Das Schneckenpferd

Vladimir Kostijal und Claudio Gioiella

Bereits in der Steinzeit wurde Kinderspielzeug hergestellt. In altägyptischen Kindergräbern fanden sich geschnitzte Krokodile und Löwen als Grabbeigaben. Technische und gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln sich in Produktion und Materialität, während das Tier als Motiv durch alle Kulturen und Zeiten nichts von seiner Bedeutung eingebüsst hat. Eine Reise auf Tierspuren durch die Sammlung des Spielzeugmuseums Riehen.

In nahezu mathematisch perfekten Proportionen präsentieren sich uns die spiralförmigen Windungen der Helgoländer Wellhornschnecke in der Sammlung des Spielzeugmuseums. Sie ist wahrhaftig ein Prachtwerk der Natur. Aber was hat die einstige Behausung dieser Meeresbewohnerin, die in früheren Zeiten eine wichtige Nahrungsquelle für die ärmere Bevölkerung darstellte, mit Spielzeug zu tun? Die Antwort ist recht simpel: Sie war das geliebte Spielzeugpferd der älteren Dame, die dem Museum in Riehen dieses Exponat hinterliess. Ein Pferd? Sie haben sich nicht verlesen: Beachten Sie das Zaumzeug, dann werden Sie keinen Zweifel mehr haben, dass es sich hierbei um einen Vertreter jener Huftiere handelt, die bei Kindern seit jeher hoch im Kurs stehen. Das Schneckenpferd VLADIMIR KOST I JAL UND CLAUDIO GIOIELLA Bereits in der Steinzeit wurde Kinderspielzeug hergestellt. In altägyptischen Kindergräbern fanden sich geschnitzte Krokodile und Löwen als Grabbeigaben. Technische und gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln sich in Produktion und Materialität, während das Tier als Motiv durch alle Kulturen und Zeiten nichts von seiner Bedeutung eingebüsst hat. Eine Reise auf Tierspuren durch die Sammlung des Spielzeugmuseums Riehen. Im Vordergrund Schneckenhäuschen als Hühner und Küken, Saanen, Kanton Bern, um 1900. Dahinter Wellhornschnecke als Pferd, Insel Helgoland, Schleswig-Holstein. Andererseits ist es aber auch ein profanes Schneckenhaus, das fern von jeglicher menschlichen Einwirkung natürlich entstand. Als solches verlangt es dem spielenden Kind ein Maximum an Fantasie ab, um dem Gegenstand Leben einzuhauchen. Es handelt sich somit um die wohl archaischste Form von Spielzeug überhaupt. Handelt es sich nun aber um ein Schneckenhaus oder um ein Pferd? Selbstverständlich trifft beides zu. Beschränkt wird die Interpretation des Gegenstands nur durch das kindliche Vorstellungsvermögen – und dieses ist im Spiel bekanntlich grenzenlos.

VON KÜHEN AUS HOLZ
Fantasie und Spiel stehen, wie das Beispiel der Naturspielsachen eindrücklich zeigt, seit jeher in einer starken und nahezu unauflöslichen Verbindung. Das menschliche Spiel kann als eine Art performativer Akt verstanden werden, der reale Welten durch einen symbolischen Transformationsprozess in Spielwelten aufbricht und jene da nachahmt. Deswegen sind die meisten Spielsachen auch abstrakte oder idealisierte Abbildungen des menschlichen Umfelds oder werden zumindest innerhalb des Spiels so verstanden. Diese zwei Kühe aus Holz sind zwar, anders als die Helgolandschnecke, von Menschenhand geformt – die eine mehr als die andere – verweisen jedoch in Motiv und Material auf ein naturnahes Lebensumfeld. Tatsächlich handelt es sich dabei um Spielzeug, das eher in ländlichen Haushalten anzutreffen war. Vor ihrer seriellen und industriellen Herstellung waren Spielsachen ein ausgesprochen teures Gut und vermögenden Schichten vorbehalten. In den tendenziell ärmeren ländlichen Gebieten spielten Kinder oft mit selbst hergestelltem und – was Form und Technik anbelangt – ‹einfacherem› Spielzeug. Holz eignete sich besonders gut für dessen Herstellung, da es günstig und leicht zu bearbeiten war. Wie genau das Objekt dem Original nachempfunden wurde, hing ganz vom Hersteller ab. Eine ‹Ast- Kuh› wie diejenige aus dem Appenzell konnte mit einigen wenigen Handgriffen hergestellt werden. Mit zusätzlichen Elementen wie dem Nasenring oder Hörnern liessen sich ganz leicht spezifische Details anfügen. Die etwas ‹realistischere› Holzkuh konnte ebenfalls mit nur ein paar wenigen Sägeschnitten aus einem Klotz herausgearbeitet werden. Obwohl solche Spielsachen in ihrer Gestaltung oft schlichter ausfielen als ihre gekauften Pendants, erfüllten sie doch dieselbe Funktion – im Spiel nämlich waren und sind sie alle einfach Kühe.

HOLZPFERDE AM LAUFMETER
Ein Showdown der Pferde: Beide stehen sich Auge in Auge gegenüber. Grundverschieden anzusehen, sind sie doch vom selben Schlag. Oder besser gesagt: vom selben Holzreifen. Denn es handelt sich bei diesen Pferden um sogenannte ‹Reifentierchen› aus dem Erzgebirge, jener deutschen Spielzeug-Produktionsstätte in der Grenzregion zu Tschechien, die vormals für ihre reichhaltigen Erzvorkommen bekannt war. Der Bergbau hatte ab dem 12. Jahrhundert dafür gesorgt, dass sich zahlreiche Familien in der Gegend niederliessen. Als diese lukrative Einnahmequelle im 17. Jahrhundert fast vollständig versiegte, mussten sich die Ansässigen nach neuen Erwerbszweigen umsehen. Holz gab es immer noch genug in dieser Waldregion, weshalb viele Familien in Heimarbeit Spielwaren für Händler fertigten, um die oft knappe Haushaltskasse aufzubessern. Bald entstanden heimische Werkstätten, die sich auf die Produktion von Holzspielzeug konzentrierten. So hielt die genial einfache Technik des ‹Reifendrehens› Einzug in den Produktionsprozess: In einen vorgefertigten Holzreifen werden auf der Drehbank ringsum die nötigen Konturen gedrechselt, um dasselbe Motiv im Querschnitt zu vervielfachen. Ist das Hinter- oder das Vorderteil des Holztiers schmaler als die andere Seite, kann man fast sicher sein, dass es aus einem Holzreifen geschnitten wurde – wie ein Kuchenstück. Danach erfolgen weitere Arbeitsschritte wie das Kantenbrechen, das Bemalen oder das Anbringen des Schweifs. Feinmotorisch Anspruchsvolles wurde früher übrigens meist von Kindern ausgeführt. Ob auch sie – die eigentlich keine Zeit zum Spielen hatten – in einem stillen Moment die Mühen ihrer Arbeit geniessen konnten, bleibt im Dunkeln. Was uns bleibt, sind lediglich die beiden Pferde – zwei vom gleichen Reifen. Aber jedes ein Unikat.

BLECH JONGLIERT KUNSTSTOFF
Die Technik des Reifendrehens ist ein frühes Beispiel serieller Spielzeugproduktion. Die Verwendung von Blech jedoch modernisierte die Spielzeugindustrie – sie machte die Spielwarenherstellung überhaupt zu einer Industrie. Die Geschichte der Blechspielsachen nahm ihren Anfang, als im Zuge der Industrialisierung Walzwerke die althergebrachten Hammerwerke im Grundverarbeitungsprozess abgelöst hatten. Blech wurde so zu einem günstigen und lukrativen Werkstoff für Spielzeugproduzenten. Insbesondere in Deutschland, das den Weltmarkt lange dominieren sollte, stiegen Hersteller wie die Gebrüder Bing, Schuco oder Ernst Paul Lehmann zu Vorreitern und Antreibern innerhalb dieser Branche auf. Fast zwei Drittel aller Blechspielzeuge weltweit kamen aus ihren Fabriken. Der Seelöwe mit seiner roten Fliege und dem Ball auf der Nase stammt jedoch aus Japan. Er ist damit keineswegs ein ‹Aussenseiter›, sondern symbolisiert vielmehr die nach 1945 stattfindende Wende in der Spielzeugindustrie. Kunststoff entwickelte sich allmählich zu einem neuen und entscheidenden Material auch für die Herstellung von Spielwaren. Während die deutschen Traditionsfirmen den Trend vorerst verpassten, reagierten Blechspielzeughersteller aus Japan – die eine ebenso lange Tradition in diesem Metier hatten – umgehend auf die neusten Entwicklungen und kombinierten Blech mit verschiedenen Kunststoffen. Unser Seelöwe beispielweise jongliert einen Plastikball und kann somit exemplarisch für die insbesondere in den 1950er-Jahren auftretende ‹Polymaterialität› stehen. Übrigens waren bei japanischen Spielwarenproduzenten, die ihre deutsche Konkurrenz in dieser Zeit allmählich von der Spitze verdrängten, Tiere sehr beliebte Motive.

DER TEDDYBÄR: DIE GESCHLECHTSNEUTRALE PUPPE?
Flauschig, weich und strubbelig: Er schaut uns mit seinen tiefschwarzen Knopfaugen an und bettelt förmlich darum, in den Arm genommen zu werden. So ähnlich ist uns allen wohl unser liebstes Stofftier in Erinnerung geblieben. Dabei steht der nach dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt benannte Teddybär sinnbildlich für jene wenigen Spielsachen, die gleichermassen von Mädchen wie Jungen innig geliebt werden, unabhängig von jeglichen gesellschaftlichen Konventionen. Tatsächlich lösen sich solche Grenzen beim Spielen schnell in den Köpfen der Kinder auf. Bei Klassikern wie dem Fangen oder Versteckenspielen, aber auch bei ‹Räuber und Polizist› spielen Jungen und Mädchen selbstverständlich miteinander. Gesellschaftliche Konventionen scheinen erst dann zu greifen, wenn mit einem Objekt gespielt wird. So gesehen ist unser Teddy eine löbliche geschlechtsneutrale Ausnahme, sozusagen eine getarnte Puppe im tierischen Gewand. Möglicherweise wird der Terminus ‹Puppe› heutzutage aber auch irreführend verwendet. Wir denken automatisch an ein Kleinkind oder an eine stark feminisierte, erwachsene Idealfrau wie ‹Barbie›. Historisch gesehen ist jedoch jedes Spielzeug, das dem menschlichen Körper nachempfunden ist und in der Regel bewegliche Glieder besitzt, eine Puppe. Nur heissen sie heute im Falle der Jungen ‹Power Ranger› oder ‹Action Man›. In allen Hochkulturen finden sich Spuren von Kindern, die mit Puppen gespielt hatten. Überlieferte Schriften belegen, dass es sie bereits im Alten Ägypten gab. Aus der griechischen und römischen Antike blieben uns sogar Terrakotta-Puppen mit beweglichen Gliedern erhalten. Wer wohl damit gespielt hatte?

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2018

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