Die Bürgerkorporation Riehen

Theodor Seckinger

Der alte Gemeindehaussaal an der Baselstraße war reich geschmückt, und zwei hübsche Riehener Trachtenmädchen zierten das Podium, als die Bürgerkorporation Riehen am 22. Februar 1946 anläßlich einer öffentlichen Gründungsfeier ins Leben gerufen wurde. Dieser imposanten Feier, umrahmt von Gesangseinlagen und dem Rezitieren von Heimatgedichten, gingen während einigen Monaten zahlreiche Sitzungen und Versammlungen der Gründer voraus. Der geistige Initiant der Bürgerkorporaüon war der am 2. März 1891 geborene Hans StumpRuckstuhl, der darnach trachtete, Männer aus den ältesten Riehener Familien als Gründer zu gewinnen, um dadurch im Dorfe das Interesse für unsere Heimat zu heben. Wir finden daher die folgenden Namen in der Gründerliste: Baerwart, Basler, Eger, Löliger, Martin, Meyer, Meyerhofer, Mory, Prack, Schäublin, Schlup, Schmid, Schultheiss, Schweizer, Seckinger, Sulzer, Stücklin, Stump, Trächslin, Unholz, Vögelin, Weissenberger, Wenk.

Die Idee und der Zweck der Bürgerkorporationsgründung waren:

 

1. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand die große Wahrscheinlichkeit, daß sich die Stadt Basel ungewöhnlich stark ausdehnen könnte. Eine solche Entwicklung schloß die Gefahr in sich, daß die umliegenden Gemeinden, vor allem aber das im Kanton selbst liegende Riehen, eingemeindet würde. Gegen eine solche Möglichkeit wollte man die Bürger von Riehen mobilisieren, da die Erfolgsaussichten für eine Abwehr nur in der Zusammenfassung und systematischen Bearbeitung der heimattreuen Bürger selbst bestehen konnte.

2. Die Initianten waren sich bewußt, daß zugleich auch ein steiler Anstieg der Einbürgerungen erfolgen würde. Der allgemeine Bevölkerungszuwachs, dann aber auch die Anwesenheit von aus den Diktaturstaaten geflohenen staatenlosen Ausländern ließen auf diese Entwicklung schließen. Im Gegensatz zur Stadt Basel hätten diese Neubürger ohne die Bürgerkorporation keine Möglichkeit gehabt, die Altbürger kennen zu lernen, wie dies die Zünfte in der Stadt oder die Bürgerkorporation Kleinhüningen vermitteln können.

Schon diese beiden Punkte drängten eine Gründung förmlich auf, abgesehen von den weiteren Aufgaben, die sehr bald sichtbar wurden und es auch als angezeigt erscheinen ließen, in den Aufgabenkreis der Bürgerkorporation aufgenommen zu werden. Nach der Gründungsfeier betrug die Mitgliederzahl 176 Bürger, wobei das große Interesse, das besonders viele außerhalb der Gemeinde wohnhafte Mitbürger an den Tag legten, die Initianten angenehm überraschte. Der weitere Aufstieg erfolgte dann sehr rasch, besonders nachdem einige Kritiker erkennen mußten, daß die in den Statuten verankerte politische und konfessionelle Neutralität Tatsache war und auch bei allen Anlässen strikte eingehalten wurde. So kletterte die Zahl der Mitglieder im dritten Jahre auf 310, und Ende März dieses Jahres erreichten wir den Bestand von 523 Mitbürgern. Ein großer Teil der stimmberechtigten Riehener Bürger zählt sich heute zu den Mitgliedern der Bürgerkorporation. Dazu mag auch die Stabilität des Vorstandes beitragen, hat doch unser erster, sehr verdienter Präsident Adolf Vôgelin-Donzé als treuer Steuermann zwölf Jahre auf seinem Posten gedient, bevor er ihn auf eigenen Wunsch seinem jetzigen jüngeren Nachfolger überließ. Auch dieser steht bereits wieder in seinem neunten Präsidialjahr. Der rührige Initiant selbst, Hans Stump, konnte nur eine relativ kurze Zeit das Vizepräsidium innehaben, denn unerwartet starb er am 29. September 1949. Seine guten Ideen fielen aber auf einen fruchtbaren Boden.

Das Interesse für unsere öffentlichen Bürgerversammlungen war nach dem Krieg auf einen Tiefpunkt gesunken, und sehr oft konnte man eine Beteiligung von nur 30 bis 40 Bürger feststellen. Durch unsere Inserate und auch sonstige Propaganda wurde der Besuch wieder lebhafter, und erst seit der Einführung der offenen Abstimmung bei den Bürgeraufnahmen stellen sich erneut Ermüdungserscheinungen ein. Das mag daher rühren, daß dieser neue Modus der offenen Abstimmung vielen Mitbürgern nicht paßt. Es wäre sehr zu bedauern, wenn deswegen alte Bürger in Zukunft den Bürgerversammlungen fern blieben. Der Vorstand der Bürgerkorporation begrüßte es auch, wenn Schweizerbürger, die schon viele Jahre oder gar Jahrzehnte in unserer Gemeinde leben, sich vermehrt um das Riehener Bürgerrecht bewerben. Bestimmt dürfen wir damit rechnen, daß solche Personen unser Ziel, auch in Zukunft die Unabhängigkeit der Gemeinde zu erhalten, unterstützen werden.

Die weiteren Aufgaben der Bürgerkorporation bestehen vornehmlich in ideellen Zielen; in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Bürgerkorporation sehr klar von unsern historischen Unterhaltungsvereinen. Neben den bereits erwähnten Punkten nenne ich hier im besonderen den Banngang, die Schwesternausfahrt, die Ausfahrt der Insassen des Landpfrundhauses, die Herbstführung und als Höhepunkt den Korporationsabend. Einige dieser Aufgaben verdienen, an dieser Stelle näher beschrieben zu werden.

Der Banngang. Während in vielen Gemeinden und Städten der Schweiz der jährliche Banngang eine alte Tradition bedeutet und teilweise auch sehr festlich begangen wird, wurde dieser Brauch in Riehen erst durch die Bürgerkorporation ins Leben gerufen, damit unsere Bürger den komplizierten Grenzverlauf besser kennen lernen. Alljährlich am ersten Sonntag im Mai versammeln sich die Frühaufsteher um sieben Uhr entweder bei der Trolleybushaltestelle Hörnli oder beim Zollamt Lörracherstraße. Die Länge unserer Banngrenze würde die Begehung in nur einem oder zwei Abschnitten nicht gestatten; unsere Gemeindegrenze mißt immerhin 19 km 320 m, stößt an sieben Gemeinden, wovon drei schweizerische und vier badische. Schon die Tatsache, daß der größte Teil der Banngrenze gleichzeitig die Landesgrenze bildet, gestaltet diese so interessant, daß längere Halte nicht vermieden werden können. Denken wir nur an den Abschnitt Zollamt Lörracherstraße—Stettenloch—Eiserne Hand—Maienbühlhof-Autal. Hier brauchen wir ortskundige Führer, die uns mit der Fülle von verschiedenen Eindrücken bekannt machen können. Gemeinderat Gottlieb Prack zeigt uns den genauen Grenzverlauf und führt uns beim Anblick der altehrwürdigen Grenzsteine in Gedanken um einige Jahrhunderte zurück. Oder was wäre dieser Gang durch den frischen, kühlen Wald, wenn uns Walter Schmid, unser Gemeindeförster, «seinen» mit viel Liebe besorgten Bürgerwald nicht erklärte! Wir hören von den schönsten Lärchen im Riehener Wald, aber wir vernehmen auch, wo man noch Steinpilze und Pfifferlinge finden kann. Karl Meyer, der immer frohgelaunte Wildhüter, verrät uns, wo die Rehwechsel sind oder wo er eine Wildsau geschossen hat. Seine große Form erreicht er aber erst beim «Znüni» im Maienbühlhof, wo er mit seinen Erinnerungen und Naturgeschichten die Bürgerschaft unterhält. Ein Schuß aus seiner Doppelflinte kündet in der Regel das nahe Ende des Maienbühl-Bannganges an.

Ein Jahr später treffen sich gewöhnlich die gleichen treuen Bürger zum Banngang, Abschnitt Mittelberg. Vom historischen Standpunkt nicht so vordrängend wie der Maienbühl, vermittelt er uns aber eine Menge von landschaftlichen Schönheiten. Wir werden zwar gleich zu Beginn der Landesgrenze einige Zeit untreu und «verirren» uns (pardon, mit Bewilligung) in den Nachbarbann Grenzach. Es lohnt sich, am frühen Morgen, wenn die Sonne noch weit im Osten steht, den Rundblick vom Hornfelsen zu genießen. Als dunkle Rücken liegen die Juraketten in der Ferne, während zu unsern Füßen rechts das weite Häusermeer der Stadt Basel liegt. Direkt unter uns dehnt sich der große Birsfelder Umschlaghafen mit seinen Silos und Lagerhäusern aus und beweist uns allen sehr eindrücklich, wie wichtig die Rheinschiffahrt für Basel und die ganze Schweiz geworden ist. Wie ein Spielzeug fügt sich das Kraftwerk Birsfelden in die frischgrüne Landschaft, und man könnte glauben, alles sei immer so gewesen. Denken wir aber doch daran, daß dieser große Rheingraben vor Jahrmillionen bei einem großen Erdbeben abgesunken und entstanden ist. Wir können es nicht vermeiden, auf unserm weitern Weg auch unsern lieben Bettingern einen kurzen Besuch abzustatten, bevor wir dann hinter dem Rüteli definitiv den Mittelberg betreten. Der gemütliche Teil bei der wunderschön gebetteten Blockhütte kann daher bald beginnen. Schon erklingt, durch die Mitglieder des Männerchors und der Gesangssektion des Turnvereins vorgetragen, das schöne und passende Lied «Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben». Nach dem langen Marsch durch den frischen Maiwald munden dann Klopfer und Brot wie ein Leckerbissen. Aber hier darf noch nicht abgebrochen werden; diesmal geht es weiter gegen das Chrischona tal und zur Nordhalde. Der steile Abstieg in das Haid bringt manchem Teilnehmer etliche Schwierigkeiten, aber doch frohgelaunt löst sich die Schar im Oberdorf auf. Jeder freut sich auf das nächste Jahr, auf das Wiedersehen im Schlipf.

Dieser dritte Teil des Bannganges liegt größtenteils in der Ebene. Vom Hörnli schreiten wir stolz dem «Riehener Rhein» entlang (der allerdings nur noch 107 m mißt) und streben dann raschen Schrittes via Landauerquartier und Bäumlihof den Langen Erlen zu. Auf dem rechten Wieseufer stoßen wir auf einen interessanten DreigemeindenGrenzstein, der uns die Grenzen von Riehen, Basel und Weil markiert. Je nach dem vorangegangenen Witterungscharakter treffen wir die Wiese, «des Feldbergs liebliche Tochter», als schäumendes, galoppierendes Pferd oder als fast versiegenden Tümpel. Der Gang durch den Schlipf löst fast paradiesische Gefühle in uns aus, denn hier ist die Natur bedeutend weiter voran als in der übrigen Gemeinde. Das Blütenmeer der vielen hundert Obstbäume läßt unser Herz vor Stolz höher schlagen, eine solch schöne Heimat zu besitzen. Aber bitte keinen Neid, denn schließlich waren es hauptsächlich die Riehener Bürger, die vor Jahrzehnten ihren fruchtbaren Boden mit diesen vielen Obstsorten bepflanzt haben. Schon begrüßt uns beim Betreten der Liegenschaft unseres «Landwirtschaftsministers» Rud. Rinklin eine Elite des Musikvereins Riehen mit einem flotten Marsch. Das kleine Volksfest der Bürger kann beginnen, oft auch unterbrochen durch Vorträge des Jodlerclubs Riehen. Trotz der Stadtnähe fühlt man sich hier so richtig auf dem Land; das Bauernbrot vom Hof schmeckt wie frische Weggli, besonders wenn es mit feingekühltem Schlipferwein die Kehle hinunterrutscht. Die Photosammlung der Korporation wird hier mächtig erweitert, denn viele unserer fernen Mitglieder wollen im Schlipf dabei sein. Aber wie alles Schöne im Leben nimmt auch diese Begegnung von Freunden ein Ende, und damit schließt sich auch der Ring des Riehener Bannes.

Die Schwesternausfahrt. Jedermann kennt ja die große und schöne Aufgabe unserer Diakonissinnen, so daß es nur eine Selbstverständlichkeit bedeutet, wenn wir unsern lieben Riehener Schwestern alljährlich einen Liebesdienst erweisen. Jeweils an einem Samstagnachmittag Ende Mai oder anfangs Juni stellen sich 40 bis 50 Autobesitzer uneigennützig zur Verfügung, um besonders die älteren Schwestern vor dem Mutterhaus in ihre Wagen aufzunehmen. Die lange Autokolonne schlängelt sich gemächlich durch die frischgrüne und teils noch blühende Landschaft des Juras oder des Schwarzwaldes. Irgendwo unterwegs offeriert die Bürgerkorporation ein «Zvieri», das dann Anlaß gibt, kurze Zeit gemütlich und unbeschwert zusammenzusein. Freude und Dankbarkeit leuchtet aus den Augen der Schwestern, und jeder Automobilist fühlt bereits, daß er das Datum für die nächste Ausfahrt reservieren wird.

Der Korporations-Abend bildet den Höhepunkt unseres Jahresprogrammes, ähnlich wie bei den Zünften in der Stadt der Zunfttag mit dem Zunftessen. Das Datum dieses Abends ist nicht willkürlich gewählt, sondern es ist geschichtlich verankert. Der Abend darf am 22. Januar oder muß am darauffolgenden Samstag stattfinden, zur Erinnerung an den am 22. Januar 1798 in Riehen errichteten Freiheitsbaum (siehe Geschichte des Dorfes Riehen von D. L. Emil Iselin, Seite 207). Der Korporationsabend soll der Ausgangspunkt einer besseren Kontaktnahme von Alt- und Neubürgern sein, denn wo sonst als bei einem gemütlichen Zusammensein, beim Essen, bei Gesangs- und Musikdarbietungen werden Gegensätze überbrückt und neue Freundschaften geschlossen. Je größer ein Gemeinwesen wird, desto mehr wirkt sich die Zerrissenheit innerhalb der Bevölkerung aus und um so mehr wird der Mensch unpersönlich. Diesem Zustand entgegenzutreten, ist eine Hauptaufgabe unseres Abends. Doch werden dabei unsern Mitgliedern auch die geschäftlichen Belange zur Genehmigung unterbreitet: Jahresbericht und Kassabericht; die Neuwahl des Vorstandes erfolgt alle drei Jahre. Der würdige Abschluß des geschäftlichen Teiles bildet jeweils die Ernennung zu Veteranen all derjenigen Mitglieder, die im vergangenen Kalenderjahr 70 Jahre alt geworden sind. Zu einem Ehrentrunk aus dem von unserem ersten Ehrenpräsidenten Ad. VögelinDonzé gestifteten, wunderbaren «Vögelibecher» werden jeweils sämtliche im Saal anwesenden Veteranen eingeladen. Der zurzeit älteste Riehener Bürger Jakob Peter, geboren 1875, läßt es sich dabei nicht entgehen, stets anwesend zu sein. In diesem Zusammenhang darf kurz erwähnt werden, daß die älteste Bürgerin und der älteste Bürger von Riehen zu jedem Weihnachtstag durch die Bürgerkorporation beschenkt werden.

Nach diesem kurzen Bericht schließt sich unser Protokollbuch wieder. Dieses Buch ist übrigens eine Zierde der Bürgerkorporation; es wurde von unserem im April dieses Jahres verstorbenen Mitglied Ernst Schroth-Faes gestiftet. Sein Einband aus weißem Kalbsleder hat eine besondere Bedeutung, weil die andere Hälfte dieses Leders als Einband eines persönlichen Geschenkes an Königin Elisabeth von England diente. Bei der Krönungsfeier wurde der Königin das Original des Hochzeitsmarsches von F. Medelssohn-Bartholdy in diesem prächtigen Einband durch einen Nachkommen des Komponisten als Gabe offeriert. In unserm Buch hingegen sind viele Bauernhäuser, Scheunen und Winkel aus dem alten Dorf Riehen durch prächtige Zeichnungen von unserem ehemaligen Vorstandsmitglied Hans Schlup-Schaub verewigt worden.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1966

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