Die Folterqualen des Claus Trechslin

Stefan Suter

Strenge Sitten herrschten im 18. Jahrhundert in Basel. Dies bekam Claus Trechslin am eigenen Leib zu spüren. Er wurde für einen Diebstahl gefoltert. Der Fall nahm dann aber eine unerwartete Wendung.

 

Das kleine Dorf Endenburg liegt auf 750 Metern und gehört heute zur Gemeinde Steinen im Wiesental. Kirchlich war Endenburg seit alters nach Weitenau ausgerichtet, politisch gehörte es zur Vogtei Tegernau. Das Gebiet befindet sich demnach in der Nähe des allseits bekannten Wiesentaler Vogelparks. Im Jahre 1749 nahm die damals etwa zwanzigjährige Maria Karlin («Karlerin») den 25 Kilometer langen Weg nach Riehen unter die Fiisse. Hier hatte sie eine Stelle als Magd beim «Rössli»-Wirt Friedli Stump (1711-1753) in Aussicht, in dessen Dienste sie trat. Wäre Maria Karlerin Richtung Norden gezogen und hätte sie im relativ weit entfernten Preussen eine Stelle angetreten, wäre die nachfolgende Geschichte anders herausgekommen, denn in Preussen hatte König Friedrich II. (der Grosse) im Jahre 1740 die Folter abgeschafft. In Basel sah das noch anders aus. Doch Geschichte lässt den Konjunktiv nicht zu.

Nachdem die Magd des «Rössli»-Wirts während längerer Zeit ihrer Arbeit nachging, ohne dass etwas Auffälliges geschehen wäre, stellte der Dienstherr fest, dass ihm ein Stück Tuch abhanden gekommen war. Es handelte sich um den damals häufig vorkommenden karierten Leinen- oder Baumwollstoff, den man Kölsch nannte. Vornehmlich für Bettwäsche, aber auch sonst im Haushalt fand dieses Tuch grosse Verwendung. Das karierte Muster war ansprechend und konnte zugleich einfach gewoben werden. Der Umfang des abhanden gekommenen Kölschs war nicht bekannt, was später Konsequenzen nach sich zog. Jedenfalls kam es zu nicht näher dokumentierten Verdächtigungen, worauf die Magd sich für einige Zeit absetzte. Es scheint sich allerdings nur um eine Abwesenheit von wenigen Tagen gehandelt zu haben. Doch als sie zurückkehrte, wurde sie sofort verhaftet und verhört.

Inquisition

Der nachfolgende Verfahrensablauf zeigt illustrativ das Vorgehen nach damaligem Strafprozess. Am 23. Dezember 1749 wurde durch die dörfliche Administration eine erste Befragung («Examen») durchgeführt. Das Verhör leitete der Untervogt Theobald Wenk (1716-1797). Ihm standen der Geschworene Claus Sieglin (1683-1760) und der spätere Weibel Hans-Jakob Schultheiss (1705-1775) zur Seite. Bedenklich stimmt die Tatsache, dass als Befrager der «Rössli»Wirt Friedli Stump auch noch mitwirkte und Schultheiss ein Schwager des Stump war. Maria Karlin gab an, sie sei aus Furcht weggelaufen, und als man sie fragte, wer den Kölsch genommen habe, bezichtigte sie den Claus Trechslin (1708-1764). Dieser habe ihr überdies angeraten zu schweigen. Auch Simon Schlup («Schluep») (1703-1755) habe davon gewusst. Beide stritten die Täterschaft ab.

Nun nahm das Verfahren seinen unerbittlichen Fortgang. Am 26. Dezember 1749 meldete der Untervogt dem Riehener Obervogt Hans Jakob Huber (1672-1750) den Vorfall. Dieser berichtete am selben Tag dem Bürgermeister nach Basel. Seinem Schreiben ist zu entnehmen, dass er bereits eine Konfrontation zwischen Karlin und Trechslin durchgeführt hatte, die aber nicht mehr Licht an den Tag brachte. Am 27. Dezember 1749 verfügte der Rat in Basel, dass sowohl die Magd Maria Karlin als auch Claus Trechslin in die Stadt gebracht werden und Verhöre durch die Inquisitionsrichter («die Herren Sieben») stattfinden sollten.

Trechslin sperrte man ins so genannte Eselstiirmlein (ehemaliger Stadtturm am Steinenberg). Der Aufenthaltsort von Karlin ist nicht protokolliert, dürfte sich aber möglicherweise in einem Verlies des Bürgerspitals befunden haben. Trotz den Weihnachts- und Neujahrstagen fanden Verhöre statt. Am 31. Dezember 1749 protokollierte der Rat, dass Karlin die Entwendung einiger Kleinigkeiten zugegeben hatte, in der Hauptsache jedoch nicht geständig war. Zudem wurde die sofortige Verhaftung von Simon Schlup angeordnet. Er konnte jedoch erst am 3. Januar 1750 arrestiert und in die Stadt gebracht werden.

In der Einvernahme vom 30. Dezember 1749 beschuldigte Maria Karlin Claus Trechslin erneut, er sei kurz vor dem Vorfall ins Wirtshaus gekommen und habe den Kölsch mitgenommen. Er habe sie angewiesen zu schweigen und weil er ihr gleichzeitig die Ehe versprochen hatte, hielt sie sich daran und ergriff für einige Tage die Flucht. Trechslin hingegen bestritt auch das Heiratsversprechen. In den Inquisitionsprotokollen wird sein Alter mit 40 Jahren angegeben. Dies erscheint nicht ganz präzis. Zwei Tage vor der Verhaftung, am 25. Dezember 1749, war Claus Trechslin 41 Jahre alt geworden, was das Taufbuch der Kirchgemeinde Riehen nachweist (zumindest fand am 25. Dezember 1708 seine Taufe statt). Ein Jahr zuvor, Anno 1748, war seine Ehefrau gestorben. Ein Heiratsversprechen wäre also möglich gewesen. Trechslin ahnte Schlimmes und gab zu Protokoll: «Mann möchte mit jhme anfangen was man wolle. Er seye hierin unschuldig.» Die Herren Sieben empfahlen am 3. Januar 1750 eine «härtere Gefangenschaft» für Trechslin. Doch auch eine weitere Konfrontation zwischen Karlin und Trechslin brachte keine Klarheit. Hingegen zog die Magd offenbar die Belastungen gegen Schlup zurück, weswegen dieser am 10. Januar 1750 aus der Haft entlassen wurde. Am gleichen Tag ordnete der Rat an, dass beide Inhaftierten vorerst noch «gütlich» verhört werden sollten. Falls dies nichts bringe, solle Trechslin gefoltert werden.

Am 14. Januar 1750 bestätigte Maria Karlin, dass Claus Trechslin am Samstag in die Gaststube kam, um Fleisch zu holen. Er habe gefragt, ob niemand da sei, als er den Kölsch erblickte. Als er zu einem späteren Zeitpunkt wiederkam, habe er das Tuch mitgenommen. Schliesslich solle er zum Besten gegeben haben: «Er seye ein Burger zu Riehen, deßwegen werde man ihme, viel mehr glauben alß ihro.» Trechslin bestritt auch in der direkten Konfrontation mit Karlin. Daraufhin schritten die Inquisitionsrichter zur «peinlichen Verrichtung». Sie banden ihm die Arme auf dem Rücken zusammen und zogen ihn daran hoch. Dies war der tradierte erste Grad der Folter, wie sie in Basel seit jeher angewendet wurde. Möglicherweise fand zu einem späteren Zeitpunkt ein weiteres Aufziehen mittels Gewicht statt, jedoch ist das nicht gesichert. Claus Trechslin blieb standhaft.

Maria Kaiiin wurde nicht gebunden und aufgezogen. Vielleicht hatte man ihr geglaubt oder man folgte den römischen Rechtslehrern, wonach Frauen ohnehin milder bestraft würden (Ita mulieres in genere ob fragiditatem sexus mitius sunt puniende). Allerdings dürfte die Inhaftierung für alle Beteiligten bei der kalten Jahreszeit mitten im Winter in den ungeheizten Zellen besonders hart gewesen sein. Deswegen hatten einige zeitgenössische Rechtslehrer eine harte Gefangenschaft, insbesondere bei Frost, bereits als Folter oder Teil der Strafe anerkannt.

Kritische Gutachten

Unschlüssig, wie weiter vorgegangen werden sollte, ordnete der Rat die Einholung eines Gutachtens bei den Stadtkonsulenten ein. Die beiden Juristen Johann Friedrich Wettstein (1689-1753) und Johann Rudolf Thurneysen (1716-1774) gingen umgehend ans Werk und lieferten am 24. Januar 1750 ihr «Bedenken» ab.

Sie kamen zu einem überraschenden Ergebnis. Sie kritisierten nämlich die an Claus Trechslin vollzogene Folter ausdrücklich. Verschiedene Voraussetzungen der Folter seien nicht gegeben gewesen. Insbesondere könnte man aus den Akten nicht ersehen, wie gross der Diebstahl gewesen sei. Tatsächlich hatte niemand dokumentiert, ob es sich eigentlich um einen ganzen Ballen gehandelt und wie viel Wert dieser gehabt hatte. Die Todesstrafe komme jedoch nur bei einem grossen Diebstahl in Frage und die Folter sei nur bei einem Delikt möglich, das die Todesstrafe nach sich zieht. Dann habe man auch keine Erkundigungen über den Leumund des verhafteten Claus Trechslin in Riehen beschafft, somit gebe es keine Verdächtigungen für weitere Verbrechen. Es habe an den rechtlich notwendigen Indizien gefehlt, um gegen Trechslin die Tortur anzuwenden. Auch wurde kritisiert, dass keine zwei Aussagen von Belastungszeugen vorliegen würden. Eine einzelne Zeugenaussage könne nur ausnahmsweise ausreichen, wenn es sich um einen «guten, tugendlichen Zeugen» handle. Im vorliegenden Fall sei allerdings die Magd Maria Karlin die einzige Zeugin und sie selbst habe einen kleinen, anderen Diebstahl im Verhör gestanden, somit sei sie nicht gut beleumdet.

Die Stadtkonsulenten stellten sich voll hinter Trechslin: Durch die schmerzhafte Marter habe er einen irreparablen Schaden an der Ehre und möglicherweise auch am Leib erlitten. Wenn er einen geringen Diebstahl begangen habe, so hätte eine Turmstrafe oder eine Geldbusse ausgereicht. Erst bei dreifachem Diebstahl hätte es anders ausgesehen. Jedenfalls sei die Denunziation der Karlin unzulässig gewesen, um Trechslin an die Folter zu schlagen.

Auffallend ist, dass die Stadtkonsulenten in ihren Erwägungen nicht nur Trechslin schützten, sondern auch etwas gar zu offensichtlich rhetorisch über Maria Karlin «herfielen». Aufgrund ihres Geständnisses im Verhör, eine kleine Entwendung begangen zu haben, wurde sie als eine «selbstbekannte» Diebin abqualifiziert. Weil sie anfänglich aus dem Dienst entwichen sei, mache sie sich sehr verdächtig. Sie empfahlen, Maria Karlin ans Halseisen zu stellen, was einer schweren Prangerstrafe entsprach, und «ewig» von Stadt und Landschaft auszuweisen.

Der Rat bestätigte noch am selben Tag den Eingang des juristischen Gutachtens und stellte, den Rechtsgelehrten folgend, fest, dass die Tortur an Trechslin zu Unrecht erfolgt sei. Noch am 24. Januar 1750 wurde Trechslin aus der Haft entlassen. Maria Karlin hatte, bevor die Wachtknechte sie an den Bannstein zur Markgrafschaft brachten, die Prangerstrafe über sich ergehen zu lassen. Ob Maria Karlin nach der Prangerstrafe noch ausgepeitscht worden ist, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Oft gehörte dies zum Ritual vor der Landesverweisung. Ein Wachtknecht, der sie zur Grenze führte, berichtete später, sie habe kurz vor der Ausweisung öffentlich gesagt, selbst wenn der Henker hinter ihr her sei und ihr den Kopf abschlagen wolle, so könne sie nichts anderes sagen, als dass der Trechslin den Kölsch gestohlen habe.

Rückforderung der Kleider

Das ärgste war ausgestanden, aber die Geschichte noch nicht ganz beendet. Im Februar 1750 erreichte den Basler Rat ein Schreiben der Herrschaft Rötteln vom 4. dieses Monats. In diesem Brief wird berichtet, dass Maria Karlin ein armes Waisenkind gewesen sei, man könne ihr von Jugend auf ein gutes Zeugnis ausstellen. Die Gefangenschaft und «allerhandt» Tortur habe ihr enorm zugesetzt. Sie sei nicht mehr imstande, eine weitere Dienststelle als Magd anzutreten. Ihre Kleider würden sich noch beim «Rössli»-Wirt in Riehen befinden und der Rat wurde ersucht, die übergabe der Kleider anzuordnen. Der Eingabe war ferner ein Brief von acht Leuten aus der Vogtei Tegernau, zu welcher das Dorf Endenburg gehörte, vom 1. Januar 1750 beigefügt. Die Mitbürger bestätigten, dass Maria Karlin ein «arm, mittellos, mutterlos Weysslein» sei. Weiter wurde sie fromm, ehrlich und treu qualifiziert. Insbesondere habe sie an früheren Dienststellen «ehrlich gedient».

Als der Basler Rat die Eingabe aus Rötteln erhielt, schickte er sie weiter an die Stadtkonsulenten zur erneuten Begutachtung. Diese verfassten am 28. Februar 1750 ihren mehrseitigen Bericht. Vom zurückhaltenden Abwägen ist dem zweiten Gutachten der Stadtkonsulenten allerdings nichts zu entnehmen. Hatten sie bereits in ihrem ersten Ratschlag Partei für den einheimischen Claus Trechslin ergriffen, so schlugen sie jetzt schärfere Töne gegenüber der Magd Karlin an und verwendeten genau die konträren Adjektive als diejenigen, die aus der Markgrafschaft über Karlin gekommen waren. Die Stadtkonsulenten bezeichneten sie nicht nur als leichtsinnig, sondern auch als «Canaille» und «Vettel». Durch ihre unberechtigten Anschuldigungen habe sie mindestens zwei Personen beinahe «umb Ihr zeitliche Fortun gebracht». Bestätigt wurde zwar, dass sich Maria Karlin fünf Wochen in Basel in Haft befunden hatte.

Besonders sauer stiess den Stadtkonsulenten auf, dass in der Eingabe aus Rötteln von Tortur die Rede gewesen war. Maria Karlin sei nicht gefoltert worden. Es scheint, dass den Herren Stadtkonsulenten auch ein zu grosses Stück Lokalpatriotismus in ihre rechtlichen Erwägungen eingeflossen ist. Und dem Herrn Oberamtmann von Rötteln wurde gar vorgehalten, er habe sich «erfrechet» vorzutragen, die ausgestandene Gefangenschaft habe die Karlin ausserstande gesetzt, wieder als Dienstmagd zu arbeiten. Wer in diesem Punkt Recht hatte, lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr beurteilen. Maria Karlin war offenbar nicht im strafprozessualen Sinn der Folter unterzogen worden, möglicherweise war sie aufgrund der fünfwöchigen Gefangenschaft im ungeheizten Verlies oder aufgrund einer möglichen Auspeitschung nach der Prangerstrafe tatsächlich arbeitsunfähig geworden. Den Gipfel setzten die Stadtkonsulenten, indem sie der zweifellos unvermögenden Dienstmagd die Herausgabe ihrer Kleider durch den Riehener «Rössli»-Wirt verweigerten. Und die Eingabe des Oberamtes Rötteln erboste die beiden Stadtkonsulenten dermassen, dass die Nachbarn aufgefordert werden sollten, die Delinquentin zurück nach Basel auszuliefern, um sie doch noch zu foltern («vermittelst berechtigter Torquirung der Carlerin, die Wahrheit etwann an Tag gebracht, dem schuldigen sein verdienter Lohn, dem unschuldigen aber, womöglich gebührende Satisfaktion gegeben werden»).

über das weitere Leben der Maria Karlin ist nichts bekannt. Währenddessen bereits ihre Geburt im Kirchenbuch von Endenburg vermutlich aufgrund eines Versagens des damaligen Pfarrers nicht eingetragen wurde, findet sich auch kein Sterbeeintrag. Ob sie genesen ist und in ihrem Heimatbezirk oder sonst wo weiterlebte, bleibt unbekannt. Claus Trechslin litt, zumindest vorerst, offenbar enorm an den ausgestandenen Folterqualen. Im März 1750 sprach er beim Riehener Obervogt Hans Jakob Huber vor. Dieser verfasste ein Schreiben an den Rat in Basel. Durch die Folter sei Trechslin in einen «erbärmlichst und bedaurungs würdigsten Zustand gesezet» worden. Er sei unfähig zu schwerer Arbeit und ersuche um Unterstützung. Bereits am 18. März 1750 bestätigte der Rat in Basel das Gesuch, hatte aber, da es um Geld ging, wenig Gehör und verfügte, Trechslin sei «zur Gedullt gewiesen». Trotz dieser enttäuschenden Haltung der Obrigkeit schien sich Claus Trechslin gesundheitlich einigermassen regeneriert zu haben. Am 17. Juli 1752 heiratete er zum zweiten Mal, und zwar die 13 Jahre jüngere Anna Schweitzer (1721-1788). Er selbst lebte noch bis zum 56. Altersjahr und verstarb am 1. Mai 1764.

Die Folter «lebte» in Basel noch länger. Sie wurde erst 1798 mit der Helvetik abgeschafft.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2001

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