Der blinde Hausvater und der französische Offizier
Walter Haebler
Der erste Winter nach Kriegsende hatte begonnen. Was an warmer Ober- und Unterkleidung in den Schränken des Kinderheims auf dem Tüllingerhügel noch aufbewahrt lag, wurde hervorgeholt. In Friedensjahren war dies für den Lumpensammler stets die ergiebigste Zeit gewesen, doch nun schon jahrelang nicht mehr. Waren auch manche Pullis und Schlüpfer, Strümpfe und Mützen wirklich nur noch Lumpen, sie wurden jetzt sorgsam und mühevoll zusammengeflickt und überstopft. Zu kaufen gab es nirgends etwas.
Da kam aus der Schweiz gute Post: Im benachbarten Riehen hatte ein Freund unseres Hauses eine Wollhilfe für uns angeregt, die abgegebenen Kleidungsstücke lagen zur Abholung bereit.
Auf dem Rathaus und dem französischen Gouvernement versuchte ich mein Glück, aber für uns Deutsche gab es in jenen Monaten keine Erlaubnis zur Grenzüberschreitung. Da hätte man schon einen französischen General zum Vetter oder einen Schweizer Bundesrat zum Onkel haben müssen. Auch über das Rote Kreuz konnte kein Weg gefunden werden. Alt und jung im Kinderheim wurden traurig, dachten wir an die warmen Sächele, die drüben in der Schweiz auf uns warteten.
Eines Morgens erfaßte mich die völlig unbegründete Zuversicht, einmal den einfachsten Weg zu beschreiten, nämlich ohne jeden Ausweis und Erlaubnisschein an der Grenze um Durchlaß zu bitten. «Unmöglich» soll man erst sagen, wenn man alles versucht hat. Trefflich und würdiger hat dies vor zweihundert Jahren Friedrich Christoph Oetinger so ausgesprochen: «Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Gott gebe mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und er gebe mir die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.»
Meine Frau und alle Mitarbeiter beschworen mich, doch so etwas Unsinniges nicht zu versuchen. Ich beharrte zuversichtlich auf meiner
Absicht. Meinen neunjährigen Buben forderte ich auf, er möge sich zum Abmarsch bereitmachen. Als Blinder brauchte ich ja eine Führung. Zu meiner Verwunderung erklärte der kleine Mann: «Nein, ich geh' nicht mit!» Erstaunt fragte ich, warum er mich nicht begleiten wolle. «Weil du dich blamierst», war seine Antwort, «wenn der Franzose nein sagt, dann kriegst du einen Zorn und dann bist du blamiert!» Ich schämte mich ein wenig, denn so ganz unrecht hatte der Bub nicht, doch dann versprach ich ihm auf Männerwort, daß ich keinen Zorn bekommen werde.
Hand in Hand stiegen wir den Berg hinab und schritten auf der menschenleeren Zollstraße dem Schlagbaum zu. Ein deutscher Zöllner bewachte die mittägliche Stille. Wir traten auf ihn zu, und ich trug ihm unser Anliegen vor, erwähnte aber auch sogleich, daß ich keinen Einfuhrschein und keine Genehmigung zum Grenzübertritt hätte. Mit leichtem Bedauern erwiderte der Beamte: «Da kann ich gar nichts entscheiden, Sie müssen warten bis der Capitaine kommt, doch machen Sie sich keine Hoffnungen, das ist so gut wie ausgeschlossen.» Wir sprachen über alltägliche Dinge, und ich sagte so zwischenhinein: «Sie sind auch nicht aus dieser Gegend.» «Nein», meinte der Grenzer, «ich bin aus Karlsruhe.» Sogleich gab ich zur Antwort: «In Karlsruhe war ich vor dem Ersten Weltkrieg, als ich noch sehend war, als Lehrer tätig.» Nun trat eine kurze Pause ein, in der offenbar mein Gegenüber mich eingehend musterte, denn jetzt stieß er heftig hervor: «Sind Sie der Lehrer Haebler?» Als ich erstaunt bejahte, rief der Beamte erschreckt aus: «Was, Sie sind es, Sie sind blind! Um Gottes Willen, Sie sind blind, Sie waren doch mein Lehrer im ersten Schuljahr, ich bin der Schiagenhof, und jetzt sind Sie blind, das ist ja furchtbar!» Der gute Mann war so ehrlich erschrocken, daß ihm die gedankenlose Anrufung Gottes gewiß verziehen wurde. Oder war das gar nicht so gedankenlos, spürte er vielleicht, daß solch ein Verhängnis nur getragen werden kann, wenn Gottes Wille dahinter steht? Jedenfalls, für mich galt vor allem jetzt die Frage: Kommen wir rüber oder nicht? Und mir schien, da zeige sich ein Lichtstreifen am sonst noch rabenschwarzen Horizont. Plötzlich flüsterte mir Schiagenhof zu: «Da kommt der Capitaine.» Mein einstiger Schulbub ging auf den Offizier zu, und ich hörte ihn flehentlich vortragen: «Das ist der Hausvater vom Kinderheim da oben, in der Schweiz liegen Wollsachen für seine sechzig Mädchen, eine Sammlung getragener Kleidungsstücke, die möchte er holen, aber er hat nur das übliche Laissez-passer, sonst keine Genehmigung, und er war einst mein Lehrer und jetzt ist er blind, und als er mein Lehrer war, war er noch nicht blind, doch jetzt ist er es und er will halt auch als blinder Hausvater für seine Kinder sorgen!» Der Offizier sprach kein Wort, ich hörte, wie er sich von Schiagenhof abwandte und zu mir schritt. Ich grüßte in die Richtung dieser Schritte, doch auch ich bekam keinen Gegengruß. Wortlos stand der Franzose vor mir. Mir wurde unbehaglich. Was sollte das? Meine Hoffnungsaktien waren soeben noch so hoch gestiegen, sie fielen betrüblich rasch. Doch dann hörte ich endlich die Stimme des Offiziers: «Kennen Sie mich nicht?» Ich war überrascht, ich sah ihn ja nicht einmal, und Umgang mit französischem Militär hatte ich auch nicht. So schwieg ich eine Weile, doch dann fiel mir etwas ein: «Sind Sie der Offizier, der mir vor einigen Wochen einen Zehnmarkschein für meine Kinder gab?» Denn da war einmal geschehen, daß eines Nachmittags an unserer Speisesaaltür geklopft wurde. Wir hatten gerade Singstunde. Auf meinen Zuruf hin trat ein französischer Offizier mit zwei Damen ein. Der Herr sagte, auf der Straße hätten sie die Kinder singen hören und bäten nun darum, daß man ihnen die mehrstimmigen Volkslieder noch einmal vorsingen möchte. Meine Mädchen waren beschwingt und sangen nun wie die Lerchen. Hernach sagte man mir, der Offizier sei ein sehr schöner Mann gewesen. Er war aber auch ein guter Mensch; nachdem die Damen und der Herr sich bedankt hatten, drückte mir der Offizier einen Zehnmarkschein in die Hand: «Bonbons für die Sängerinnen!»
Stand dieser Mann jetzt wieder vor mir? Ja, dann konnten meine Aktien wieder steigen!» «Ja, der bin ich», hörte ich langsam den Capitaine sprechen, «und Sie dürfen in die Schweiz; Schiagenhof, gehen Sie mit dem Herrn Hausvater und sagen Sie dem Schweizer, ich lasse ihn sehr bitten, seine Zustimmung zu geben.» Als ich die Hand des Offiziers drückte, sprach mein Herz dankbewegt: Gott vergelte es dir!
Zehn Minuten später warfen mein Bub und ich frohgemut unsere Beine auf der einsamen Zollstraße dahin, Riehen entgegen. Außer uns war niemand unterwegs. Gleichzeitig spähte aber vom alten Pfarrhaus aus, das auch zum Kinderheim gehörte, eine Mitarbeiterin durch ein
Fernglas hinab ins Tal und suchte uns auf der Schweizer Allee, ob wir vielleicht dort zu sehen seien. Sie entdeckte uns beide. Nun riefen nach wenigen Minuten die Mädchen einander zu: «Sie sind drüben», und die Erwachsenen schüttelten die Köpfe: «Wie haben sie das geschafft?»
Unterwegs fragte mich mein Bub: «Vati, kriegen wir Weißbrot beim Vater Stolz?» «Sicher», meinte ich. «Vati, kriegen wir auch Schweizer Käs beim Vater Stolz?» — «Ich hoffe schon, hungrig läßt er uns nicht heimwärts ziehen.» So war es auch. Nach einer Stunde saßen wir zwei «arme Dütsche» am gastlichen Tisch, und vor uns lag ein Berg knusperigen Weißbrotes und wundersam duftenden Schweizer Käses, dazu eine große Flasche Süßmost. Seit Jahren hatte mein Bub dergleichen nicht mehr gehabt, doch an diesem Nachmittag holte er Jahre nach!
Als wir bei Dämmerung wieder an die Grenze kamen, sah das aus einiger Entfernung zum Fürchten aus: Da schritt ein Riese durch die Dunkelheit, an seiner Hand ein kleines Büble. Ich trug einen gewaltigen Rucksack, in den ein hoher, prallgestopfter Wollsack hineingestellt war, der meinen Kopf hoch überragte. Auf deutscher Seite rief ich daheim an: «Schickt ein Leiterwägele, ich kann nicht mehr.» Im Kinderheim herrschte eitel Jubel und Dankbarkeit, und manches Kind strich in diesem Winter über sein Wolljäckchen hin und sagte: «Das ist aus der Schweiz.»
An jenem Abend meinte meine Frau: «Seltsam, daß du gerade zu der Stunde an die Grenze kommen mußtest, da dein einstiger Schüler und dieser Offizier Dienst hatten!»