Der Kettenacker-Verein Riehen
Werner Schär
Unter dem Patronat des damals noch einzigen Dorfpfarrers, Dr. L. E. Iselin, konstituierte sich vor etwas mehr als fünfzig Jahren, am 7. April 1918, der «Konfirmatenverein Riehen». Er vereinigte die an Ostern 1918 konfirmierten Töchter und Söhne des Schuljahrganges 1902/03. Als Wahrzeichen trug das Vereinswappen die gelbe Schlipfertulpe auf blauem Grunde. Diese wild wachsende, edle Blume schmückte zu jener Zeit zu Tausenden das noch weite, prächtige Rebgebiet des Riehener Schlipfs, zusammen mit dem dunkelblauen Lenzwunder, dem sogenannten «Tubechröpfli». Der neugegründete Verein hatte zum Zweck:
— Förderung des Interesses seiner jungen Mitglieder und der Dorfgemeinschaft für kirchliche und aktuelle Lebensfragen durch Vorträge geeigneter Referenten mit anschließender Diskussion
— Erhaltung der Freundschaft und Förderung des Gesanges
— Hebung der Liebe zu Heimat und Vaterland
— Veranstaltung von literarischen Abenden und Förderung des Dorftheaters durch Aufführung von klassischen Stücken und Werken baseldeutscher Mundart, letztere unter Regie von Moritz Ruckhaeberle u. a.
«Die Segnungen der Reformation», «Untergegangenes Christentum», «Christliche Völker in Afrika», «Die Schweiz im Weltkriege», «Die Unabhängigkeit der Schweiz» waren Themen, über welche, neben dem Ortspfarrer und Vereinsmitgliedern, bekannte Persönlichkeiten aus Riehen und Basel referierten. Die konservative und kritische Haltung eines Großteiles der damaligen Bevölkerung, welche rund 4000 Seelen zählte, allem Neuen gegenüber und ganz besonders, wenn dieses Neue von der Jugend stammte, brachte dem jungen Verein manche Schwierigkeiten. Unermüdlich setzte sich dessen initiative Leitung unter dem Präsidium des aktiven Studenten Walther U. Schär in Besprechungen
und langwierigen Diskussionen mit Eltern und Erziehern dafür ein, die unbegründete Skepsis zu überwinden. Um den Außenstehenden einen Einblick in das Vereinsleben zu verschaffen, wurden dieselben auf den 29. Dezember 1918 zu einem Familienabend eingeladen, den Pfr. Iselin mit ernsten Betrachtungen über Ziele und Zwecke des neuen Vereines eröffnete. Im Mittelpunkt des Abends stand ein Referat von Theodor Altenmüller aus Basel über «Die Basler Mission im Weltkriege». Umrahmt wurde die Veranstaltung durch ernste und heitere Darbietungen aus dem Mitgliederkreise. Obwohl der Besuch den Erwartungen nicht ganz entsprochen hatte, ließen die nachträglichen, positiven Berichte bisher Uninteressierte aufhorchen und weckten das Verständnis für die Bestrebungen der jungen Mitbürger. Nach wie vor versuchten die leitenden Organe des Vereins, welcher sich inzwischen im Andenken an den Riehener Reformator Ambrosius Kettenacker die Bezeichnung «Kettenackerverein Riehen» beigelegt hatte, die Unterstützung der ganzen Einwohnerschaft zu gewinnen. In diesem Sinne wurden die Mitglieder beeinflußt, der Bevölkerung den guten Zweck des Vereines durch sittliches Benehmen vor Augen zu führen. Die Losung lautete, daß «sich ein Jedes, unbeeinflußt von den Vorgängen auf dem vulkanisierten Erdball, bei richtiger Einstellung, mit seinen Mitmenschen ein Paradies im Kleinen schaffen könne!»
Beim ersten Stiftungsfest im seinerzeitigen Hotel-Restaurant Bischoffshöhe konnte die Vereinsleitung die erfreuliche Feststellung machen, daß trotz großer Hindernisse im allgemeinen ersprießliche Arbeit geleistet und ein großer Teil der Einwohner von den guten Zielen überzeugt werden konnte.
Am 6. Juli 1919 wurden «alle Jungen, Söhne und Töchter und alle, die der Jugend und der Jugendbewegung nahestehen, zu einer JugendVersammlung» zugunsten der notleidenden Auslandschweizerkinder in den Großen Gemeindehaussaal Riehen eingeladen. Pfr. Hans Anstein referierte an diesem Abend über «Jugendbewegung», eine Frage, die ihre Aktualität nie verliert und die auch damals großes Interesse und ein positives Echo fand.
Ab 1919 ließ sich zu dem Ortspfarrer Dr. L. E. Iselin auch der damalige zweite Geistliche der Diakonissenanstalt Riehen, Pfarrer Karl Brefin, für diverse Vorträge gewinnen, welche sehr gut aufgenommen wurden. Von den Vortragsabenden des Kettenackervereins sei hier noch derjenige vom 8. Mai 1921 über «Totentanz in Malerei, Musik und Dichtung» erwähnt, über den die «Basler Nachrichten» am 10. Mai 1921 wie folgt berichteten: «Der Vortragsabend des Kettenackervereins Riehen über... zeitigte einen bedeutenden Erfolg für die tatkräftigen jungen Veranstalter. Ein Lichtbildervortrag machte in vortrefflicher Weise die Zuhörer mit der Bedeutung und Entwicklung der Totentänze in den verschiedenen Zeiten bekannt... Der Vortrag wurde umrahmt durch Vorführungen von Totentänzen in Musik und Poesie. Drei sehr talentvolle Musiker führten in seelenvollem Spiel die berühmtesten Totentänze vor, die im Reiche der Töne geschaffen wurden. Einen nicht weniger hohen Genuß für die vielen Zuhörer, die den Saal bis auf den letzten Platz füllten, boten die mit Gefühl vorgetragenen Rezitationen aus dem Totentanz von Adolf Frey...» ähnliche Artikel erschienen in den übrigen Zeitungen.
Noch im Jahre 1921 stand Pfr. Iselin dem Kettenackerverein Riehen mit seinen guten Ratschlägen zur Seite und hielt unter anderem Referate über «Heimatschutz und Heimatliebe» sowie Wissenswertes aus der Geschichte Riehens. Damals war er mit der Abfassung der «Festschrift zur Jubiläumsfeier der 400jährigen Zugehörigkeit von Riehen zu Basel 1522—1922» beschäftigt. Leider konnte er diese große Arbeit nicht mehr persönlich zu Ende führen. Am 31. Mai 1922 erlitt er einen schweren Schlaganfall, der ihn ans Krankenbett fesselte und zur Einstellung jeder Tätigkeit zwang. Dies bedeutete auch für den Kettenackerverein, dem er stets ein treuer, väterlicher Ratgeber gewesen war, einen schweren Schlag. Glücklicherweise fand er in Pfr. K. Brefin einen verständigen Freund und Berater, der dem jungen Verein, welchem inzwischen auch weitere Jahrgänge als Mitglieder beigetreten waren, in jeder Lage beizustehen wußte. Unbeirrt wurde an der Verwirklichung der gesteckten Ziele weitergearbeitet, wozu die vorbildliche Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Mitgliedern wesentlich beitrugen.
Als im Jahre 1919 der 1968 in Luzern verstorbene Hans Lengweiler im Riehener Sekundarschulhaus eine Zusammenkunft früherer Mitglieder des Kirchengesangchores und weiterer sangesfreudiger Interessenten veranstaltete, ließ sich der Kettenackerverein durch seine
Leitung vertreten. Unter dem Präsidium von Lehrer E. Heyer und der Direktion des Gründers und ersten Vorstehers des Basler Schulfürsorgeamtes, Ulrich Schär, konnte unter Zuzug einer großen Interessengruppe aus allen Bevölkerungsschichten ein neuer Kirchenchor aufgebaut werden, dem auch mehrere Mitglieder des Kettenackervereins angehörten. Dieser Chor stieß auf Grund seiner Darbietungen und Konzerte auf großes Interesse und konnte beachtliche Erfolge erzielen. Die enge Verbindung zwischen ihm und dem Kettenackerverein führte zu gemeinsamen Veranstaltungen, die dem Wohl der Gemeinde dienten. über den ersten «Schubert-Abend» am 10. Dezember 1922 berichteten die «Basler Nachrichten» : «Zum ersten Male haben sich die beiden Vereine zusammengetan, um in bescheidenem Rahmen einen Musikerabend durchzuführen. Daß dieser Gedanke guten Anklang fand, bezeugt die stattliche Anzahl Zuhörer, die sich eingefunden hatte. Im Mittelpunkt des vielseitigen Programmes stand ein in schlichter und dennoch fesselnder Art durch Herrn U. Schär gehaltener Vortrag über Leben und Wirken des großen Meisters der Tonkunst. Ein sorgfältig ausgewähltes musikalisches Programm umrahmte das anregende Referat. Vorträge des Chores und eines Halbchores brachten eine Auslese aus dem reichen Liederschatz des Komponisten Schubert... Es ist zu hoffen, daß die beiden Vereine es nicht bei diesem wohlgelungenen Versuche bewenden lassen, sondern bald wieder in ähnlicher Weise einem Meister der Musik oder der Literatur einen Abend widmen.»
Diesem Wunsche wurde durch die beiden Vereine bereits am 8. April 1923 durch Veranstaltung eines «Uhland-Abend» entsprochen. Dieser Tag wurde für die Gemeinde Riehen im allgemeinen und den Kettenackerverein im besondern zu einem denkwürdigen Datum. Der UhlandAbend, umrahmt von gesanglichen Darbietungen des Kirchen- und eines Mädchenchores der Sekundärschule sowie von Rezitationen, welche nebst dem Vortrag das Bild Uhlands sowohl als Persönlichkeit als auch als Dichter vervollständigten, gestaltete sich zu einem vollen Erfolg. Aus den Pressestimmen sei der vielsagende Satz angeführt: «Wohl mancher, der nach Schluß der Veranstaltung durch die blühende Frühlingsnacht nach Hause schritt, vermeinte im Raunen der Blütenbäume die Töne des Schlußchores zu hören: ,Die linden Lüfte sind erwacht, sie säuseln und weben Tag und Nacht'.»
Ganz besondere Beachtung fand an diesem 8. April 1923 die Pfarrersatzwahl in Riehen. Obwohl die Pfarrwahlkommission als Nachfolger von Pfr. L. E. Iselin einen Mehrheitskandidaten in Vorschlag gebracht hatte, setzten sich die Mitglieder des Kettenackervereins und ihre Freunde für die Wahl von Diakonissenhauspfarrer Karl Brefin ein: nicht umsonst. Ihr Kandidat erreichte eine Stimmenzahl von 70 Prozent. An der Abstimmung beteiligten sich 668 Frauen und 646 Männer; das Resultat von 936 zu 362 Stimmen fiel eindeutig zugunsten von Pfr. Karl Brefin aus. Männerchor, Musikverein, Kirchengesangchor und Kettenackerverein ließen es sich nicht nehmen, die glänzende Wahl des neuen Gemeindepfarrers durch eine von der anwesenden Volksmenge begeistert aufgenommene Ovation zu feiern. In schlichten und bewegten Worten dankte der Gewählte für die ihm erwiesene Ehrung und das große Vertrauen der Bevölkerung. Er sprach die zuversichtliche Hoffnung aus, daß es ihm mit Gottes Hilfe gelingen möge, versöhnend zu wirken, in hingebender und selbstloser Nächstenliebe!
Karl Brefin hat seine Wähler nicht enttäuscht. Mit Liebe, Verständnis und großer Geduld setzte er sich für seine Kirchgemeinde ein. Den Kontakt mit ihr wußte er in seiner ihm eigenen Art, die alle Gemeindeglieder erfaßte, zu vertiefen. Durch Diskussionsabende in den Sälen der Gasthäuser zum Ochsen und Rößli oder des Restaurants Niederholz, welche speziell für Mitglieder und Freunde der Ortsvereine gedacht waren, konnte er auch eine große Anzahl Indifferenter oder sonst Unabkömmlicher ansprechen; seine Worte und Ratschläge fielen auf fruchtbaren Boden. Jedem Fragesteller wußte er auf überlegene und väterliche Weise zu antworten. Diese interessanten Ausspracheabende wurden umrahmt durch gesangliche oder musikalische Darbietungen der Vereine und durch speziell ausgewählte Rezitationen von Mitgliedern des Kettenackervereins. Letzterm stand er weiterhin in freundschaftlichem, förderndem Sinne zur Seite. Schon im Jahre 1921 verfaßte er für ihn ein Volksspiel in vier Akten unter dem Titel «Die Veilchen von St. Chrischona» ; es behandelte die Reformationszeit in Riehen. Den Aufführungen vom 28. und 29. Januar 1922 war ein derartiger Erfolg beschieden, daß am 5. Februar 1922 eine Wiederholung stattfinden mußte.
Aus den Presseberichten sei ein Ausschnitt aus den «Basler Nachrichten» vom 31. Januar 1922 angeführt: «... führte der Kettenackerverein Riehen im vollbesetzten Gemeindehaus-Saale ,Die Veilchen von St. Chrischona' auf. Im Mittelpunkt dieses trefflichen Volksspieles steht der Namenspatron des Vereins, Pfr. Ambrosius Kettenacker, der Reformator von Riehen. Das Stück, das eine lebendige Einführung in die bewegtesten Jahre des 16. Jahrhunderts bietet, gab den zahlreichen Mitgliedern Gelegenheit zur Entfaltung erfreulichen darstellerischen Könnens. Die Heldin, das Bauernmädchen Chrischona, brachte eine wahrhaftige Glanzleistung, die zum Erfolg dieser schönen Aufführung
das Beste beitrug.»
Wie bereits erwähnt, lag dem neuen Dorfgeistlichen der Kontakt mit seinen Gemeindegliedern besonders am Herzen. So war er mit seinem wohlgeformten Baß im Kirchenchor Riehen vertreten oder an Ausflügen zu sehen, welche der Kettenackerverein in die nähere und weitere Umgebung unternahm. An letztern erwies er sich als geschätzter Kenner der Heimat und als Verfechter des guten Volksgesanges.
Von den vielen Aufführungen, welche der Kettenackerverein im Laufe der Jahre inszenierte, sei hier lediglich noch ein «Schleiertanz» von Hugo Markert erwähnt. Er stieß beim Publikum auf helle Begeisterung. Auch Dichter, Musiker und Sänger jener Zeit wurden nicht vergessen. So fand unter anderm am 25. November 1923 ein «Huggenberger-Abend» statt, an welchem dieser bekannte Bauerndichter Gedrucktes und Ungedrucktes aus seinen Werken darbot. Umrahmt wurde der Abend durch den Vortrag der beiden vertonten HuggenbergerGedichte «Blaue Berge» und «Waldmärchen». Der in Riehen wohnhaft gewesene Musikpädagoge A. B. Uberwasser hatte die beiden Lieder komponiert und dem Kettenackerverein für diesen Abend zur Verfügung gestellt. Unter seiner Direktion gelangten sie zur Uraufführung, wobei sich ein Chor aus Vereinsmitgliedern und einigen Damen und Herren aus der Gemeinde bereitwillig zur Verfügung stellten. Gute Aufnahme fanden auch die Vorlesungsabende aus «eigenem Boden» von Herrn Julius Ammann und Frl. Probst sowie zwei Liederabende vom Lautensänger Hans Indergand.
So verstrichen die Jahre, die dem Kettenackerverein Riehen und dem mit ihm eng verbundenen Pfarrer Karl Brefin manche schöne, unvergeßliche Stunden brachten. Die damals geknüpften Freundschaften halfen über viele Sorgen hinweg, welche den einzelnen in den schweren Zeiten der Arbeitslosigkeit der zwanziger und dreißiger Jahre drückten. Gar manches Mitglied mußte damals sein weiteres Fortkommen im Ausland suchen, in andern Kantonen, oder, wenn irgendmöglich, in der nahen Stadt Basel. Dadurch dezimierte sich die Zahl der in Riehen ansäßigen Aktivmitglieder; der Verein war zur Aufgabe seiner Tätigkeit verurteilt. Seither haben verschiedene Gründerinnen und Gründer das Zeitliche gesegnet, doch die Bande der Freundschaft, welche vor fünfzig Jahren geschlossen wurden, haben sich unter den Zurückgebliebenen bis heute erhalten.