Der höchste Basler


Dominik Heitz


 

Für ein Jahr steht der Riehener Conradin Cramer dem Grossen Rat vor. Er ist der jüngste Grossratspräsident seit 100 Jahren.


 

Er war gerade 23 Jahre alt und neu gewählter Riehener Einwohnerrat, als er öffentlich sagte: «Die Schweiz überschätzt sich selbst – die Schweiz kann nicht mit Fehlern umgehen – die Schweiz verliert ihre Jugend.» Es waren drei Thesen, die Conradin Cramer im Jahr 2002 an seiner 1.-August-Rede beim Eisweiher in Riehen aufwarf. Der ‹Basler Zeitung› war die Rede tags darauf eine ganze Seite wert. Elf Jahre später darf der Liberaldemokrat Conradin Cramer wieder in offizieller Mission an der Bundesfeier sprechen – diesmal etwas höher: auf dem Bruderholz – und in höherer Charge: als Grossratspräsident.


 

Wird er sich mit einer bundesfeierlichen Rede in ein paar Jahren erneut an die Basler Bevölkerung wenden, dann womöglich als Regierungsrat? Seine bisherige politische Karriere könnte es nahelegen: 1999–2005 Präsident der Jungliberalen, 2002–2007 Mitglied des Riehener Einwohnerrats, seit 2005 Mitglied des Basler Grossen Rats, seit 2009 Mitglied des Büros des Grossen Rats – und 2013 Grossratspräsident, der jüngste seit 100 Jahren.


 

Erinnerungen an den Vater


Conradin Cramer ist ein zielstrebiger Mensch. Als Karrierist möchte man ihn trotzdem nicht bezeichnen; Rücksichtslosigkeit oder Machtstreben um der Macht willen sind nicht in ihm angelegt. Wer sich mit dem Menschen Conradin Cramer zu einem Gespräch in seinem Heimatort Riehen trifft, begegnet einem Mann mit ausgeprägtem Sinn für Anstand und Respekt. Noch schnell etwas verschämt eine Zigarette vor dem Hauseingang ausgedrückt, bevor er den eintreffenden Gast in seine Wohnung bittet. Später, auf der kleinen Dachterrasse, wandert sein Blick zufrieden über grüne Familiengärten zum Tüllinger Hügel: «Etwas bieder», sagt er – als ob er die fraglos wunderschöne Aussicht herunterspielen wollte.


 

Drinnen mögen die Gäste von der Bogenstehleuchte fasziniert sein, die den Salon überspannt, und vielleicht wundern sie sich über die prominent im Bücherregal präsentierten Gesamtausgaben von literarischen Grossmeistern wie Goethe oder Shakespeare. Es hat einen tieferen Grund. Die Bücher gehörten seinem Vater und sind eine Erinnerung an diesen. Denn Conradin Cramer hat ihn nicht gekannt, den Diplomaten, der in Tokio und Pretoria, in Ankara, Oslo und Rom gearbeitet hatte. 1979 war er mit 61 Jahren gestorben – in jenem Jahr, als sein Sohn zur Welt kam. So wuchs Conradin Cramer nicht in der Stadt Basel mit seinen Eltern auf, sondern wohlbehütet in der Gemeinde Riehen mit seiner Mutter und deren Eltern.


 

Politisiert wurde Cramer in der Schule: Im Gymnasium Bäumlihof lernte er über die Mitarbeit an der Gymnasien-übergreifenden Schülerzeitung ‹Spiggzeedel› politisch interessierte Gleichaltrige kennen, unter ihnen auch Baschi Dürr, der später zeitweise Cramers Parteikollege war und heute als FDP-Mitglied in der Regierung sitzt. Im Gegensatz zu seinem politischen Werdegang fand Cramers journalistisches Interesse nur eine kurze Fortsetzung: Als «Journalist für einen Tag» bot ihm die ‹Basler Zeitung› 1996 eine Plattform als Regio-Korrespondent.


 

Nach der Matur nahm der Liberaldemokrat schnurgerade das Studium der Rechte in Angriff. Was er so alles in seinem juristischen Rucksack habe, will man wissen. «Alles», sagt er kurz und bündig. Das heisst: den Doktor – für seine Dissertation ‹Der Bonus im Arbeitsvertrag› wurde er mit dem Preis der Juristischen Fakultät der Universität Basel ausgezeichnet –, den Anwalt, den Notar und den Master of Laws an der kalifornischen Universität in Berkeley. Ein Bild auf Facebook belegt es: Cramer in Abschlussornat und typischem viereckigen Deckelhut mit Quaste.


 

Seine akademische Laufbahn setzt er seit 2013 mit einem Lehrauftrag für Privatrecht an der Universität Basel fort, während er seit 2007 hauptberuflich als Rechtsanwalt und seit 2009 auch als Notar in der Kanzlei Vischer in Basel tätig ist, einer der grossen Schweizer Anwaltskanzleien mit rund 80 Anwälten, Steuerberatern und Notaren.


 

«Politischer Eunuch»


Es ist eine eher konservativ-elitäre Welt, in der sich Cramer beruflich bewegt – eine, in der Intellekt zählt, der herausfordernde Disput, die Kraft der richtigen Wortwahl. Das bedingt aber, dass man auch etwas von der anderen Welt weiss. Am Gymnasium kam er in Kontakt mit Schülerinnen und Schülern aus unterschiedlichstem Umfeld. An der Universität war es nicht anders. Gut, die Studentenverbindung Zofingia, der sich Cramer anschloss, ist ein Verein, der von traditionsbewussten Basler Familien der Oberschicht geprägt wurde, aber es ist immerhin ein Ort, wo in erster Linie Bier statt Wein oder Champagner fliesst und wo auch Blödsinn seinen Platz hat. Oder sagen wir: höherer Blödsinn – wie etwa beim ‹Zofinger Conzärtli›. Mehrmals stand Cramer auf der Bühne dieser Basler Vorfasnachtsveranstaltung. Dreimal spielte er eine ‹Leiche›: den Architekten Jacques Herzog, den ehemaligen FCB-Trainer Christian Gross und den Juristen Peter Böckli. Als alt Zofinger fühlt er sich immer noch eng mit dieser studentischen Bruderschaft und gerade auch dem ‹Conzärtli› verbunden. «Das Bühnenerlebnis ist schon etwas Tolles», meint er rückblickend.


 

Die jetzige Bühne des Grossratsaals ist es aber wohl auch. Als Präsident der Legislative und somit als oberster Basler kommt ihm in diesem Jahr quasi die Rolle des Stabsoffiziers zu. «Die Perspektive ändert sich komplett», sagt er. «Anstatt sich um Sachgeschäfte zu kümmern, ist man Dienstleister und Repräsentant – quasi ein politischer Eunuch.» Als solcher zeigt er sich immerhin stets gut gekleidet. Anzug und Krawatte sind sein präsidiales Gewand, damit sticht er unter den Ratsmitgliedern unweigerlich heraus.


 

Verschiedene Lebensentwürfe


Privat hingegen gibt er sich lockerer, sportlich gar. Facebook hält einen auch hier auf dem Laufenden. In den Ferien auf Sylt zum Beispiel trug er hellblaue Shorts und ein rotes Poloshirt, sass am Strand in einem dieser Körbe, die aussehen wie riesengrosse Picknickkoffer, und blickte in die Weite – hinter sich die Schweizer Fahne im Wind flatternd. Wie die auf das Bild kam, teilt Facebook leider nicht mit. Dafür hält uns die Website zusätzlich anhand von Profilbild-Änderungen die äusseren Wandlungen des Conradin Cramer vor Augen: im August 2011 rasiert und mit randloser Brille, im Januar 2012 mit derselben Brille, nun aber mit dunklem Schnauz und Bart, im April 2012 bart- und schnauzlos, dafür mit schwarzem Brillengestell.


Dieses wechselnde Äussere wäre eigentlich nebensächlich, würde es nicht auch ein wenig Cramers geistige Grundeinstellung charakterisieren, wenn er sagt: «In meiner Generation ist die Haltung eine andere – da haben verschiedene Lebensentwürfe Platz.»


Und aus dieser Position heraus betrachtet er auch wohlwollend kritisch die Gemeinde Riehen: «Wohlstand birgt die Versuchung, dass man nicht proaktiv denkt.» Als Beispiel nennt er die Fondation Beyeler: «Dass man den Schwung des Museums nicht mitnehmen konnte für die Entwicklung und Neugestaltung des Dorfkerns, ist schade. Hier ist Stillstand Rückschritt.» Sonst aber sieht er seinen Wohnort nicht schlecht geführt: «Riehen hat eine hohe Gemeinde-autonomie.» Und was seine Grenzlage angehe, habe es eine gute Position. «Ich sehe keine Probleme auf Riehen zukommen – auch demografisch nicht.» Cramer ist auch überzeugt, dass Riehen eine grosse Rolle in den Diskussionen um die Fusion der beiden Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft spielen wird, und glaubt: «Beim Baselbieter Modell würde Riehen an Autonomie verlieren.»


 

Und Cramers eigene politische Zukunft? Ist da möglicherweise das Amt des Regierungsrats ein erstrebenswertes Ziel? Über seine politische Laufbahn mag er keine Aussagen machen. Offenheit aber ist zumindest eine seiner Charaktereigenschaften. Das zeigt sich in den Worten, die er einmal an seine Parteikollegin, LDP-Präsidentin Patricia von Falkenstein, richtete: «Ich möchte schon noch einmal wissen, was du mit mir vorhast.»


 

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2013

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