Die Chance in der Krise sehen
Nathalie Reichel
Riehen verzeichnete am 27. Februar 2020 in der Kita Neumatten den ersten Covid-19-Fall im Kanton Basel-Stadt. Zu jenem Zeitpunkt ahnte wohl niemand, welche Auswirkungen das Coronavirus mit sich bringen würde. Zweieinhalb Jahre später erinnere ich mich an meinen eigenen Krankheitsverlauf, während im Anschluss Personen aus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen berichten, wie sie
die Pandemie generell erlebt haben.
«Ihr Test ist positiv, das heisst, das neue Coronavirus wurde bei Ihnen nachgewiesen. Bitte bleiben Sie ab sofort zu Hause.»
Nun also doch. Nach all dem, was ich ein ganzes Jahr lang über dieses Virus gehört und gelesen hatte, nach all den Monaten, in denen es schon längst auch physisch unter uns war, hatte es mich selber erwischt. Und jetzt? Grosse Ungewissheit machte sich breit, unzählige Fragen schossen mir durch den Kopf: Wie wird die Krankheit verlaufen? Wie kaufe ich Lebensmittel ein? Habe ich etwa unbewusst schon jemanden angesteckt? Und wo habe ich mich überhaupt angesteckt?
Weitere Gedanken gesellten sich bald hinzu: Ich habe mich doch stets an alle Massnahmen gehalten, Kontakte, so gut es ging, vermieden und auf Reisen in die zweite Heimat verzichtet. Doch da half alles Überlegen und Fragen nicht weiter. Ich musste mich damit abfinden und abwarten. Punkt.
Am Anfang war es ein seltsames Gefühl, nicht aus dem Haus gehen zu dürfen, doch dann gewöhnte ich mich daran. Nach einigen Tagen begann ich vorsichtig die Vermutung aufzustellen, der Krankheitsverlauf werde erträglich bleiben – trotz fehlender Impfung, die damals für meine Altersgruppe noch nicht zur Verfügung stand. Die Symptome glichen jenen einer stärkeren Erkältung und liessen sich mit Paracetamol und Vitaminen – oder dem Placebo-Effekt – lindern. Unangenehm waren allerdings die anhaltende Müdigkeit und der Geschmacksverlust. Der kantonsärztliche Dienst meldete sich zwischendurch und erkundigte sich nach meinem Gesundheitszustand. Ich fühlte mich gut aufgehoben.
«Sie dürfen wieder hinaus, falls Ihre Symptome abklingend sind», sagte mir dieser nach neun Tagen Isolation. Das waren sie. Und so verliess ich am zehnten Tag wieder das Haus – mit einem unglaublichen Gefühl der Freiheit, vor allem aber der Dankbarkeit, Corona so gut überstanden zu haben.
Katja Müller, Ärztin
«Ausnahmezustand»
Von der Unsicherheit zur Dankbarkeit
Besonders das erste Pandemiejahr sei für Katja Müller, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und Inhaberin der Praxis im Singeisenhof, eine intensive Zeit gewesen: «Während des ersten Lockdowns sind die Konsultationszahlen zwar zurückgegangen, doch wir hatten in der Praxis alle Hände voll zu tun, vor allem mit telefonischen Beratungen.» Gros-se Unsicherheit habe in der Anfangszeit nicht nur die Allgemeinheit, sondern auch die Ärzteschaft geprägt. Diese sei mit einem völlig neuen Krankheitsbild konfrontiert gewesen, zu dem es damals noch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, geschweige denn Leitlinien gegeben habe. Fehlende soziale Kontakte sowie Zukunfts- und Existenzängste hätten bei vielen der Patientinnen und Patienten zu depressiven Episoden, Angstzuständen und Vereinsamung geführt.
Luft nach oben hatten laut Katja Müller eindeutig die Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Behörden: «Zu Beginn der Pandemie waren Telefonhotlines überlastet und eine zeitnahe Kommunikation mit den Kantonsärzten und dem Gesundheitsdepartement war nur eingeschränkt möglich.» Die Ärztin blickt trotz allem auch positiv in die Coronazeit zurück, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Aus wissenschaftlicher Sicht habe sie es «unglaublich toll» gefunden, dass so rasch eine wirksame Impfung entwickelt worden sei. Auch habe die Digitalisierung in der Medizin gros-se Fortschritte gemacht. Vor allem aber schätzt Katja Müller den grossen Respekt und die Dankbarkeit, die die Bevölkerung den Berufsgruppen im Gesundheitswesen in dieser Zeit entgegengebracht habe.
Felix Wehrli und Hansjörg Wilde, Gemeindeführungsstab Riehen
«Herausfordernd» / «Lehrreich»
Schnelle Reaktion der Gemeinde
Die ersten Monate seien die herausforderndsten gewesen, sind sich der Chef des Gemeindeführungsstabs Felix Wehrli und sein damaliger Stellvertreter Hansjörg Wilde einig. Innert kürzester Zeit habe man Strukturen festlegen und Aufgaben definieren müssen. Sitzungen des Führungsstabs seien schnell zur Tagesordnung geworden. Die Gemeinde habe schon früh Massnahmen ergriffen, die teils strenger gewesen seien als jene des Kantons, so zum Beispiel die Bereitstellung von Desinfektionsmitteln im Gemeindehaus oder die Begrenzung der Besucherzahl bei Anlässen. Dem Gemeinderat sei es stets ein Anliegen gewesen, die Gemeindeverwaltung offen zu halten und die Bevölkerung gut durch die Pandemie zu bringen. «Aus unserer Sicht haben wir keine Fehler gemacht, aber natürlich trotzdem viel gelernt in dieser Zeit», findet Felix Wehrli.
Teils heftig in der Bevölkerung kritisiert wurde die Tatsache, dass es in Riehen kein Impf- und lange auch kein Testzentrum gegeben hat. Während ein kommunales Impfzentrum nicht als nötig erachtet worden sei, da das kantonale am Messeplatz sich in unmittelbarer Nähe befunden habe, sei ein Testzentrum zwar in Betracht gezogen worden, doch zunächst personell nicht möglich und finanziell nicht sinnvoll gewesen, so Wehrli und Wilde. Anders sei dies später beim Testzentrum im ‹2wei› gewesen, wo der Bund die Kosten übernommen habe. Positiv blicken sie auf die Zusammenarbeit mit dem Kanton zurück, die sich während der Pandemie offenbar verbessert hat. Wilde ist überzeugt: «Der Kanton hat gemerkt, dass auch er profitieren kann, wenn er die Gemeinde mehr in seine Geschäfte einbezieht.»
Nicole Müller und Monika Schröter, Schulleiterinnen
«Belastend»
Schulunterricht mit Maske
Wider Erwarten erachten Nicole Müller und Monika Schröter, Schulleiterinnen der Primarstufe Wasserstelzen, nicht die Schulschliessung als grösste Herausforderung der Pandemie, sondern die Zeit mit den strengen Masken- und Testregelungen. «Während die Schliessung eine Massnahme war, die für alle gegolten hat, waren das Maskentragen und die Teilnahme an den wöchentlichen Tests lange freiwillig», erklären die Schulleiterinnen. Dies habe durch unterschiedliche Grundhaltungen zu starken Meinungsverschiedenheiten geführt. Zum Teil seien damit auch einzelne Kinder ausgegrenzt worden, die nicht an den Tests hätten teilnehmen dürfen. Für die Schule sei jederzeit der Gesundheitsschutz der Kinder und der Mitarbeitenden im Vordergrund gestanden.
Die belastende Wirkung der Coronakrise hat die Schulleitung auf vielen Ebenen zu spüren bekommen: «Sie hat die Zusammenarbeit innerhalb des Kollegiums stark behindert, die Interaktionen unter den Schülerinnen und Schülern erschwert und die vertrauensvolle Beziehung zwischen Schule und Elternhaus beeinträchtigt», findet Nicole Müller und kommt auch auf ganz praktische Schwierigkeiten zu sprechen: Wie erklärt die Lehrperson einem Kind etwas auf dem Arbeitsblatt, wenn sie gleichzeitig Distanz wahren muss? Wie können Erstklässler das Alphabet mit der heutzutage geläufigen phonetischen Methode lernen, wenn sie Maske tragen? Und wo findet die Schulleitung Lehrkräfte, die spontan einspringen, wenn die regulären Lehrpersonen coronabedingt ausfallen? Die klaren Anweisungen seitens des Kantons bezüglich der jeweils geltenden Massnahmen und die Öffnung der Lehrpersonen gegenüber digitalen Medien als Unterrichtsmittel behalten Monika Schröter und Nicole Müller hingegen positiv in Erinnerung.
Patrik Eggenschwiler, Grenzwächter
«Ausserordentlich»
Gesperrte Grenzübergänge in Riehen
Dass jemals die Grenzen geschlossen würden, damit hätte Grenzwächter Patrik Eggenschwiler nicht gerechnet. Als dies im März 2020 vom Bund beschlossen wurde, hielt er abwechselnd an den nur in Riehen noch geöffneten Grenzübergängen an der Grenzacherstrasse (Hörnli Grenze) und Lörracherstrasse (Riehen Grenze) Wache. Die Grenzen zu Weil und Inzlingen waren mit Gittern und Betonblöcken zugesperrt, während auf Wanderwegen Plastikbänder das Durchgangsverbot kennzeichneten.
Diese Zeit habe Patrik Eggenschwiler an die Situation vor dem Schengen-Beitritt der Schweiz 2008 erinnert. «Wir mussten jedes Auto, jeden Velofahrer, jede Passantin anhalten und kontrollieren, ob sie die notwendigen Dokumente dabeihatten.» Erlaubt war die Einreise in die Schweiz nur Schweizerinnen und Schweizern, Personen mit Aufenthaltsbewilligung sowie Grenzgängerinnen und Grenzgängern. Familien- und Freundesbesuch war verboten, der Einkaufstourismus ebenso. In den meisten Fällen habe Eggenschwiler die Leute als sehr kooperativ wahrgenommen, in Riehen sei es höchstens zu verbalen Auseinandersetzungen gekommen. Bei Verstoss gegen die Regeln – etwa an den geschlossenen Grenzübergängen, die nur mobil überwacht wurden – drohte allerdings eine Ordnungsbusse von 100, im Wiederholungsfall von 200 Franken.
Wie im Dreiland generell sind auch in Riehen offene Grenzen in den letzten Jahren zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Für uns war die rund zweimonatige Grenzschliessung daher umso eigenartiger. Genau so hat es auch Patrik Eggenschwiler empfunden: «Plötzlich sah man die Freiheiten, die man eigentlich hat – und lernte diese zu schätzen.»
Tim Stadler und Ethan Drodge, Jugendliche
«Entschleunigung» / «Ungewissheit»
Panikattacken und neue Freundschaften
«Die schlimmste Zeit war der erste Lockdown», sind sich Tim Stadler (18) und Ethan Drodge (19) aus Riehen einig. Als die Pandemie ausbrach, waren die beiden in einem Alter, in dem die Interaktion mit Peers für die Entwicklung der Sozialkompetenz wichtiger denn je ist. Die Devise der Behörden, im Frühling 2020 möglichst zu Hause zu bleiben, wirkte sich unterschiedlich auf die beiden Jugendlichen aus. Tim habe bald mit Panikattacken und Schlafstörungen zu kämpfen gehabt: «Mir ist nach einer gewissen Zeit wirklich die Decke auf den Kopf gefallen.» Ethan versuchte hingegen, die leeren Tage als Gelegenheit zu betrachten, um mehr auf sich zu schauen und seiner künstlerischen Tätigkeit nachzugehen. Wie sein Kollege findet aber auch er: Der vertiefte soziale Austausch mit Freunden und Bekannten hat in dieser Zeit eindeutig gefehlt.
Mit dem Abklingen der ersten Welle im Spätfrühling wurden auch allmählich wieder Treffen möglich. Tim und Ethan entdeckten ein neues Hobby für sich, das einerseits Bewegung und Interaktion mit anderen ermöglichte und andererseits das Einhalten der Distanzregeln gewährleistete: das Skaten in der Wettsteinanlage. «Lustigerweise haben wir dadurch Leute kennengelernt, die auf dieselbe Idee gekommen waren. Mit ihnen sind wir bis heute befreundet», erzählt Tim. Die Kontrollen durch die Polizei, ob die Maximalgruppengrössen und Mindestabstände auch wirklich eingehalten würden, seien zwar etwas eigenartig und einschüchternd gewesen, doch insgesamt blicken Tim und Ethan heute auf eine Zeit zurück, in der sich trotz oder gerade durch die Schwierigkeiten neue Freundschaften und Hobbys entwickelt haben.
Alice Ugazio, Seniorin
«Drama»
Einsame Monate in der Wohnung
Für die in der Alterssiedlung Drei Brunnen lebende Seniorin Alice Ugazio (87) kam die Pandemie nicht ganz überraschend. «Es war klar, dass irgendwann einmal etwas passiert, das das ständige Wachstum und Streben nach Mehr auf dieser Welt stoppen wird», meint sie. Was sie hingegen recht schockiert habe, sei die Tatsache, dass die Regierung und Chemieindustrie von diesem Zustand überrascht worden seien. Sie ist überzeugt: «Hätten sie eine Vorahnung gehabt, wären sie auch nicht so unvorbereitet in diese Situation gelangt.»
Die Lockdowns empfand Alice Ugazio als «ganz schlimm», sie habe dadurch teils selber mit einer inneren Krise zu kämpfen gehabt: «Man durfte nirgends mehr hin, keine Leute treffen, nicht mal einen Kaffee trinken gehen.» Mit ihrer Tochter sei sie den Kompromiss eingegangen, sie zwar ab und an zu sehen, aber nicht zu umarmen – auch ihren Enkel nicht. Viele Tage, in denen sie alleine in ihrer Wohnung sass, seien von Einsamkeit und Trauer geprägt gewesen. «Es war eine schlimme Zeit», fasst sie zusammen. Von der eigentlichen Krankheit habe sie nicht einmal so Angst gehabt – auch nicht, als sie sich selbst damit infizierte. «Da blieb ich locker. Ich dachte: Es kommt, wie es kommen soll.» Die einsamen Monate verbrachte sie lesend, strickend oder durch das leere Riehen und Basel spazierend. Auch habe sie oft am Telefon gesprochen. «Über diese Situation mit Verwandten und Bekannten zu reden, hat mir sehr geholfen.» Viel Positives könne sie aus dieser Zeit aber nicht mitnehmen – höchstens, dass die älteren Menschen im Umgang miteinander «toleranter» geworden seien.