Das Webergässchen - Riehens Boulevard

Michael Raith

Uusgrächnet 's Wäbergässli! Es hätte sich gewiss nie träumen lassen, als Kernstück der Riehener Fussgängerzone oft und gern benützter Boulevard und quasi Zentrum der Gemeinde zu werden. Die in seiner nächsten Nähe erhalten gebliebenen Strassennamen Schopfgässchen und Winkelgässchen schildern das ursprüngliche Aussehen dieser Dorfgegend. In der Gemeindekunde ist dazu zu lesen: «Alles war eng zusammengelegt und ohne durchdachte Planung errichtet. Hatte es noch Platz, so stellten die Bauern nach Bedarf einen Stall, ein Häuschen oder einen Schuppen hin. Erst nach dem Jahr 1800 begann man, die Gebäude nach den Strassen zu orientieren» (S. 116).

Der Blick auf einen alten Plan - zum Beispiel in der Beilage «Karten und Pläne» zu «Riehen Geschichte eines Dorfes» von 1972 - beweist das Ausgeführte: bis auf die Höhe des Winkelgässchens besass das von der Rössligasse her kommende Webergässchen etwa die Breite des Hubgässchens, die sichelförmige Weiterverbindung zur Schmiedgasse konnte nur von einem Menschen aufs Mal passiert werden, so schmal war sie. Gehen wir vom heutigen, rund sechs Mal breiteren Webergässchen aus, so müssen wir uns sowohl im Ausgang gegen die Rössligasse wie auch in demjenigen gegen die Schmiedgasse je ein Haus vorstellen. Die massiven Veränderungen sind symptomatisch für die äussere Entwicklung unseres Dorfkerns vor allem in den letzten gut dreissig Jahren.

Die moderne Bauentwicklung ging ja zunächst am Dorfkern vorbei. Die kantonale Gesetzgebung war zu jung, um das Bauen im historischen Zentrum beeinflussen zu können. Der Ruf nach einer Dorfkernsanierung ertönte schon vor über fünfzig Jahren. Sie beschäftigte die Gemüter lang und intensiv. Ihr verdanken wir den Landgasthof, das Gemeindehaus und eben auch die Neugestaltung des Webergässchens. Sie ist übrigens heute noch nicht abgeschlossen, wie die Quartierplanung Gartengasse zeigt. Doch soll hier nicht die Geschichte der verschiedenen Projekte erzählt werden, es sei nur erwähnt, dass die Idee einer vierzig Meter breiten Allee an Stelle des alten Gässchens ernsthaft diskutiert wurde. Sein heutiges Gesicht verdankt das Webergässchen der Arbeit einer 1961/62 arbeitenden Kommission des Weiteren Gemeinderates (aus der sich die heutige Planungskommission entwickelte). Nach dem Ausräumen der letzten rechtlichen Hindernisse wurde die alte Bausubstanz vor allem in den Jahren 1965/66 fast restlos abgebrochen und darauf die neuen Gebäude errichtet.

Das neue Geschäftszentrum bereitete der Baselstrasse als alter Verkaufsachse ernsthafte Konkurrenz. Angelockt durch vielfältige Einkaufsmöglichkeiten und damals noch günstige Wechselkurse fuhren Werktag für Werktag Hunderte und Tausende vor allem aus der Badischen Nachbarschaft ins oft autoverstopfte Webergässchen, dies in der meist irrigen Hoffnung, dort und womöglich direkt vor der Migros einen Parkplatz ergattern zu können. Die mit einem Dorffest gefeierte Umwandlung des Webergässchens in eine Fussgängerzone (1977) beendete diesen unerträglichen Zustand. Heute freut sich jung und alt über Leben und Treiben in der ehemals verwinkelten Dorfmitte: Begegnungen von Mensch zu Mensch sind beim Verkauf am Marktstand, beim Verteilen von Traktaten oder politischer Propaganda und anderen Gelegenheiten gesucht und geschätzt.

Und doch: etwas Wehmut bleibt. Schon lange sind die beiden Riegel vor den Eingängen der Rössligasse verschwunden: das Weissenbergerhaus an der Schmiedgasse (zwischen den späteren Nummern 19 und 21 ) - die zweite Riehener Badstube, von 1689 bis 1846 im Besitz der Schererfamilie - brannte 1882 ab und das Schnyderademhus gegen die Rössligasse wurde 1930 abgebrochen. Trotzdem trug das Webergässchen noch immer einen besonderen Reiz, vor allem roch es dort speziell, woran der grosse Wenksche Misthaufen - ein Tummelplatz gewaltiger Fliegenheerscharen - nicht unbeteiligt war. Auch originelle Leute gabs am Webergässchen. Der «Schnyderadem» hiess offiziell Samuel Schlup und hatte unter den Streichen der Dorfjugend viel zu leiden (siehe RJ 1964 S. 71 und 75 f. sowie RJ 1970 S. 65). Sein Dorfname rührt davon her, dass er, selbst Schneider, Sohn des Schneiders Adam Schlup Stücklin (1786-1876) und Enkel des Schneiders Adam Schlup-Schultheiss (1748-1814) war. Ein anderer, «Schöferfritzis» Sohn, der Landarbeiter Ernst Trächslin (18851965), wusch sich im Freien am Brunnen und hauste sonderbar hinter einem Chaos aus Holz. Man war eben noch bescheiden und stellte an den Wohnkomfort keine allzu hohen Ansprüche. Bauliche Unschönheiten wurden durch viel Grün an und vor den Häusern gemildert. Diese Zeiten sind spätestens mit der Renovation des Schlozerhauses zu Ende gegangen. Dass nun auch das Schweizerhaus erhalten bleiben soll, ist unter anderem deswegen erfreulich, weil so das moderne und trotzdem beliebte Webergässchen einen vor allem der Dachlandschaft des alten Bauernhofes wegen - ästhetisch stimmigen Abschluss bewahrt.

Früher trug das Webergässchen keinen eigenen Namen. Auf einem Plan von 1825 ist wohl erst 1872 der Strassenname nachträglich eingeschrieben worden: damals wünschte das Grundbuchamt anlässlich einer Vermessung die Benennung der zahllosen und namenlosen Dorfgässchen. Zu jener Zeit wohnte an der Ecke Schmiedgasse/Webergäss chen 2 der Weber Johannes Horn-Höner (1811-1881). Er dürfte als Namenspatron fungiert haben. Obwohl er ein unbedeutender Zeitgenosse war, hat er doch ein bleibenderes Denkmal als manche wichtige Lokalgrösse seiner Generation erhalten. Aber dessen ist sich ja niemand bewusst. Vielleicht hören wir in einem späteren Jahrbuch vom Schmied der Schmiedgasse, vom Wendelin der Wendelinsgasse, vom Krämer des Krämergässchens und vom David des Davidsgässchens.

Vorher aber setzen wir uns in ein Boulevard-Café und betrachten - auf den folgenden beiden Seiten - das pulsierende Leben in Riehen-City. Die kleinen Restaurants gehören übrigens zu Ladengeschäften - das eine zur Bäckerei Sutter, das andere, eine Imbissecke (sie wurde 1988 geschlossen), zur Migros - und sind darum ausserhalb der Verkaufszeiten zu. Dann wirkt das Webergässchen still und fast ein wenig traurig.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1988

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