, in Werkstätten, in seinem eigenen Büro. «Früher musste man sich bei mir zwischen aufeinandergestapelten Leichenwagen hindurchschlängeln.» Diese Zeit zerrte an den Nerven, es gab Momente, wo er am liebsten aufgegeben hätte. Er wisse nicht, ob er das heute noch einmal machen würde, meint er. «Es ist verrückt, jahrelang allein zu arbeiten, ohne zu wissen wofür. Du fühlst dich allein und unverstanden, hast einen Haufen Ideen und Sachen und kannst nichts damit anfangen.» Warum hat er dennoch weitergemacht? Peter Galler hebt ratlos die Schultern: «Ich wollte nie ein Museum eröffnen, wirklich nicht, ich bin da einfach hineingeschlittert.» Irgendwann werde man umgepolt. «Man sucht, findet, repariert, beginnt plötzlich zu sehen, was alles noch fehlt, was man unbedingt haben muss. Dann kannst du gar nicht mehr anders als weitermachen.» Wenn er mit seiner Arbeit nur einem Menschen helfen könne, den Tod eines Angehörigen besser zu verwinden, «dann hat sich das alles gelohnt».

Als Peter Galler vor fünf Jahren grünes Licht für sein Museum erhielt, war er nicht mehr zu bremsen. Innerhalb von nur sieben Monaten erfolgte der Umbau des Krematoriums, in dem das Museum eingerichtet werden sollte. «Das war eine irrsinnige Arbeit, ich war quasi nonstop dran.» Weil es an allen Ecken und Enden an Geld fehlte, musste Peter Galler mit ein paar Kollegen zusammen alles allein machen: die alten öfen herausreissen, Lüftungen einbauen, elektrische Leitungen legen, Heizungen installieren. «Wir waren ständig am Improvisieren, wir waren ja alle keine Fachleute.» Seine Frau habe zwar oft geseufzt, er sei ein Spinner, ihm sei nicht mehr zu helfen. Trotzdem brachte sie ihnen nachts um zwei eine Thermoskanne Kaffee.

Wichtig war Peter Galler, das Innere des ehemaligen zwischen 1928 und 1932 erbauten und 1985 geschlossenen Krematoriums möglichst originalgetreu zu erhalten. «Der Charakter und die Würde dieses Ortes sollten nicht verlorengehen.» Authentizität wird durch die Lücke in einer der Längswände vermittelt: Hier wurden früher die Särge in den Ofen gestossen. Am Boden sind noch die Stellen markiert, wo die Särge zu stehen hatten. Russ an einer der Fensteröffnungen erinnert ebenfalls an die einstige Funktion des Gebäudes.

«Wir sind auf dem richtigen Weg»

über 1600 Interessierte besuchen das Museum jährlich. Dies entschädigt Peter Galler für die ausbleibende Anerkennung von offizieller Seite. Von Kanton und Gemeinde habe er noch keinen roten Rappen gesehen, meint er. So muss er mit weniger als zweitausend Franken im Jahr auskommen. Selbst im Basler Museumsführer ist sein Lebenswerk nicht erwähnt. Doch das ist für Peter Galler nur Ansporn, noch besser zu werden, zu zeigen, was das Museum für die Schweiz wert ist. Denn zufrieden ist er noch lange nicht. Er hat genaue Vorstellungen, wie er das Museum ausbauen will.

Vor Jahresfrist hat Peter Galler mitgeholfen, einen europäischen Verband der Friedhofsmuseen, die «European Fédération of Funeral Museums», zu gründen. Es gibt lediglich sechs Friedhofsmuseen: in Budapest, Hamburg, Kassel, Wien, London und eben Riehen. «Unseres kann sich im Vergleich mit den andern wirklich sehen lassen», befindet Peter Galler. Er wirft einen langen Blick durch die Räume und meint nachdenklich: «Wir sind auf dem richtigen Weg, man sieht es nur noch nicht ganz.»

Das Museum ist jeden ersten und dritten Sonntag im Monat von 10 bis 16 Uhr geöffnet. Separate Führungen werden auf Anfrage gerne organisiert.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1999

zum Jahrbuch 1999