Die Erwachsenen sehen, was sie wissen, die Kinder sehen einfach

Dominik Heitz

Die Kunstvermittlung in der Fondation Beyeler: ein Gespräch mit Daniel Kramer über die Zensurschere im Kopf, unbefangene Kinder und Mammutzähne.

 

Riehener Jahrbuch: Offiziell heisst Ihr Beruf Museumspädagoge. Muss man sich darunter einen strengen Lehrmeister vorstellen?

 

Daniel Kramer: Ich habe etwas Lehrmeisterliches, das will ich gar nicht leugnen. Aber seit Anfang heisst es in der Fondation Beyeler nicht Museumspädagogik, sondern Kunstvermittlung. Auch unser Zimmer heisst nicht Schulzimmer, sondern Atelier. Es ist jener Raum, in dem nach der Führung durch das Museum im Zusammenhang mit dem Thema der Ausstellung Experimente durchgeführt werden. Bei der Matisse-Austellung zum Beispiel haben wir sehr viele Kostüme gehabt und damit ein Mädchen eingekleidet, das von allen anderen mit Pastellkreide gemalt wurde. Die Kinder wechselten also von der Rolle des reinen Betrachters in diejenige des Malers.

Machen Sie auch mit Erwachsenen solche Experimente im Atelier?

Grundsätzlich machen wir mit Erwachsenen das Gleiche wie mit Kindern, aber die Berührungsängste sind bei den Erwachsenen im Atelier grösser.

Wo findet schneller ein Dialog zwischen Ihnen und den geführten Besuchern statt - Bei den Erwachsenen oder bei den Kindern?

Viel schneller bei den Kindern. Kindern ist es egal, ob sie vor dem Gemälde eines berühmten Künstlers sitzen. Sie sind viel weniger autoritätsgläubig als Erwachsene; sie haben etwas vor sich und das ist für sie Anlass, loszulegen. Allenfalls muss ich noch ein bisschen versuchen, das Gespräch zu kanalisieren, damit es nicht ausufert. Die Erwachsenen dagegen sind manchmal sehr ängstlich; sie denken, dass das, was man sagt, nicht stimmen könnte. Hier sind oft sehr viele Zensurscheren im Kopf, die ein offenes, unvoreingenommenes Betrachten verhindern. Oder um es etwas plakativ auszudrücken: Die Erwachsenen sehen, was sie wissen. Die Kinder sehen einfach; da ist alles möglich.

 

Können Ihnen Betrachtungsweisen von Kindern auch einen neuen Zugang zu Kunstwerken ermöglichen?

Ich bin ja auch Erwachsener, ich habe Kunstgeschichte studiert und wenn ich einen Rodin oder Picasso sehe, dann rufe ich die angelernten Stichwörter ab. Und dieser ganze Ballast wird manchmal völlig über den Haufen geworfen, wenn Kinder Bilder betrachten; das ist sehr erfrischend. Es ist deshalb schon oft vorgekommen, dass bei Führungen mit Kindern sich plötzlich Erwachsene dazugesellten und aus dem Staunen darüber, was Kinder alles sehen, nicht mehr herauskamen. Entsprechend sind nach einer Kinderführung oft Erwachsene zu mir gekommen und haben gesagt, dass die Sicht der Kinder ihnen neue Welten aufgetan habe.

Zum Beispiel?

Es käme einem Erwachsenen nie in den Sinn zu fragen, warum die «Nu bleu» von Henri Matisse nun blau sei. Die Kinder aber stellen diese Frage. Man kommt dann vielleicht auf die Lieblingsfarbe des Malers, auf den blauen Himmel oder die Farbe des Wassers zu sprechen, weil sich die nackte Frau soeben abgetrocknet haben könnte, und so entwickelt sich eine Diskussion. Oder nehmen wir das surrealistische Bild «Figures au bord de la mer» von Picasso, das als Kuss, ja als Zungenkuss interpretiert wird. Wenn Kinder dasselbe Bild anschauen, sehen sie keine Menschen und Zungen, sondern irgendwelche Mammutzähne und Knochen die durcheinandergeworfen werden. Dass alles möglich ist - das haben die Erwachsenen verlernt. Das heisst nun aber nicht, dass es mit den Erwachsenen nicht auch spannend ist.

Bei aller Begeisterung über Kinderführungen - kommen Sie sich manchmal auch als Kinderhütedienst vor?

Bei gewissen Klassen spürt man gleich zu Beginn, dass wenig Interesse vorhanden ist. Das kommt aber selten vor, denn der Weg durch den Park in die Fondation Beyeler bietet den meisten einen sinnlichen Einstieg. Und dann ist da auch mein Ehrgeiz, bei problematischeren Gruppen jenen sensiblen Punkt zu finden, der Interesse auslöst.

Gibt es dafür gewisse Tricks?

Wichtig ist einfach, dass man selber nicht immer spricht, sondern dass man versucht, die Kinder reden zu lassen, und das, was die Kinder denken.

Im Bereich Kunstvermittlung arbeiten Sie im Team mit Janine Schmutz - wie funktioniert das?

Die Zusammenarbeit ist sehr wichtig und bereichernd. Bei der Atelierarbeit wird gemeinsam ein Programm zusammengestellt. Bei den Museumsführungen, wo jeder seine eigene Route wählen kann, tauschen wir uns jeweils aus. Wichtig ist der Einstieg: Wo starte ich die Führung, damit die Besucher gleich eingebunden werden. Wenn das erst im hinteren Drittel der Führung beginnt, ist das nicht gut. Als weitere Aufgabe liegt die Produktion der Heftreihe «Ansichten» in unseren Händen. Jedes dieser Hefte - mittlerweile sind es neun - hat ein Werk oder eine Werkreihe aus der Sammlung der Fondation Beyeler zum Thema und steht meist in Zusammenhang mit einer Sonderausstellung. Das erste Heft, das im Jahr 2004 erschienen ist, behandelt Henri Rousseaus «Le lion ayant faim ...» In einem ersten Teil findet eine Bildbetrachtung statt, werden Arbeitstechnik und Rezeptionsgeschichte behandelt und sind Informationen zu dieser Epoche enthalten. Im zweiten Teil erfährt der Leser, was er auf dem Rundgang durchs Museum und im Atelier erwarten kann. Diese Hefte sind also als Lehrmittel konzipiert und werden von Besuchern wie Lehrkräften gleichermassen gekauft. Inzwischen läuft die Reihe so gut, dass sie beinahe selbsttragend ist.

Zur Person Daniel Kramer ist am 13. Oktober 1958 bei Zürich geboren. Nach dem Lehrerseminar in Zürich arbeitete er zwei Jahre als Primarlehrer. Danach lebte er sieben Jahre in Paris, studierte an der Universität Bern deutsche Literatur und Kunstgeschichte und leitete danach das Schlossmuseum Thun. Seit 1998 arbeitet er als Kunstvermittler in der Fondation Beyeler. Daniel Kramer ist verheiratet und hat zwei Buben.

Auf dem Weg zum blauen Elefanten Die Kulturvermittlung im Spielzgeugmuseum, Dorf- und Rebbaumuseum versucht möglichst alle Sinne anzusprechen.

Es beginnt mit einer Plauderei mit Peter Tschudin, dem ehemaligen Leiter der Basler Papiermühle und findet seine Fortsetzung in einem Wettbewerb. Danach stehen Papierschöpfen, und ein Memory-Turnier auf dem Programm, bevor zum Höhepunkt, der Vernissage eines neuen Bilderbuchs, geschritten wird. Das Publikum hat nämlich zusammen mit dem Grafiker und Illustrator Markus Urfer die Geschichte eines blauen Elefanten gestaltet, die Seite um Seite, Bild um Bild immer wieder eine neue, überraschende Wendung nimmt.

Damit geht der mehrstündige Familiensonntag zum Thema Bilder und Bücher am 21. Mai 2006, dem Internationalen Museumstag, im Riehener Museum erfolgreich zu Ende.

Organisiert hat die Veranstaltung Sibylla Hochreuter. Seit fünf Jahren arbeitet die Absolventin des Museologie-Studiums in Basel als Kulturvermittlerin im Museum an der Baselstrasse 34 und deckt hier den Freizeit- und Schulbereich ab. Zum einen organisiert sie ständige Angebote, die von den Schulen genutzt werden können. Zum anderen führt sie besondere Veranstaltungen im Zusammenhang mit Sonderausstellungen und saisonalen Kulturereignissen wie Ostern und Weihnachten durch, die gleichermassen von Kindern wie Erwachsenen besucht werden können. Das Angebot reicht von Familiensonntagen über die MittwochMatineen für Erwachsene bis hin zu Themen-Nachmittagen im hauseigenen Atelier.

Für die Schulen stehen zurzeit zwei Workshops auf dem Programm: «Hinter den Fassaden - Riehener Häuser und ihre Bewohner» sowie «Vom Krämerladen zum Online-Shopping». Im nächsten Jahr soll ein weiterer Workshop folgen, der dem Thema Spielzeug gewidmet ist.

Das Museum im Wettsteinhaus - mitten im alten Dorfkern - zeigt Objekte aus längst vergangenen Zeiten - Objekte, die heutige Kinder zum Teil gar nicht mehr kennen. «Wichtig ist deshalb, dass wir in unseren Workshops möglichst alle Sinne der Kinder ansprechen, damit hautnah das frühere Leben erfahrbar wird», sagt Sibylla Hochreuter.

Im Falle des Workshops «Vom Krämerladen zum OnlineShopping» geschieht dies unter anderem über Lebensmittel und andere Produkte, die man vor 100 Jahren in Riehen kaufen konnte. Kinder dürfen sich zum Beispiel durch eine ganze Kiste mit Gläsern arbeiten und anhand des Geruchs, des Aussehens und der Konsistenz herausfinden, in welchem Glas sich das Lederfett, die Muskatnuss, die Schokolade oder das Petroleum befindet. Ein Postenlauf besonderer Art.

Beim Workshop über «Riehener Häuser und ihre Bewohner» haben die Schulkinder vorgängig zum Museumsbesuch mit dem Lehrer drei verschiedene Häuser aufgesucht: das Haus eines Taglöhners, ein Bauernhaus und ein Herrschaftshaus. Im Museum selber werden die Schüler über die Biografien dreier Kinder in die drei verschiedenen Häuser und damit in die drei sozial unterschiedlichen Lebensweisen eingeführt, wie sie vor mehr als 200 Jahren existierten: in die Armut eines Taglöhners, in den besseren Bauernalltag und in das Leben der herrschaftlichen Klasse. All das geschieht auch über Theateranimation, indem der Tagesablauf in den drei Häusern gruppenweise durchgespielt wird.

Kulturvermittlung im Museum

Die eigentliche Fachbezeichnung ist «Museumspädagogik». Mehr und mehr aber setzt sich das weniger elitär klingende Wort «Kulturvermittlung» durch. Denn der Begriff bezeichnet eigentlich nichts anderes als die Vermittlung zwischen der Ausstellung und dem Museumspublikum. Es geht darum, die unterschiedlichsten Aspekte einer Ausstellung aufzuzeigen und mit dem Interesse, dem Verständnis und den Erfahrungen der Betrachter zu verbinden. Aufgabe des dafür zuständigen Kulturvermittlers ist es, durch verschiedene, adäquate Vermittlungsmethoden, eine Auseinandersetzung zwischen den Intentionen der Ausstellung und den Interpretationen in der Zielgruppe (Erwachsene und Kinder, Laien und Fachleute, Gruppen und Einzelne) zu ermöglichen. Kulturvermittler arbeiten eng zusammen mit den Ausstellungsverantwortlichen und mit den Verantwortlichen für öffentlichkeitsarbeit.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2006

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