Der letzte Statthalter des Landbezirks Johann Jakob Heimlicher
Gerhard Kaufmann
Mit der am 22. Januar 1798 erfolgten Aufrichtung eines Freiheitsbaumes vor der Dorfkirche hatte neun Jahre nach deren Ausbruch die Französische Revolution auch Riehener Boden erreicht. Der Wellenschlag dieser grossen, ganz Europa erfassenden politischen und gesellschaftlichen Umwälzung war in Riehen vergleichsweise ein bescheidener. Les droits de l'homme, im Revolutionsjahr 1789 in Paris proklamiert, Hessen aber auch Riehen nicht ganz unberührt, lautete doch eines dieser Grundrechte:
«Alle Bürger sind in der gleichen Weise zu allen Würden, Stellungen und öffentlichen Amtern zuzulassen, ohne andere Unterschiede als ihre Tüchtigkeit und Begabung.»
Der vorwiegend im bäuerlichen Alltag verhafteten Riehener Bevölkerung waren diese neuen Rechte so gut wie unvorbereitet zugefallen, vor allem was die damit verbundenen Pflichten anbelangte. Es wundert deshalb nicht, dass sich unsere Vorväter mit der Selbstverwaltung und der neuerworbenen Autonomie anfänglich recht schwer taten und fast hundert Jahre ins Land gingen, bis Riehen über eine funktionsfähige, den erworbenen Rechten und Pflichten adäquate Gemeindeverwaltung verfügte.
Nun war es aber keineswegs so, dass mit der Gleichstellung aller Bürger auch die staatliche Oberaufsicht und Einflussnahme dahingefallen wäre. Nur, Basels Regierung der Kleine Rat - war weder bereit noch in der Lage, sich mit so nebensächlichen Geschäften, wie sie die Betreuung eines Bauerndorfes darstellt, herumzuplagen. Man delegierte diese Aufgabe an eine Vertrauensperson der eigenen Wahl, den Statthalter des Landbezirks. In der Zeit zwischen 1798 und 1873 waren es nacheinander sechs Persönlichkeiten1), die als Mittler zwischen den Landgemeinden und der Kantonsregierung, die nie aufgehört hatte, sich primär als Stadtregierung zu fühlen, fungierten und die Gemeinden bei ihren ersten Gehversuchen in die Selbständigkeit begleiteten. Der letzte in dieser Reihe war Johann Jakob Heimlicher (1826-1884), Doctor iuris und Notar. Er amtete von 1858 bis zu seinem Rücktritt im Jahre 1873. 1875 trat dann eine neue Kantonsverfassung in Kraft, die dem Departement des Innern die Aufsicht über die Landgemeinden übertrug. In den übergangsjahren zwischen 1873 und 1875 versah der dem Statthalter zugeordnete Bezirksschreiber mehr schlecht als recht auch noch dessen Funktionen.
Die verhängnisvolle Tatsache, dass die Basler Oberschicht es nie gelernt hatte, Bevölkerung und Amtsträger der Landschaft, das heisst der ehemaligen Untertanengebiete, als gleichberechtigte Partner anzuerkennen, geschweige denn auch als solche zu behandeln, hat bekanntlich zur Kantonstrennung von 1833 geführt. Nach 1833 war die Stadt zunächst derart mit sich selbst und den Folgen dieser Trennung beschäftigt, dass sie für die ihr verbliebenen drei rechtsrheinischen Gemeinden kein grosses Interesse zu erübrigen vermochte. Heimlicher war dieser Umstand natürlich bekannt, und er scheute sich nicht, in einem vom 11. November 1868 datierten und an seine vorgesetzte Behörde, den Kleinen Rat, gerichteten Schreiben auf diesen Schwachpunkt hinzuweisen.
«Hochgeachteter Herr Bürgermeister!
Hochgeachtete Herren!
Ein Gegenstand, welcher mich seit meinem Amtsantritte beständig lebhaft beschäftigte, war die Organisation des Landbezirks. Hätte man bei der Aufstellung der neuen Amtsordnung für den Statthalter die wirklichen Zustände im Landbezirk genauer ins Auge gefasst, es wäre wohl Manches aus derselben weggeblieben, was sich in der Praxis nicht ausführen lässt. Man nahm an, dass die noch in Kraft befindlichen Gesetze, Verordnungen und Réglemente, in Wirklichkeit auch ihre Ausführung fänden, und übersah, dass Sitte und Gewohnheit gar Vieles in aller Stille geändert hatten. Gewisse Einrichtungen, von welchen die Gesetzessammlung allerdings schwieg, wie z.B. Gemeindeschreiber, Protocoll, Archiv u.s.w. setzte man als selbstverständlich voraus, obgleich sie gar nicht, oder doch nur in dürftigster Weise vorhanden waren.
Es hängt dieses Alles mit der Thatsache zusammen, dass der Landbezirk seit der Trennung des Kantons sich möglichst selbst überlassen blieb. Die drei Landgemeinden auf dem rechten Rheinufer waren zu klein und zu unbedeutend gegenüber der Stadt Basel, als dass sie im Stande gewesen wären, die besondere Aufrnerksamkeit des Gesetzgebers, sowie der Administration auf sich zu lenken. Man beschränkte sich darauf, die notwendigsten Aenderungen in den Organisationen, namentlich der Gerichte anzubringen, und Hess im Uebrigen den Landbezirk seinen eigenen Weg gehen.»
Der im Jahre 1826 als einziger Sohn eines Baumeisters geborene Johann Jakob Heimlicher hatte sich entgegen dem Wunsch seines Vaters der Jurisprudenz zugewendet. Nach abgeschlossenem Studium wurde er Privatdozent an der hiesigen Universität. Er bekleidete zunächst die Stelle eines Ersten Kanzlisten der Staatskanzlei und etablierte sich später als Notar. Seinem Nachruf ist zu entnehmen, dass er sich durch schnelle Auffassung, grossen Scharfsinn und die Gabe klarer Darstellung auszeichnete. Er war in kurzer Zeit der gesuchteste Notar der Stadt, der die verwickeltsten Angelegenheiten mit grossem Geschick zu erledigen verstand. Daneben fand er auch noch Zeit, sich für kulturelle Belange zu engagieren, so namentlich für den Basler Gesangverein und die Basler Liedertafel. Die Funktion eines Statthalters für den Landbezirk übte er parallel zu seiner Notariatstätigkeit im Nebenamt aus.
Es darf im Rückblick als Glücksfall bezeichnet werden, dass diese vielbegabte Persönlichkeit unserer Gemeinde während 15 Jahren zur Seite stand. Für seine Tätigkeit brachte er drei wichtige Voraussetzungen mit, nämlich: er war ein profunder Kenner des formalen Rechtes, er kannte den baslerischen Regierungsapparat und Regierungsstil à fond und er war vertraut mit den drei Landgemeinden und wusste um deren Probleme und Sorgen wie kaum ein zweiter.
Aus der Korrespondenz zwischen dem Statthalter und seiner vorgesetzten Behörde geht zweifelsfrei hervor, dass es Johann Jakob Heimlicher war, der in personeller und organisatorischer Hinsicht den Grundstein zu unserer Gemeindeverwaltung gelegt hat. Dass in Riehen, der grössten der drei Landgemeinden, zur Zeit Heimlichers recht idyllische, um nicht zu sagen anarchische Zustände geherrscht haben, ist in einem Schreiben an den Kleinen Rat belegt: «Bekanntlich wird jeden Sonntag, wenigstens in Riehen, Gemeindeversammlung gehalten, auch wenn nichts zu beschliessen ist. Das Kantonsblatt wird verlesen, der Gemeinderath macht einzelne Anzeigen, wird auch hie und da interpellirt. In gemüthlichen Gruppen stehen die Bürger in der Gemeindestube umher, die Tabakspfeife oder Cigarre im Munde. Neben den Stimmberechtigten finden sich auch junge Burschen unter 20 fahren, Falliten, Bevogtete u.s.w. ein, und Niemand denkt daran, sie wegzuschicken. Ich bin weit davon entfernt, dieses allgemeine Interesse an Gemeindesachen tadeln zu wollen, aber es scheint mit doch nothwendig, <dieses gemüthliche Zusammenhocken unter der Linde> und die eigentliche Gemeindeversammlung als oberste Gemeindebehörde deutlich von einander zu trennen. Es darf nicht mehr vorkommen, dass man gegenüber einem förmlichen Gemeindebeschluss von competenter Stelle aus erklären kann, derselbe sei von Simpeln und Bevogteten, die gar nicht stimmberechtigt gewesen, durchgesetzt worden. Die Zählung der anwesenden Stimmberechtigten dürfte das geeignete Mittel sein, den Augenblick gehörig zu markieren, in welchem die eigentliche beratende Gemeindeversammlung beginnt.»
Für Heimlicher war es vor allem ein Anliegen, dem den Wechselfällen der Dorfpolitik ausgesetzten Gemeinderat eine die Kontinuität verkörpernde Gemeindeverwaltung an die Seite zu stellen. Heute bleibt uns, im Hinblick auf das uns interessierende Riehen festzustellen: wenn dem im dritten Viertel des vergangenen Jahrhunderts geübten Fortwursteln in Gemeindeangelegenheiten nicht ein Ende gesetzt worden wäre, hätte unsere Gemeinde ihre Selbständigkeit kaum ins zwanzigste Jahrhundert hinüberretten können.
Dass das Amt eines Statthalters für den Landbezirk ein undankbares war und Heimlicher deshalb wiederholt auf dessen Aufhebung gedrungen hat, geht aus seinem unter dem Datum vom 31. März 1869 an den Kleinen Rat gerichteten Rechenschaftsbericht hervor: «Für alle meine Bemühungen um das Wohl des Landbezirkes habe ich Undank geerntet, wohl aus dem einfachen Grunde, weil Alles was dem Menschen aufgezwungen wird, voti ihm nie anerkannt wird. Ich darf mir das Zeugnis geben, dass ich der unpopulärste Mann im Landbezirk war, und es wird meinem Nachfolger nicht anders gehen, falls ein solcher ernannt wird. »
Folgerichtig arbeitete Heimlicher auf die Schaffung einer vollamtlichen, angemessen besoldeten Gemeindeschreiberstelle hin. Seinen Antrag an die Hohe Regierung begründete er wie folgt: «Es ist mir in den 10 fahren, während welcher ich mein Amt bekleide, nicht gelungen, in einer der drei Gemeinden einen tüchtigen Genieindeschreiber zu finden, weil mir, wie man im täglichen Leben sagt, das Holz fehlte, um Pfeifen zu schneiden. Die Folgen dieses Mangels lassen sich in nachstehende Sätze zusammenfassen:
1° In keiner Gemeinde besteht ein richtiges Gemeindeprotocoll.
2 ° In keiner Gemeinde befindet sich ein ordentliches Gemeindearchiv.
3° In keiner Gemeinde befindet sich eine vollständige Gesetzessammlung.
Ein richtiges Gemeindeprotocoll kann schon desshalb nicht entstehen, weil es die Gemeinderäthe nicht für angemessen finden, den Gemeindeschreiber zu den Sitzungen des Gemeinderathes beizuziehen. Man giebt ihm hie und da an, was er dem Protocoll einverleiben soll. Die meisten Schreiben verfasst der Praesident und es ist ihm natürlich nicht zuzumuthen, dass er Concepte oder Abschriften dieser Schreiben behalte, um sie dem Archive einzuverleiben. So ist kein Mensch in der Gemeinde im Stande, sich an der Hand regelmässiger Aufzeichnungen und vorhandener Actenstücke zu vergewissern, wie früher in dieser oder jener Angelegenheit verfahren worden sei, und es geht die Continuitaet des öffentlichen Lebens in den Gemeinden verloren.»
Nach Auffassung Heimlichers sollte die Schaffung der Gemeindeschreiber-Stelle die Gemeinden in die Lage versetzen, die ihr obliegenden Verwaltungstätigkeiten korrekt und effizient abzuwickeln und damit den Weiterbestand der Gemeinden als selbständige Körperschaften sicherzustellen. Da gutes Zureden allein nichts fruchtete und tüchtige Leute schon damals ihren Preis hatten, liess Heimlicher schliesslich die Katze aus dem Sack und wurde, was die finanzielle Seite des Problems anbetraf, sehr konkret. In einem weiteren Schreiben an den Kleinen Rat lesen wir: «Der Gemeindeschreiber soll ein ständiger Beamter neben dem durch Volksgunst häufig wechselnden Gemeinde Rathe sein. In seinem Protocolle, in seinem Archive, selbst in seinem Kopfe soll die geschichtliche und rechtliche Entwicklung der Gemeindeverhältnisse aufgezeichnet sein. Er soll befähigt sein, vermittelst seiner Erfahrungen gewissermassen der Rechtsconsulent des Gemeinde Rathes zu sein. Schon dadurch, dass der Letztere angewiesen wird, den Gemeirideschreiber zu allen seinen Sitzungen beizuziehen, wird eine gewisse Ordnung in den Geschäftsgang kommen. Die hohe Bedeutung eines tüchtigen Gemeindeschreibers fängt übrigens allmälig an, den Gemeinderäthen selbst klar zu werden, aber nun findet die Sache einen andern Haken, nämlich die Bezahlung. Wenn man einen tüchtigen Gemeindeschreiber haben will, der die an ihn zu stellenden Anforderungen auch wirklich erfüllt, so muss er auch ordentlich bezahlt werden, und das will den Leuten nicht in deti Kopf. Mag für den Landmann das Schreiben auch häufig eine noch so saure Arbeit sein, so schätzt er sie doch nicht und die Gemeinden werden nie dazu zu bringen sein, die erforderlichen Summen aus dem Gemeindeseckel zu diesem Zweck zu votiren. Ich schlage dieselben ohngefähr folgendermassen an: für Riehen Fr. 7-800,— / Kleinhüningen Fr. 400,— / Bettingen Fr. 200,—.
Ich glaube nun, dass wenn der Staat sich entschliessen würde, die Hälfte dieser Kosten zu tragen, die andere Hälfte sehr wohl von den Gemeinden erhältlich sein würde. »
Heimlicher, ausgestattet mit dem Charisma des erfolgreichen Entwicklungshelfers, fand schliesslich Gehör. Dabei mag der sparsamen Basler Regierung der Entscheid erleichtert worden sein durch die sich damals schon abzeichnende Aufhebung des Statthalterpostens und die damit erzielbare Einsparung. Der Hintergedanke war, gewisse Administrativaufgaben, die bisher dem Statthalter oblagen, durch die Gemeinden erledigen zu lassen, was aber aufgrund gemachter Erfahrungen nur denkbar war, wenn sich eine in Kanzleigeschäften erfahrene Persönlichkeit gewinnen liess.
Ab 1872 leistete der Staat Beiträge an die Besoldung von Gemeindepräsident2), Gemeindeschreiber und Gemeindeschaffner (Gemeindekassier). Im Jahre 1877 bezog Riehens Gemeindeschreiber eine jährliche Besoldung von Fr. 600.—3), je zur Hälfte aus Staats- und Gemeindemitteln. Um die Höhe dieser - für eine vorerst noch nebenamtliche Tätigkeit - ausgerichtete Entschädigung richtig würdigen zu können, muss man wissen, dass damals der Taglohn eines Arbeiters bei zirka vier Franken lag. Erster besoldeter Gemeindeschreiber in der von Heimlicher vorgesehenen Art war Heinrich Weissenberger, der dieses Amt bis 1881 versah. Einen vollamtlichen Gemeindeschreiber kennt Rie hen erst seit 1895. Eine gewisse Tragik ist darin zu erblikken, dass es ausgerechnet dieser erste Amtsinhaber nach neuer Ordnung war, der, zum Gemeindepräsidenten aufgerückt, die durch Heimlichers Weitblick gerettete Selbständigkeit unnötigerweise preisgeben wollte4). Der Historiker Hans-Adolf Vögelin sieht als Grund für die Handlungsweise Heinrich Weissenbergers vor allem seinen schulischen Werdegang, indem er feststellt: «Weissenberger hatte als Jüngling einer alten Riehener Tradition folgend, die dem Kanton erstaunlicherweise nie zu denken gegeben hatte, das Gymnasium in Lörrach besucht... den Wert der Gemeindefreiheit konnte man weder am Gymnasium in Lörrach studieren noch bei der täglichen Lektüre der Basler Zeitungen.»5) In der Folge sah Riehen an der Spitze seiner von Jahrzehnt zu Jahrzehnt grösser werdenden Verwaltung Persönlichkeiten, die aufs Beste die von Heimlicher gehegten Erwartungen zu erfüllen wussten. Dabei ist bemerkenswert, dass zwischen 1895 und 1975, das heisst in einem Zeitraum von 80 Jahren, Riehen lediglich drei Amtsinhaber an diesem höchsten von der Gemeinde zu vergebenden Posten sah, nämlich Karl Prack (1895-1929), Samuel Stump (1930-1953), Rudolf Schmid (1953-1975). Alle drei haben der Gemeinde hingebungsvoll gedient, deren Selbständigkeit durch alle Fährnisse hindurch hochgehalten und sich auch bei der Kantonsregierung und der kantonalen Verwaltung Respekt und Ansehen verschafft.
Der Staatsbeitrag an die Besoldung des Gemeindeschreibers - seit 1956 als Gemeindeverwalter bezeichnet - ist erst mit der 1984 erfolgten Neufassung des Gemeindegesetzes dahingefallen. Die Gemeinderäte beider Fandgemeinden gaben der Regierung bei dieser Gelegenheit zu verstehen, Riehen und Bettingen seien nunmehr selber und ohne fremde Hilfe in der Lage, ihre Verwalter angemessen zu besolden.
Anmerkungen:
1) GKRS. 195 f.
2) vgl. aber RJ 1969 S. 53 f.
3) «Verwaltungs-Berichte des Regierungsrathes 1877», darin «Departement des Innern» S. 42
4) RGDS. 341 ff.
5) RGDS. 343 Ich danke Frau Christel Sitzler, Gemeindearchivarin. Sie war mir behilflich bei der Beschaffung des Materials und hat mir mit wertvollen Hinweisen gedient.