Das Naturschutzgebiet im Autäli

Heinz Durrer

Ein gestörtes Verhältnis braucht eine Therapie.

Wenn im Frühling der Kuckuck ruft, beschleicht uns ein romantisches Gefühl, und viele Sprichwörter deuten darauf hin, wie populär dieser Vogel unserer Heimat ist. Und der Laubfrosch mit seinem weithin hörbaren lauten äp-äpäp-äp-Rufen ist uns allen noch vertraut als Wetterprophet, weil er auf Veränderungen der Luftfeuchtigkeit bei einem Wetterumschlag durch Auf- und Abklettern auf der Leiter im Käfig reagiert. Doch kennen wir den kleinen grünen Wicht, mit seinen Klebballen an den Fingerspitzen noch — oder stammt unsere Vorstellung eher aus einem Märchenbuch? Wo sind diese und viele andere bekannte Tiere und Pflanzen geblieben? Sie gehören doch in unsere Landschaft, zu unserer Heimat, die Schwalben, Schmetterlinge, Grillen, Libellen und die farbigen Wiesenblumen. Ist es noch möglich oder noch zu verantworten, dass unsere Kinder — so natürlich es klingen mag — einen Blumenstrauss mit Margeriten, Wiesensalbei, Akelei usw. auf einer Wiese pflücken?

Kehren wir zu unseren beiden Anfangsbeispielen zurück: Der Kuckuck ist ein Brutparasit, das heisst, er legt sein Ei (das sprichwörtliche Kuckucksei) in das Nest eines bestimmten Wirtsvogels und lässt durch diese Ammeneltern sein Junges aufziehen. Dabei ist das Ei des Kuckucks durch Farbe und auch in gewissen Grenzen in der Grösse an das Wirtsgelege angepasst. Je nach Region verschieden werden so bestimmte Vogelarten parasitiert. Bei uns ist dies der Teichrohrsänger oder der Rotschwanz. Um den Kuckuck in der Rheinebene zu erhalten, braucht es daher eine grössere Population der Wirtsvögel. Beim Teichrohrsänger ist dies nur möglich, wenn grosse Schilfbestände vorkommen, in denen er sein Nest bauen kann.Verschwindet dieser Biotop, wird schliesslich auch der Kuckuck in dieser Region fehlen. Ohne dass ihm jemand nachstellt oder ihn in seiner Lebensweise beeinträchtigt, wird diesem Vogel durch die aufgezeigte Verknüpfung die Existenzgrundlage entzogen. Und der Laubfrosch kann doch unmöglich durch die Liebhaber ausgerottet worden sein, die ihn als Wetterpropheten halten. Sie erwischen ja ohnehin nur die rufenden Männchen am Weiher und zudem sind Amphibien jetzt gesetzlich geschützt, wodurch Fang und Haltung vollständig verboten sind. Trotzdem ist in den Kantonen Baselland und Aargau bei Bestandesaufnahmen seit zwei Jahren nie mehr eine Fortpflanzung nachgewiesen worden. Das bedeutet, dass diese Tierart in unserer Region als ausgestorben angesehen werden muss. Der gesetzliche Schutz nützt einer Art nichts, wenn nicht auch der Lebensraum — die Sumpfwiese mit dem dichten Gebüschsaum — vorhanden ist. Zur Erhaltung einer Art ist nicht nur ein einzelner Standort nötig — ein Weiher mit einigen wenigen Exemplaren — sondern eine Population, gross genug sich auszubreiten und sich so mit der Nachbar-Population zu vermischen. Nur im sogenannten «Genpool» kann der wichtige Austausch des Erbgutes unter den Individuen der Populationen die Erhaltung einer Art auf lange Zeit garantieren. Wir sind mit der Natur unserer Heimat an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt. Wenn es nicht gelingt, die Tiere und Pflanzen in unserer Landschaft zu erhalten, wird die nächste Generation sie nicht mehr kennenlernen und so bei uns nicht einmal mehr vermissen. Fernsehbilder und Illustrierte werden dann vollständig die Naturbeobachtung ersetzen. Es genügt nicht, wenn irgendwo in einem Naturschutzgebiet der Alpen oder z.B. in der Camargue Tierarten vor dem Aussterben bewahrt werden. Wir müssen versuchen, wenn wir eine Beziehung zur belebten Natur unserer Heimat aufbauen wollen, diese Lebewesen auch in unserer Landschaft zu erhalten.

In dieser Absicht wurde 1979/80 in Riehen im «Autäli», nur wenige hundert Meter vom Dorfkern entfernt, ein Naturschutzgebiet erstellt. Es soll mit Weiher, Tümpeln, Bachlauf, Blumenwiese, Schilfgürtel und Trockenrasen auf kleinem Raum eine möglichst grosse Vielfalt an Biotopen für Tiere und Pflanzen bieten.

Je reichhaltiger unsere Umwelt wird, desto schneller fühlen wir uns wohl. Der Mensch, der gezwungen ist, in dichten Siedlungen aufzuwachsen, hat eine übertriebene Sehnsucht nach einem ursprünglichen, unverfälschten Lebensraum und geniesst den Erholungswert einer intakten Naturlandschaft. Doch wie wollen wir der nächsten Generation diese Beziehung zur Natur vermitteln?

Bevor wir uns mit der Therapie dieses gestörten Verhältnisses zur Natur beschäftigen wollen, müssen wir durch Anamnese, d.h. Untersuchung der Vorgeschichte, die Ursachen, die zur heutigen Situation führten, aufzeigen.

Ohne Mensch wäre unsere Landschaft in weiten Teilen ein geschlossener, aber lichter Mischwald mit Auenwaldbäumen in der Nähe von Gewässern oder ein EichenHagenbuchenmischwald. Bei der Rodung während der Landnahme schafft der Mensch für viele Pflanzen und Tiere neue Lebensräume und erzeugt eine neue Vielfalt von Formen in einer Landschaft, wo er als Ackerbauer im Einklang mit der Natur lebt. Doch mit der Industrialisierung setzt ein Prozess der Verarmung ein. In der technisierten Landwirtschaft werden die Regelkreise der Natur aufgebrochen. Immer intensivere Anbaumethoden mit Kunstdüngung und Schädlingsbekämpfung, gefordert von einer sich stark vermehrenden Industriegesellschaft, führten zu einseitigen Veränderungen des Landschaftsbildes. Pflanzen mit Rhizomen (unterirdische Speicherorgane) oder Zwiebeln verschwinden durch die Düngung und Anbaumethode, und zuletzt bleibt, wo einst eine farbige Wiese war, die Tetragrasmischung übrig, die auf Düngung anspricht und einen drei- bis vierfachen Schnitt ermöglicht. Von jeder Schädlingsbekämpfung werden auch die nützlichen Tiere wie die Amphibien, Reptilien, insektenfressende Vögel, Igel, Spitzmäuse usw. empfindlich mitbetroffen. Der Ackerbauer gerät so, ohne dass er dies je beabsichtigte, in eine Sackgasse und wird zu immer stärkeren Einsätzen von Pestiziden gezwungen, ja muss am Ende dieser Reihe die Regulation im Kulturland allein übernehmen, wenn nicht der Ernteausfall katastrophale Ausmasse annehmen soll. Ein einfaches «Zurück zur Natur» gibt es nicht mehr — die Ernteverluste wären im Moment zu gross und die ehemalige natürliche Regulation ist nicht mehr möglich, weil viele Tierarten fehlen. Ebenso wenig können wir das unaufhaltsame Vordringen des Teer- und Betonteppichs, den wir durch die rasch wachsenden Siedlungen und die perfekte Ausrüstung aller Strassen in die Landschaft ausrollen, wieder rückgängig machen. übrig bleibt ein Mensch mit einem gesteigerten Bedürfnis nach Natur in einer verarmten Landschaft, ohne Vielfalt der Erscheinungsformen. Dies führt auch zur Ubernutzung der wenigen Restgebiete, wo nur eine Sonntagswandergesellschaft praktisch alle restlichen Blüten wie z.B. die Schlüsselblumen in einem Waldstück wegzupflücken vermag. Als erste Reaktion haben Naturschützer gewisse Restlandschaften als Reservate eingezäunt, um sie zu erhalten. Man hat den Menschen ausgesperrt von der Natur! Dies kann nicht die Endlösung des Problems sein, es gilt, ein andersartiges Konzept des Naturschutzes zu entwerfen und zu fördern.

Wie sehen die Ziele dieses Naturschutzes für den Menschen aus? Wir können Tiere und Pflanzen erhalten, wenn wir ihnen genügend Lebensraum bieten. Diese Biotope lassen sich auch künstlich schaffen. Wasser kann auf eine Wiese geführt werden und ein Weiher wird ausgehoben und abgedichtet, dazu wird eine Blumenwiese angesät, trockene Standorte mit Steinhaufen für Reptilien werden aufgeschüttet. Wir haben gesehen, wie der Mensch, seitdem er in einer Landschaft lebt, diese stets grundlegend verändert hat; warum soll er in der heutigen Situation nicht wieder Naturlandschaften «bauen». Ja, ohne menschliches Eingreifen kehren in unserer Region auch die herrlichsten Naturschutzgebiete allmählich wieder zur Endformation des Mischwaldes zurück und der Weiher verlandet durch die vorwachsenden Pflanzen. So gilt es nicht nur Biotope zu bauen, sondern als Naturschutzgebiete zu hegen, um einer möglichst grossen Vielfalt von Tieren und Pflanzen Lebensraum zu bieten.

Wenn wir den Menschen brauchen, um das Naturschutzgebiet zu erhalten, um der überwucherung der Brache, der Verlandung, der Verwaldung entgegenzuwirken, dann werden diese Menschen sich mit dieser Natur wieder verbunden fühlen. Die Schulklasse, die mit ihrem Lehrer einen Hegeeinsatz erlebt hat, oder die Freiwilligen, die bereit sind mitzuarbeiten, erhalten ein Verantwortungsbewusstsein der Natur gegenüber. Dieser erzieherische Wert, der gefördert wird, ist für die Existenz solcher Biotope, aber auch generell für die Beziehung des Menschen zur Natur, von grosser Bedeutung. Der Lehrer kann mit der Klasse im Biotop beobachten; ihn als Anschauungsunterrieht einsetzen, um Kenntnisse zu vermitteln, biologische Grundvorgänge aufzuzeigen und oekologische Zusammenhänge erarbeiten zu lassen. Dieser Unterricht fördert in der jungen Generation ein lebendiges Verständnis für die Natur, schafft Menschen, die Augen haben für die kleinen Schönheiten und die ihre Erscheinungsformen kennen; ein Teil der Erziehung, der neben allen «Schulweisheiten» für einen jungen Menschen, der sich wohl fühlen soll in seiner Heimat, wichtig ist.

Die Möglichkeit zum Beobachten und zum Erleben hat auch jeder einzelne Besucher des Reservats. Wenn der Biotop sinnvoll durch Wege und Beobachtungspfade erschlossen ist, kann sich der Erholungssuchende darin bewegen, ohne Schaden anzurichten. Der Interessierte, der Hobby-Fotograf und der stressgeplagte Mensch, wie auch der Mensch im Lebensabend findet hier Ruhe, Entspannung und sinnvolle Erholung. Die Freude bei der vielfältigen Begegnung Mensch-Natur sollte uns auch lehren, Sorge zu tragen zur Naturlandschaft, nur so ist dieser Kompromiss eines Naturschutzes als Erholungsraum möglich. Wir wollen an einem ausgewählten Beispiel aufzuzeigen versuchen, welche Vielfalt an Beobachtungen und Erleben am Weiher möglich sind. Voraussetzung ist neben der Freude an der Natur auch ein Wissen. Dies dem Interessierten auf einfache Art und Weise zu vermitteln, ist das Ziel einer Broschüre («Wir beobachten am Weiher»), die das Projekt im Autäli abschliessen soll. Aus dem Inhalt sei hier ein Beispiel ausgewählt: Die Schritte einer Blütenpflanze vom Land bis ins Wasser über Sumpfpflanze — Röhricht — Schwimmblattpflanze bis zur Wasserpflanze, wo nur noch die Blüte als funktionell einzige Forderung des ehemaligen Landlebens (Bestäubung) über das Wasser ragt.

In der geschilderten Absicht wurde 1979 / 80 die Anlage im Autäli erstellt. Bei der Projektierung wurde darauf geachtet, dass eine möglichst grosse Vielfalt in dem relativ kleinen zur Verfügung stehenden Raum möglich ist. So sind Feuchtbiotope und Weiher, eine Tümpelreihe, Sumpfwiese und Schilfgürtel neben Trockenbiotop und Auenwald eingeplant worden. Die Gemeinde Riehen sicherte die Finanzierung des Ausbaus, und Freiwillige waren mit ca. 900 Arbeitsstunden vor allem bei der Bepflanzung aktiv. Die Projektleitung und Betreuung erfolgte als Beitrag der Universität (PD Dr. phil. H. Durrer, Medizinisehe Biologie, Institut für Pathologie) im Sinne einer verstärkten öffentlichkeitsarbeit.

So ist ein Werk entstanden in Zusammenarbeit zwischen Gemeindeorganen, Unternehmern, Schule, freiwilligen Helfern und Universität, das sich sehen lassen darf. Es ist jetzt noch etwas Geduld nötig, bis all die vielen eingesetzten Pflanzen, darunter viele seltene Wasserpflanzen und Sumpfgewächse sich zu vermehren beginnen und die ausgesäte Blumenwiese, wo jetzt schon das Käslikraut, die Kardendistel und viele andere blühen, sich in voller Pracht entfalten wird. Es wird zwei bis drei Jahre dauern, bis sich aus den eingesetzten Amphibienlarven eigene an dieses Reservat gebundene Populationen von Erdkröten, Grasfröschen, Wasserfröschen, Geburtshelferkröten und Molchen entwickelt haben. Bald schon werden eine-Fülle von Libellen, Wasserkäfern und viele andere Insekten und Wasserschnecken, die zum natürlichen Gleichgewicht im Weiher gehören, zu beobachten sein. Wie vertraut klingt in unseren Ohren das Zirpen der Grillen, die sich im Trockenbiotop gut eingelebt haben, und wir hoffen, dass bald wieder Eidechsen und Blindschleichen sich in diesem für sie geschaffenen Lebensraum wohlfühlen werden.

Im Sommer bringt eine Algenblüte gewisse Probleme, indem die Düngestoffe, die vom Aubächli in das Reservat gelangen, zu einem zu starken Wachstum führen können.

Das Gleichgewicht im Weiher ist daher gestört, doch sensibel und wirkungsvoll reagiert die Natur auf diesen Einfluss, und es braucht Zeit, bis eine natürliche Regulation, gekoppelt mit Eingriffen der Betreuer, zu spielen beginnt. Phosphatbindende Pflanzen werden sich stark vermehren, und wenn ihre absterbenden Teile im Herbst entfernt werden, kann sich langsam ein natürliches Gleichgewicht einstellen. So ist der Biotop auf den Schutz und die Hege angewiesen. Schon jetzt verstehen immer mehr Leute in diesem leicht erreichbaren und erschlossenen Naturschutzgebiet wieder eine Beziehung zur Natur zu gewinnen, durch wiederholten Besuch die kleinen Details des Blühens der Pflanze, des Verhaltens der Tiere zu beobachten, auf Pfaden, die ihnen dies ermöglichen, ohne zu zerstören. Diese Werte müssen wir wieder stärker zu beachten lernen, um sie einem raschen Verschleiss von kurzlebigen Konsumgütern gegenüberzustellen. Nur der Mensch, der neue Werte in der Wegwerfgesellschaft aufzubauen vermag, wird schliesslich auch der Zerstörung der Natur entgegentreten und eine Umwelt aufzubauen versuchen, wo ein langfristiges Uberleben möglich sein wird. Dieses Reservat ist ein kleiner Anfang, es hilft in letzter Sekunde Tiere und Pflanzen unserer Heimat wenigstens im kleinen Raum, aber in unserer Landschaft zu erhalten für die kommenden Generationen. Diese Art von Naturschutz ist auch Menschenschutz, und der Mensch bedarf der wohltuenden Therapie des echten Naturerlebnisses dringend.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1980

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