Das jüdische Heim La Charmille in Riehen

Hanna Schüler

31. Januar 1942. Tagebuchnotiz: «Heute haben sich sechs Herren zu einer ersten Vorbesprechung über die Gründung eines jüdischen Altersheims im Bureau von Herrn Dr. iur. Lucien Levaillant getroffen. Da das Problem akut geworden ist, werden wir morgen abend nochmals zusammenkommen...

6. Oktober 1942 im bis zum letzten Platz besetzten Zug von Annemasse nach Chambéry im unbesetzten Frankreich: Der Zug hält an; bewacht von Gendarmen werden acht aneinander gekettete Juden in ein Abteil des nächsten Wagens geführt. Auf Anfrage erzählt man uns, diese Menschen würden in das Lager Rivesaltes im Süden des Landes gebracht, um von da aus den Deutschen übergeben zu werden ...»

Diese beiden Kurznotizen illustrieren in prägnanter Weise die Situation und die Atmosphäre, welche zum Teil die Gründung des Jüdischen Altersheims in Basel motiviert haben. Wir befinden uns mitten im Zweiten Weltkrieg; die Sozialarbeit in der Basler jüdischen Gemeinde läuft wie auch in andern Schweizer Städten auf Hochtouren; im Sommercasino ist eine große Küche installiert, welche die mittellosen, unter Arbeitsverbot stehenden Emigranten und Flüchtlinge verköstigt; Nachrichten über Deportationen von Juden, Notschreie um Einreisevisen in unser Land gehören zum täglichen Brot.

Das andere Motiv ist uralt. «Ehre deinen Vater und deine Mutter» wird im Dekalog1 zweimal gefordert. «Vor einem grauen Haupte sollst Du aufstehen und du sollst ehren das Antlitz eines Alten» lesen wir im Buch Leviticus2. «Zedaka» — Wohltun — bewahrt die Welt vor dem Verhängnis, steht in unseren Gebeten. Bei dieser Auffassung war es selbstverständlich, daß unsere Alten, von Kindern und Enkeln geehrt, ihren Lebensabend im Kreise der Familie verbringen konnten. Im Mittelalter mit seinen Verfolgungen wurde dies anders. Die Juden wurden zerstreut, die Familien auseinandergerissen und dezimiert. Krankenhäuser und Heime für die alten Menschen wurden erstellt und die Judenheit jener Zeit sah sich vor einer schweren sozialen Aufgabe. Bereits damals bemühte man sich, das Altersheim nicht zu einem Armenhaus werden zu lassen. Die Heime führten den Namen «Hekdisch», d. h. Heiligtum, und diese Bezeichnung hat sich in gewissen Gegenden Westeuropas bis heute erhalten.

Das erste jüdische Altersheim in der Schweiz wurde 1903 im aargauischen Lengnau eröffnet, wo damals noch ein blühendes jüdisches Gemeindeleben herrschte. Während den darauffolgenden Jahrzehnten schien es der Nachfrage genügen zu können. In Basel befaßte man sich seit 1937 mit der Gründung eines eigenen Altersheimes. Da es an finanziellen Mitteln fehlte, mußte das Projekt zunächst wieder in die Schublade gelegt werden. Langsam wurde jedoch die Frage der Unterbringung von älteren schweizerischen und in unserem Lande wohnenden ausländischen Juden brennend. Der Retter in der Not war Dr. iur. Lucien Levaillant, Vorsitzender der Alphonse- und Eugénie Levy-Wohlfahrtsstiftung. Nach einer letztwilligen Verfügung von Frau Eugénie Levy war diese Stiftung für wohltätige Zwecke im Jahr 1940 errichtet worden. Seit ihrem Bestehen hatte sie viel Gutes getan, bedürftige jüdische Familien im Einvernehmen mit der Israelitischen Fürsorge unterstützt und jährlich nennenswerte Vergabungen ausgerichtet. Nach der Evakuierung des jüdischen Altersasyls in Hegenheim zu Beginn des Zweiten Weltkrieges drängte sich der Gedanke eines jüdischen Altersheims in Basel von neuem auf. Das Altersasyl in Lengnau war bis zum letzten Platz besetzt. Es gelang, im «Bachofenschlößli» ein geeignetes Mietobjekt zu finden, welches zweckmäßig eingerichtet und im Dezember 1942 eröffnet wurde. Die Gemeinschaftsräume waren gemütlich, die Zimmer freundlich. Einer Liste der Insassen aus dem Jahr 1943 entnehmen wir, daß fast 50% von ihnen in der Schweiz vor den Judenverfolgungen eine Zuflucht gefunden hatten. Bei den übrigen Insassen handelt es sich um Schweizer oder Basler Bürger. Das Jüdische Heim in Basel war damit das erste größere Werk der Alphonse- und Eugénie-Levy-Stiftung. Die Stiftung hat seit dem Bestehen der Institution zur Deckung der jährlichen Betriebsdefizite beigetragen.

Von Anfang an galt ein Prinzip: Im jüdischen Heim gibt es keine Armen. Die Pensionspreise mußten gedeckt werden, sei es von den Insassen selbst, sei es von Fürsorge-Institutionen oder Drittpersonen. Sie waren für die Wohlfahrtsbehörden niedrig angesetzt, für die Selbstzahler je nach dem Zimmer, welches sie bewohnten. Alle Insassen werden in gleicher Weise verköstigt. Neben dem allgemeinen Menu wird auf ärztliche Vorschrift Diätkost verabreicht. Im Pensionspreis ist die Besorgung der Wäsche inbegriffen.

Warum ein jüdisches Heim? Nur das jüdische Heim kann dem jüdischen älteren Menschen das bieten, was die meisten von ihnen wünschen: die Atmosphäre einer kleinen jüdischen Gemeinschaft, mit Gottesdienst, Gestaltung der Freitag-Abende, des Schabbats3, der jüdischen Festtage, eine nach den religiösen Vorschriften zubereitete Verpflegung, ein «Unter-sich-sein». Es sei hier festgestellt, daß kaum einer der 100 heutigen Insassen auf die Erfüllung aller dieser Forderungen reflektiert. Bei jedem von ihnen liegen einer oder mehrere dieser Wünsche vor, und ein jüdisches Heim muß daher in entsprechender Weise geführt werden. Immerhin steht das Heim auch Nichtjuden offen. Zwar genießt der jüdische Petent den Vorrang, aber bereits haben einige nichtjüdische Insassen ihren Lebensabend in der Charmille verbracht und sich im Heim recht wohlgefühlt.

Und nun eine kurze Geschichte der Charmille: Das jüdische Heim an der Bachofenstraße erwies sich bald als zu klein, und die Warteliste wurde immer länger. Zudem war der Mietvertrag nur auf fünf Jahre befristet; es bestand keine Möglichkeit zur Erweiterung, und man ging auf die Suche nach einem größeren Objekt. Man fand es in der Klinik des verstorbenen Herrn Prof. Jaquet in Riehen. Am 1. September 1946 wurde das Anwesen, eine große Liegenschaft mit alten Bäumen, vom Verein «Jüdisches Heim» in Basel käuflich erworben, nachdem sich der Leiter der jüdischen Wohlfahrtsorganisationen in der Schweiz bei einer Besichtigung am 30. Juni des gleichen Jahres vom Projekt begeistert gezeigt hatten. Damit wurde eine Gebäudegruppe übernommen, die im Prinzip für einen der neuen Zielsetzung nicht wesensfremden Zweck erbaut war. Im Bericht an die Mitglieder des Vereins und eventuelle Donatoren wurde ein Kostenvoranschlag von ca. Fr. 700 000.— für Ankauf und Umbau präsentiert. Bei Durchführung dieser Aufgabe stellte sich aber bald heraus, daß die für den Umbau projektierte Summe längst nicht ausreichte. Es mußten 1,5 Mio. Franken in Form einer I. und II. Hypothek aufgenommen werden, um den Bau zu dem gestalten zu können, was er noch heute ist — ein behagliches und gleichzeitig mit allen notwendigen sanitären Einrichtungen versehenes Zuhause für seine Insassen. Im zweiten Stock wurden Zimmer für die Unterbringung von Pflegebedürftigen und Bettlägerigen eingerichtet und damit einem dringenden Bedürfnis entsprochen. Ein Juwel ist die große Heimküche mit dazugehörigen Nebenräumen — sie war nach dem Umbau eine der schönsten und besteingerichteten Großküchen für rituelle Verpflegung in der Schweiz. Bald nach seiner Eröffnung im November 1947 waren fast alle Betten im neuen Heim besetzt; seither hat das Angebot an Plätzen noch nie der Nachfrage entsprochen, die Warteliste muß stets sorgfältig weitergeführt werden.

Im Jahre 1952 ließ der Vorstand des Vereins «Jüdisches Heim» die Betriebsführung der «Charmille» von zwei Fachleuten begutachten. Wir zitieren: «Die von beiden Experten zu verschiedener Zeit durchgeführten Betriebsbesichtigungen haben einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen. Im Hause herrscht Ordnung und große Sauberkeit. Personal und Insassen machen einen aufgeschlossenen und zufriedenen Eindruck. Vor allem fehlt die in anderen Altersheimen nicht selten anzutreffende Stimmung von Verlassenheit, Langeweile, Lebensüberdruß und Gereiztheit. Soviel wir beobachten konnten, haben die Insassen doch noch einen gewissen lebendigen Kontakt untereinander und verdösen ihre letzten Tage nicht in deprimierender Weise. Zu dieser Atmosphäre trägt sicher wesentlich das schön gelegene, gut eingerichtete und geführte Heim bei. Der Betriebsstandard des Heimes ist, ohne irgendwie luxuriös zu sein, doch ein recht hoher. Er entspricht ungefähr demjenigen der ersten Pfrundklasse des Bürgerspitals. Jedenfalls kann die jüdische Gemeinde auf ihre Anstalt wirklich stolz sein, denn sie kann in ihrer Art durchaus als vorbildlich bezeichnet werden.

Der Standard der Anstalt als Alters- und Pflegeheim für vorwiegend minder- oder unbemittelte Personen ist hoch, ja vorbildlich. Er ist einesteils Ausfluß einer sehr anerkennenswerten und pietätvollen Gesinnung des Vorstandes und der ihm nahestehenden Kreise, andererseits hängt er zwangsläufig mit der Erfahrung zusammen, daß in einer kleinen halböffentlichen Anstalt dieser Art sich eine Trennung nach Verpflegungsklassen schwer durchführen läßt. Die Ansprüche, die die besserzahlenden Insassen stellen und stellen dürfen, können den Minderbemittelten fast nicht abgeschlagen werden ... Sparmöglichkeiten, die nicht den Standard des Hauses herabsetzen, sind in irgendwie ins Gewicht fallenden Umfang nicht vorhanden ...»

Mit dem Umzug in die Charmille war auch räumlich die Möglichkeit gegeben, den Insassen in geistiger und kultureller Hinsicht etwas zu bieten. Der Speisesaal diente (und dient auch heute noch) als Vortragsraum; bei Bedarf stellte man ein Podium auf; es fanden Darbietungen jeder Art statt — literarische, musikalische, Vorträge, Filmvorführungen, Theatervorstellungen, Kleinkunst und Kabarett. In diesem Zusammenhang ist dem Bericht des Heimarztes vom Jahr 1952 zu entnehmen: «... Es besteht kein Zweifel darüber, daß die vielen geistigen Anregungen, die unseren Insassen geboten werden, sich dahin günstig auswirken, die Leute in guter Stimmung zu halten. Diese Tatsache hat sicher einen guten Einfluß auf das körperliche Befinden...» Für diese Veranstaltungen zeichnet eine Kommission unter dem Vorsitz eines hohen Basler Magistraten verantwortlich. Sie hat in den 17 Jahren ihres Bestehens für die Programmgestaltung und bei der Auswahl der Künstler und Referenten ausgezeichnete Arbeit geleistet.

Die Jahre vergehen, die Insassen werden älter und pflegebedürftiger. Zwar ist der Gesundheitszustand im allgemeinen gut, das Durchschnittsalter steigt langsam, aber stetig an, die Pflegefälle werden jedoch zahlreicher, die Pflege schwieriger. Die Schwestern und das Personal arbeiten mit großer Hingabe, aber ohne die Hilfsbereitschaft der ärzte und Schwestern des Riehener Diakonissenhauses, des Verständnisses der Basler Kliniken wäre die Aufgabe undurchführbar. Das Problem der Chronischkranken hat noch keine Lösung gefunden (Jahresbericht 1954).

Ebenfalls ins Jahr 1954 fällt die Einführung des Fernsehens. Damit erhalten auch die behinderten Insassen plötzlich einen neuen Kontakt mit der Außenwelt. Auch werden in diesem Jahr die ersten überlegungen zur Einführung einer Beschäftigungstherapie angestellt. Frühere Versuche, eine Schneiderei, Glätterei, Flickerei mit Beteiligung von Insassinnen einzurichten, waren zum Scheitern verurteilt.

Im Jahr 1956 konnte der Betraum zu einer richtigen Synagoge umgewandelt werden. Die Israelitische Gemeinde Liestal mußte infolge Wegzuges der meisten Mitglieder auf die Abhaltung von Gottesdiensten verzichten und überließ der Charmille drei Thorarollen und eine sehr schöne altehrwürdige Synagogenbestuhlung. Die gesamte übrige Neueinrichtung mit künstlerischem Wandbehang, Leuchter und Farbenscheiben wurde von den Geschwistern Levaillant zum Andenken an ihre Eltern gestiftet.

1957 befinden sich bereits ein Drittel der Insassen in der Pflegeabteilung, und der Ruf nach einem Neubau wird immer dringender. Im Lauf des Jahres 1958 wird mit dem Bau eines Pflegeheims begonnen; am 20. Dezember 1959 findet in Anwesenheit von Mitgliedern der Behörden und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im großen Festsaal des Stadtcasinos die Einweihungsfeier statt. Spenden der Industrie, aus Bankkreisen und von 220 Donatoren wurden bei dieser Gelegenheit in ein Goldenes Buch eingetragen. Sie halfen — neben einem Beitrag aus dem Arbeitsrappenfonds — das große Unternehmen zu finanzieren. Das neue Pflegeheim ist bald bis zum letzten Bett besetzt. Das Parterre und das erste Stockwerk sind für die Unterbringung von ChronischKranken eingerichtet; die Zimmer sind mit breiten Türen versehen, ein Bettenlift ermöglicht den Transport der Patienten entweder liegend oder auf Rollstühlen. Jedes Stockwerk hat, wie übrigens auch im Altbau, ein Office, Untersuchungs- und Behandlungsräume sind vorhanden. Das schönste an diesem Heim sind aber seine Liegeterrassen. Hier können die Patienten an schönen Tagen ins Freie gebracht werden oder sich durch die großen Fenster am Anblick der herrlichen Natur erfreuen. Vor ihnen breitet sich ein Panorama von Wiesen und Wäldern aus, man vergißt die Nähe der Großstadt. Im obersten Stock finden sich einige Einzelzimmer, zum Teil mit Bad und eine große Liegeterrasse mit herrlicher Aussicht. Eine Insassin geht hier ihrem Hobby nach, der Malerei, in der sie Beachtliches leistet. In einem Zimmer dort oben seine alten Tage verbringen zu dürfen, scheint verlockend.

1962 ist man endlich soweit, eine Beschäftigungstherapie einzuführen. Zweimal wöchentlich sitzt eine getreue Schar Männer und Frauen am Webstuhl, am Stickrahmen, es wird gestrickt, genäht, und ein Insasse hat es in der Komposition von Bildern aus aufgeklebten Stoffresten schon zu einer beachtlichen Meisterschaft gebracht. Die angefertigten Sachen - Kissen, Decken, Bilder und dergleichen finden den Weg zu Freunden und Verwandten als Geschenke oder sie werden an einem Charmillefest an Ständen zur Füllung der Kasse für neuen Materialeinkauf in klingende Münze umgesetzt. Die Großzügigkeit eines Mitgliedes des Levy-Stiftungsrates hat die Durchführung dieses Vorhabens ermöglicht.

In den kommenden Jahren erhielt die Charmille von Dr. phil. h. c. Emil Dreyfus eine Stiftung von 1 Mio. Franken, deren Zinserträge für Betriebsausgaben verwendet werden dürfen. Das Kapital darf nicht angetastet werden. Leider hat der hochherzige Donator diese Vergabung nicht lange überlebt.

Verlassen wir an dieser Stelle die Geschichte des Heimes und kommen wir zum wesentlichen, dem Menschen. Wir greifen aus der großen Zahl der Betreuer einen heraus: Dr. iur. Lucien Levaillant sei., denn er hat dank seinen Beziehungen und Fähigkeiten Außerordentliches für die Institution geleistet. Er sah die Möglichkeit, Gelder der Levy-Stiftung einem großen Werk dienstbar zu machen; er wachte über alles, was in irgendeiner Beziehung zu seinem geliebten Heim geschah; daß bei der immer dichter werdenden überbauung der Umgebung die notwendigen Landreserven rechtzeitig und zu annehmbarem Preis erworben werden konnten, ist sein Verdienst. Ja, er erstellte sogar direkt neben der Charmille für sich und seine Geschwister ein idyllisches Sommerhaus, um dem Heim und seinen Insassen näher zu sein, ihnen noch mehr von seiner knappen Zeit widmen zu können. Er kannte die Bewohner beim Namen, er kannte ihre Vorzüge und ihre Schwächen, er unterhielt sich mit allen, und hatte für jeden ein freundliches Wort. Wenn er zum Abschluß der kulturellen und künstlerischen Veranstaltungen das Wort ergriff, wartete alles gespannt auf seine mit Humor gewürzten Ausführungen, seine Schlagfertigkeit war sprichwörtlich. Um so härter traf alle die Kunde von seinem plötzlichen Hinscheiden am 18. Januar 1965. Während Wochen nachher fühlte man sich im Heim verwaist.

Man verzeihe uns, wenn hier auf die unschätzbaren Verdienste zahlreicher weiterer Persönlichkeiten nicht eingegangen wird. Es ist selbstverständlich, daß Herr Dr. Levaillant sein Lebenswerk nur dank der uneigennützigen Mitarbeit vieler so vollendet gestalten konnte.

Und nun zu den Betreuten. Laut Aufzeichnungen sind in den 25 Jahren seines Bestehens rund 500 Personen im Heim untergebracht gewesen. Die meisten von ihnen haben dort ihr Leben abgeschlossen. Menschen aus allen Schichten der jüdischen Bevölkerung waren darunter: Akademiker, Kaufleute, Handwerker, Schneiderinnen, Lehrerinnen — sie kamen aus Basel und der Schweiz, aus Europa, aus den USA und anderen Ländern. Vier Insassen, die bereits im Gründungsjahr ins Heim zogen, erfreuen sich noch heute eines glücklichen Daseins. Alle haben sie ihre Eigenheiten, man ist neugierig (nur ein ganz klein wenig), und so sitzt man am liebsten nicht im behaglichen Aufenthaltsraum, sondern beäugt von einer Bank aus — im Windfang beim Eingang, alles was sich in und außer dem Hause tut, man könnte doch ein wichtiges Ereignis versäumen. Ein Sitzplatz beim Eingang, besonders in der kalten Jahreszeit, ist immer sehr begehrt. Natürlich gibt es hie und da Streitigkeiten und Dispute wie in jedem Kollektiv, aber im allgemeinen herrscht eine friedliche Atmosphäre. Die weniger Behinderten helfen oft jenen, die nicht mehr alle Bewegungen beherrschen. Neben den Feiertagen gibt es alljährlich wiederkehrende Großereignisse, die Chanuka-4 und Purimfeiern5, die gemeinsamen Heimaus flüge, welche öfters zu einem Treffen mit der Belegschaft der anderen jüdischen Altersheime gestaltet werden. Man geht in die Stadt, und ein Taxidienst sorgt dafür, daß man abends bei der Tramstation abgeholt und gratis zum Heim zurücktransportiert wird. Im Sommer unterhält man sich im herrlichen Garten. Bänke unter den alten Bäumen laden zu beschaulichem Verweilen ein.

Und last but not least — der Betrieb funktioniert reibungslos dank dem ausgezeichneten Verhältnis der Verwaltung zu einem Mitarbeiterstab, von welchem ein Teil dem Heim seit Jahren die Treue hält und sich mit den Leiden und Freuden der Institution identifiziert. Natürlich hat das Heim wie alle Betriebe mit Personalschwierigkeiten zu kämpfen und muß seine Arbeitsweise weitgehend rationalisieren. Mangelnde Sprachkenntnisse von Helferinnen und Insassen erschweren die Aufgabe. Die Betreuung von alten Menschen durch zum Teil ungeschultes Personal erfordert sicher viel Geduld; gerade darum ist das selbstverständliche Ineinandergreifen der verschiedenen Arbeitsbereiche beeindruckend.

Wir stellen uns zum Schluß die Frage: Wann soll man sich mit dem Gedanken tragen, das eigene Heim aufzugeben und in ein Altersheim zu übersiedeln? — Wir wissen hier nur eine einigermaßen überzeugende Antwort: tun wir diesen schweren Schritt, solange wir noch frei sind, die Entscheidung selbst zu treffen, und rüstig genug, unser Leben auch in der neuen Umgebung individuell zu gestalten. Nur dann wird es ein erfülltes Leben sein können, in welchem wir nicht früheren, sich in der Erinnerung noch verklärenden Zeiten nachtrauern, sondern uns auch in der neuen Umgebung an unserem Dasein freuen und für einen von den Sorgen des Alltags freien Lebensabend dankbar sind.

1 Die Zehn Gebote

2 Das 3. Buch Moses im Alten Testament

3 Sabbat: Der jüdische Ruhetag (1. Mose, 2,2)

4 Chanuka — Fest der Tempelweihe im November/Dezember

5 Purim — Freudenfest im Februar/März zur Erinnerung an die Rettung der persischen Juden

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1967

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