Der Traum vom grossen Gewinn


Michèle Faller


Das Lottospiel mit seinem kleinen Einsatz und dem möglichen grossen Gewinn bietet viel Potenzial für Träume. Hier ein paar Gedanken von Sachverständigen sowie einige Zahlen jenseits der sechs richtigen.


 

 

 

Wir treffen ihn am Kiosk an der Bahnhofstrasse. Zügig füllt er den Lottozettel aus. Ob die Zahlen, die er ankreuzt, eine besondere Bedeutung haben, ob es immer dieselben oder zufällig ausgewählte sind, ist ihm nicht anzusehen. Auch ob der Nervenkitzel angesichts des grossen Geldes, das ja mit der Abgabe des Zettels zur Möglichkeit wird, beim Setzen der Kreuze beginnt, bleibt verborgen. Er spüre dabei schon eine kleine Nervosität, sagt Rocco Cantaffa, der ab und zu Lotto spielt. 10 Franken pro Monat ist aber das Maximum, das er dafür ausgibt. Das meiste, das er je gewonnen hat, waren etwa 60 Franken. Die Frage, was er mit dem grossen Gewinn machen würde, beantwortet er vage. «Wünsche habe ich schon … Eine Reise? Ja, das wäre schön.» Natürlich weiss er, wie klein die Gewinnchance ist, was aber nicht heisst, dass er Lotto als reines Spiel betrachtet: «Zum Spass spiele ich nicht, nein. Es ist nur ein Traum.» Er lächelt. «Aber Träume geben ein gutes Gefühl.»


 

An vielen Kiosken hängt dieser Traum in der Luft. Wie viel Geld in ihn investiert wird, weiss Evelyne Müller*, die in einem der Riehener Kioske arbeitet und das Spielverhalten der Kundschaft seit Jahren beobachtet. «Was an Gewinnen ausgezahlt wird, muss ja vorher reingekommen sein. Wenn man da rechnet …» Sie selber kaufe nichts. Keine Lose und keine Lottoscheine, denn sie habe lieber das Geld eins zu eins. «Lieber den Fünfliber in der Hand als nachher im Kübel.» Die einzigen, die Gewinn machten, seien die Lottogesellschaften, ist sie überzeugt. «Ich weiss, ich bin extrem und das ist meine persönliche Meinung. Als Privatperson, nicht als Kioskverkäuferin», betont Müller. Sie traue sich nicht, etwas zu sagen, obwohl sie manchmal besorgt sei um die Leute. «Oft spielen jene, die es sich nicht leisten können. Das ist ja auch eine Sucht, oder?»


 

 

 

Spielen für den guten Zweck


 

Dass Spielen süchtig machen kann, verhehlt die 1937 als Interkantonale Landeslotterie gegründete Swisslos nicht. Ein Blick ins Internet zeigt auf der Startseite nämlich nicht nur ein zum Platzen dickes Sparschwein, sondern auch das Stichwort ‹Spielerschutz›, das mit einem Klick zum Spielsuchttest, zur Unterstützungshotline für Betroffene und Angehörige und zu Tipps «für ein Spielen ohne Sorgen» führt. Was die Rechnung der Kioskfrau aber noch bemerkenswerter macht, ist das Wissen um die Verteilung des gespielten Geldes: Es wird nämlich mitnichten nur so viel Geld fürs Lottospiel ausgegeben, wie nachher im fetten Jackpot landet, sondern noch viel mehr. Die Gewinne, die ausgezahlt werden, machen nur 55 Prozent des in die verschiedenen Swisslos-Produkte investierten Geldes aus – sei es Euro Millions, Swiss Lotto, Toto Goal, Rubbel- und Online-Lose oder etwas anderes. Den Rest steckt allerdings nicht Swisslos ein: Der Reingewinn – 30 Prozent des gespielten Geldes – geht an die kantonalen Fonds und wird ausschliesslich für gemeinnützige Zwecke und den nationalen Sport verwendet. 2016 waren das 413 Millionen Franken für Kultur, Sport, Umwelt, Soziales und Entwicklungshilfe. In den Detailhandel fliessen Provisionen von 8 Prozent des gespielten Geldes, 7 Prozent decken den Betriebsaufwand von Swisslos.1


 

«Wir sind eine Genossenschaft der Deutschschweizer Kantone und des Tessins und verdienen nichts am Lottospiel», betont Willy Mesmer, Mediensprecher von Swisslos. «Unser Auftrag erschöpft sich aber nicht in der Gemeinnützigkeit. Wir müssen die Zahlenlottos, Sportwetten und Lose auch sozialverträglich anbieten», sagt er und nennt die relativ niedrige Ausschüttungsquote von 55 Prozent. «Je höher die Ausschüttungsquote, desto mehr kann man gewinnen. Und je mehr man gewinnen kann, desto höher ist die Gefahr der Spielsucht.» Allerdings habe ein Los im Vergleich zum Lotto ein grösseres Spielsuchtpotenzial. «Immer bis Mittwoch oder Samstag auf die Ziehung zu warten – das interessiert keinen Spielsüchtigen», stellt Mesmer fest. Bei den Losen sehe man sofort, ob man gewonnen habe oder nicht. Da sei dieser Kick eher da.


 

 

 

Versuchung und Sucht


 

Präventionsmassnahmen seien einerseits die Spielsuchtbeauftragte – eine Psychologin, die Betroffene an die Beratungsstellen der Kantone weiterleitet und auf Hinweise von Kioskangestellten auch mal vor Ort das Gespräch sucht –, aber auch Limiten, die man beim Spielen im Internet selber setzen könne: jederzeit und sofort nach unten, jedoch nur mit zwei Tagen Verzögerung nach oben.


 

«Gewinne sofort bis zu 2 Millionen!» – «Ist heute dein Glückstag?» – «Mit Tippen kannst du ganz schön Geld machen!» Beissen sich diese Slogans nicht mit den oben genannten Vorkehrungen? «Ein gewisser Widerspruch wohnt dem Glücksspiel inne», räumt der Mediensprecher von Swisslos ein, «und den kann man nie ganz aufheben.»


 

Der Mann mit den kurzen Hosen und dem weissen Haar hält ein ‹Win for Life›-Los in der Hand. Er habe zwar nicht den Hauptgewinn, die monatlich 4000 Franken während 20 Jahren gewonnen, sondern nur 5 Franken, doch es fühle sich trotzdem gut an, sagt Peter Klein*. Er kaufe sonst eigentlich nie Lose. Das erste habe er geschenkt bekommen und 10 Franken damit gewonnen; den höchsten Gewinn bis jetzt. «Für 0 Franken Investition!» Den hat er in zwei neue Lose investiert. Heute komme er zum zweiten Mal, um mit dem erneuten Gewinn wieder ein Los zu kaufen. Die Adrenalinausschüttung beim Rubbeln halte sich bei ihm in Grenzen. «Den Hauptgewinn zu holen, ist unrealistisch», stellt Klein fest. «Da muss man ein Wahnsinnsglück haben.»


 

Das ist wissenschaftlich belegt. Die Wahrscheinlichkeit etwa, dass eine bestimmte Kombination von 6 Zahlen aus 49 eintritt, beträgt 1 zu 14 Millionen und ist damit noch kleiner als die Wahrscheinlichkeit, auf dem Weg zum Kiosk vom Bus überfahren zu werden. Allerdings kann man durch das Vermeiden von beliebten Zahlenkombinationen und gängigen Glückszahlen die Gefahr vermindern, im Fall von sechs Richtigen mit anderen Gewinnerinnen und Gewinnern teilen zu müssen. Doch abgesehen von den Zahlen an sich: Füllt man einmal wöchentlich ein Feldchen eines Lottozettels aus, wartet man angeblich bis zum ersten Hauptgewinn im Durchschnitt gut 200 000 Jahre.2


 

 

 

Bauchgefühl und System


 

Zielstrebig kommt sie zum Kiosk, kauft ein Los, rubbelt die Feldchen frei, geht ebenso zielstrebig zur Kioskfrau und streicht 40 Franken ein, wie wenn nichts wäre. Manchmal hat Felicitas Huber* so ein Bauchgefühl. Das Gefühl, sie müsse jetzt spielen. Und oft gewinnt sie dann etwas. Ansonsten hat das Spielen bei ihr System. Seit über zehn Jahren spielt sie immer mittwochs und samstags Schweizer Lotto, ihr Mann immer dienstags und freitags Euro Millions, und zwar beide immer mit denselben Zahlen. Zusammen geben sie zirka 300 Franken pro Monat dafür aus. «Diese bestimmten Zahlen möchte ich immer gespielt haben, auch wenn ich in den Ferien bin. Stellen Sie sich vor, ich würde es vergessen und meine Zahlen würden gewinnen!»


 

Felicitas Huber hat bereits Erfahrung mit grösseren Gewinnen. Bei einem Glücksspiel gewann sie innerhalb von weniger als drei Monaten drei Mal 10 000 Franken. «Als der Anruf kam, glaubte ich, ich sei im falschen Film», sagt sie. Trotzdem habe sie zwei Mal zur Überbringerin der Nachricht gesagt: «Ich glaube, wir hören uns noch einmal.» Mit dem richtig grossen Gewinn würde die Frau mit dem glücklichen Händchen ihre Kinder absichern, sich das Leben erleichtern, nicht mit Verwandten und Bekannten teilen, aber gezielt spenden. «Ich würde ein Kinderheim hier unterstützen und in Kroatien, wohin ich oft in die Ferien fahre, eins aufbauen.» Sie findet es wichtig, vorbereitet zu sein, um dann nicht aus allen Wolken zu fallen. «Man muss einen Plan B haben.»


 

Die Frage, warum sie mit dem Lottospielen begonnen hat, beantwortet Huber mit einer Gegenfrage: «Wer möchte nicht in einem grossen Haus leben, weniger arbeiten und genug Geld zum Leben haben?» Auslöser seien immer wiederkehrende Rubbellos-Gewinne gewesen und die verlässliche Tatsache, bei Tombolas regelmässig den Hauptpreis abzuräumen. Das verlegene Lächeln weicht plötzlich einem Kopfschütteln: «Letzthin habe ich gelesen, wie viele Leute ihren Gewinn nicht abholen. Sie geben einen Lottozettel ab und schauen dann nicht, ob sie gewonnen haben – das ist doch bescheuert!»


 

 

 

Die vergessenen Millionen


 

Tatsächlich waren es 20,5 Millionen Franken, die letztes Jahr bei Swisslos liegengeblieben sind. Und das ist keine Ausnahme, wie Willy Mesmer weiss. Die jährlich 15 bis 20 vergessenen Millionen setzten sich aus vielen kleinen Beträgen zusammen, was die Sache fast noch eindrücklicher macht. «Wenn der Jackpot hoch ist, spielen viele nicht routinierte Leute mit, die trotz drei bis vier richtigen Zahlen den Zettel wegwerfen, weil sie nicht realisieren, dass sie etwas gewonnen haben.» Beim Rekord-Jackpot im Schweizer Lotto mit 70 Millionen vergangenen Dezember seien bei einer einzigen Ziehung 287 000 Franken Gewinn nicht eingefordert worden. Das liegengebliebene Geld fliesst übrigens auch in den Reingewinn und damit in den guten Zweck.


 

Es kam auch schon vor, dass jemand die richtigen Zahlen hatte und doch keinen Gewinn ausgezahlt erhielt. Das war in den 1920er-Jahren, als in der Schweiz viele private und nicht immer seriöse Lotterien konkurrierten, die mit hohen Ausschüttungsquoten Kundschaft anlockten. Das am 1. Juli 1924 in Kraft getretene ‹Bundesgesetz betreffend die Lotterien und die gewerbsmässigen Wetten›, das immer noch in Kraft ist – ein neues Bundesgesetz, das alle Geldspiele regelt, ist in Arbeit – verbot schliesslich die Lotterien mit Ausnahme von jenen, die der Gemeinnützigkeit dienten. Die kantonseigenen Lotterien schlossen sich 1937 zur Interkantonalen Landeslotterie zusammen, der heutigen Swisslos.3


 

Natürlich reichen Glücksspiele viel weiter in die Vergangenheit zurück. Mit Würfeln in ihrer einfachsten Form wurde bereits im 3. Jahrtausend vor Christus gewonnen und verloren.4 Direkteste Vorläuferin des Zahlenlottos dürfte aber das ‹Lotto genovese› sein, das auf die Senatorenwahl in der Republik Genua von 1643 zurückgeht. Die fünf Senatoren wurden mit einem Glücksrad aus 110–120 Kandidaten ermittelt und im erwähnten Jahr konnte man erstmals auf die Gewinnernamen wetten. Später löste sich das Wettspiel von der politischen Wahl und man setzte auf 5 Zahlen von 1 bis 90, was sich bis heute in den Lotto-Kartenspielen erhalten hat. Für den guten Zweck wurde in Genua auch gespielt, etwa 1682, als 5 von 90 jungen Frauen je eine Aussteuer erhielten. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter den Lotterien überall und bis ins 20. Jahrhundert hauptsächlich die Fiskalinteressen des Staates standen.5


 

 

 

Kinderheim und neues Auto


 

Der Mann mit dem Hündchen steht am Kiosk an der Rauracherstrasse und füllt den blauen Zettel mit den gelben Sternchen aus. «166 Mio. CHF» steht in fetten schwarzen Lettern über dem Behälter mit den Euro-Millions-Lottoscheinen. «Ich spiele schon mein ganzes Leben Lotto, aber nicht regelmässig», sagt Andreas Hofer. «166 Millionen ist sehr viel», erklärt er den heutigen Einsatz von 27 Franken. Was war das meiste, das er je gewonnen hat? «Erfahrung», sagt Hofer mit breitem Grinsen, ist aber zuversichtlich für die nächste Ziehung. Er hat seine Tochter als Glücksfee dabei und schickt, nach oben blickend, zur Verstärkung noch einen Wunsch an den Engel hinterher. Mit den 166 Millionen würde er ein Waisenhaus in Marokko aufbauen, der Heimat seiner Frau. Und für sich selber? «Ich habe eine tolle Familie und tolle Kinder. Was gibt es Besseres? Geld ist sekundär.»


 

Das sieht Marco Schmid* anders, den wir abseits des Kioskes treffen. Auch er spielt nur, wenn mindestens 30 Millionen im Jackpot sind, doch aus einem anderen Grund: «Die Idee ist, dass ich nicht mehr arbeiten müsste.» Er würde dann nur noch das arbeiten, was er will. Etwa an einem Roman – und zwar ohne Angst zu verhungern, wenn dieser nicht fertig würde. «Natürlich wäre eine Million auch schön. Man könnte sich ein neues Auto kaufen und schöne Ferien machen. Aber so viel ist eine Million heutzutage nicht mehr.» Er fülle jeweils zwei Feldchen aus. Beim einen nehme er immer dieselben Zahlen, beim anderen lasse er den Zufallsgenerator entscheiden. «Ich fülle den Lottozettel immer am Computer aus», erklärt Schmid. «Gibt es überhaupt noch Leute, die ihn am Kiosk ausfüllen?»


 

Ob Kreuzchen setzen zwischen Kaugummis und Zigaretten oder per Mausklick am Computer, ob mit zufällig gewählten oder mit Glückszahlen, ob Bauchgefühl oder Mathematik: Alle, die Lotto spielen, hegen den Traum vom grossen Gewinn. Und so schwer es angesichts des drastischen Vergleichs mit dem Bus zu glauben ist: Es gibt auch Gewinner. Allein letztes Jahr sind 34 Spielernaturen dank einem Schweizer Los oder Lottoschein Millionäre geworden. Für die meisten aber bleibt es beim Traum. Vom eigenen Haus, vom neuen Auto, von der Weltreise oder der guten Tat – in die ja bereits das ganze verlorene Geld fliesst. Interessanterweise machen alle befragten Spielerinnen und Spieler bereits jetzt einen zufriedenen Eindruck. Vielleicht brauchen sie das Lottoglück gar nicht unbedingt? Mag sein. Aber Träume geben eben ein gutes Gefühl …


 

 

 

*Name geändert


 

 

 

1 Swisslos-Geschäftsbericht 2016, S. 4f. und S. 11. Die quantitative und thematische Verwendung der Lotterieerträge sowie die Millionärsstatistik sind auf www.swisslos.ch einsehbar.


 

2 Walter Krämer: Lotto spielen, aber richtig, in: Frankfurter Allgemeine, 10.11.2012.


 

3 Katrin Kalt: Zettel, Zahl und Zufall. Glück und Glücksspiel am Beispiel des Schweizer Zahlenlottos, Zürich 2004, S. 53–60.


 

4 Ulrich Schädler: Schicksal – Chance – Glück. Die vielen Seiten des Würfels, in: ders. (Hg.): Spiele der Menschheit, Darmstadt 2007, S. 9.


 

5 Kalt, S. 39f.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2017

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