Die Frau, die jeden Stein im Quartier kennt


Sibylle Meyrat


Anuschka Bader ist eine jener guten Seelen, die sich im Niederholzquartier für den Zusammenhalt einsetzen. Seit Kindsbeinen kennt sie die Befindlichkeiten seiner Bewohnerinnen und Bewohner, vor allem im Gebiet um die Niederholzstrasse. Sie liebt die gelebte Vielfalt zwischen Geländekante und Rheinanstoss und möchte überhaupt nirgendwo anders leben als hier.


Wer Anuschka Bader treffen möchte, findet sie seit vielen Jahren praktisch jeden Donnerstag im Andreashaus an einem der langen Tische beim Abendessen. Zeit zum Reden hat sie dann allerdings nur wenig. Nicht nur, weil sie selber als Gast in Tischgespräche vertieft ist, sondern auch, weil sie anderen Gästen Unterstützung bietet. Kurz vor 18 Uhr geht sie jeweils bei den Wohnungen für Körperbehinderte im Niederholzboden vorbei und begleitet diejenigen, die mit dem Rollstuhl ins Andreashaus kommen, bis zum Keltenweg und nach dem Essen wieder zurück nach Hause. 


Auch an anderen Tagen ist sie gelegentlich im Andreashaus. Als Ko-Vizepräsidentin des Quartiervereins hat sie einen Schlüssel zum Haus und so liegt es nahe, dass wir uns da treffen, um über ihr Quartier zu sprechen. An diesem warmen Sommerabend, kurz vor dem Beginn der Ferien, sitzen wir völlig ungestört auf dem Platz vor dem Andreashaus, umgeben von einer fast unwirklich anmutenden Stille.


Hin und wieder kommen einzelne Fussgänger vorbei, jemand fährt auf dem Velo vorüber, oft mit kurzem Gruss in unsere Richtung. Man kennt sich. Auf der anderen Strassenseite hält ein Auto, ein Mann steigt aus und trägt eine riesige quadratische Pappschachtel zur Haustür. Eine Familienpizza, gekauft in Lörrach, wie der Schriftzug auf der Packung verrät. 


Die Besucherin, die in 15 Minuten Velodistanz in dem am dichtesten besiedelten Quartier der Stadt wohnt, staunt über die Ruhe im Niederholz, das von allen Quartieren Riehens mit Abstand das am dichtesten besiedelte ist – nirgendwo sonst in Riehen leben so viele Menschen pro Quadratkilometer. Es wird ihr deutlicher als je zuvor, was manche Bewohner dieses Quartiers meinen, wenn sie sagen, der Himmel sei in Riehen nirgendwo so weit wie über dem Niederholz. Hier am Keltenweg zum Beispiel. Die Häuser sind nur ein oder zwei Stockwerke hoch und begrenzen die Sicht kaum. Blumen und blühende Sträucher schmücken die Vorgärten, dahinter erstrecken sich wiederum Gärten. Die Grünflächen zwischen den Häuserreihen sind zwar nicht mehr so ausgedehnt wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Doch bis ins anbrechende 21. Jahrhundert, lange nach dem grossen Bauboom der Nachkriegszeit, kann das Niederholz für sich beanspruchen, dass hier die Idee einer Gartenstadt auf einer grossen Fläche verwirklicht wurde. Wie überall ist der Siedlungsdruck zu spüren, weil immer mehr Menschen immer grössere Wohnflächen beanspruchen. Doch diejenigen, die hier wohnen und den Charakter ihrer Gartenstadt lieben, haben ihn seit den 1960er-Jahren mehrfach gegen grosse Bauvorhaben verteidigt, die das Gesicht ihres Quartiers tiefgreifend verändert hätten.


Heimat Niederholz


Das Niederholzquartier bedeutet für Anuschka Bader unverzichtbare Heimat, seit sie denken kann. Nie möchte sie woanders leben als hier. Und was einem so sehr am Herzen liegt, dafür muss man sich auch einsetzen. Diese Überzeugung bewegte sie dazu, als Ko-Vizepräsidentin einzuspringen, als das Präsidium des Quartiervereins Niederholz 2015 eine Nachfolge suchte.


Aufgewachsen ist Anuschka Bader in einem Einfamilienhaus an der Niederholzstrasse, sie besuchte den Kindergarten und die Primarschule Niederholz, später das Gymnasium Bäumlihof. Ihr Studium an der ETH brachte es mit sich, dass sie unter der Woche in Zürich lebte. Richtig wohl fühlte sie sich nie dort. Sie verbrachte möglichst wenig Zeit in dieser Stadt, die ihr fremd blieb, und kehrte am Freitag gern so bald wie möglich in ihr Elternhaus zurück. Bis heute wohnt sie in der Strasse, wo sie aufgewachsen ist. Auch andere Orte im Niederholz könnte sie sich gut zum Leben vorstellen, beispielsweise die neue Überbauung am Kohlistieg. An dieser gefällt ihr, wie im Quartier überhaupt, die Durchmischung. Ältere Menschen, Junge, Familien, Singles – für alle gebe es Platz.


Wenn Anuschka Bader sagt, dass sie im Quartier jeden Stein kennt, ist dies wörtlich zu verstehen. Nach Abschluss ihres Studiums als Kulturingenieurin ETH arbeitete sie im Grundbuch- und Vermessungsamt Basel-Stadt und absolvierte die Prüfung zur patentierten Geometerin. Heute leitet sie den Vermessungskreis rechts des Rheins, der Kleinbasel, Riehen und Bettingen umfasst. Dass sie ihr Gebiet nicht nur vom Schreibtisch aus kennt, sondern es täglich mit dem Velo durchquert, ist ein Vorteil. So ist sie jeweils auf dem Laufenden über den Stand der verschiedenen Bauvorhaben und kann ohne grossen Aufwand den richtigen Zeitpunkt für die anstehenden Vermessungsarbeiten in Erfahrung bringen. Zwei Tage pro Woche ist sie daran vor Ort beteiligt.



Das Niederholz beginnt am Rhein


«Wenn wir uns im Gemeindehaus beim Apéro für Neuzuzüger als Quartierverein vorstellen, wollen die Leute natürlich wissen, wo das Niederholzquartier liegt», erzählt Anuschka Bader mit Blick auf die Karte, die vor uns ausgebreitet auf dem Tisch liegt. «Auf der einen Seite ist es klar die Geländekante, doch der Rest ist gar nicht so einfach. Beim Friedhof Hörnli hört es ja für die meisten auf. Dabei geht es dort noch weiter.» Anuschka Bader findet es spannend, dass auch der Rheinanstoss zum Niederholzquartier gehört. Dort fahren wir hin, um uns den etwas verloren wirkenden Gemeindegrenzstein an der Grenzacherstrasse anzusehen. Wir steigen von den Velos und stehen auf den wenigen Metern Riehener Boden, die an den Rhein angrenzen. Der Strom fliesst unbekümmert um die ihn säumenden Gemeinden, Kantone und Länder träge Richtung Meer und ist von der südlichen Spitze des Niederholzquartiers aus nur zwischen Büschen zu erkennen. Während wir Richtung Fluss und Kraftwerkinsel in die Dämmerung blicken, im Rücken eine grosse, von einem blickdichten Zaun umgebene Fläche mit Familiengärten, hält Anuschka Bader fest: «Die wenigsten Leute realisieren, dass das Niederholz eigentlich am Rhein anfängt. Für die meisten, die von der Grenzacherstrasse her kommen, beginnt Riehen nach der Unterführung beim Hörnli, dort steht übrigens auch das Ortsschild. Der Rest wird als zu Basel gehörend empfunden. Dabei ist das ein ziemlich langer Schlauch bis zum Rhein, der noch zu Riehen und zum Niederholzquartier gehört.»


«Als wir Kinder waren», erinnert sich Anuschka Bader, «hörte das Quartier für uns beim Bahndamm auf. Was auf der anderen Seite lag, galt als ‹minderes› Riehen. Dorthin ging man nicht zum Spielen. 


Begehrter Wohnraum



Wer heute ein neues Zuhause im Niederholzquartier sucht, braucht Geduld und Durchhaltevermögen. «Häuser für Familien sind besonders rar, ähnlich wie in der Stadt, nur sind sie im Niederholz noch teurer», berichtet Anuschka Bader. Bei den Wohnungen sehe es etwas anders aus. Hier kommt es auf die Gegend des Quartiers an, in die man ziehen möchte, und welche Ansprüche man an eine Wohnung hat. So gab es in den letzten Jahren vor allem im Geviert Gotenstrasse–Hirshalm–Helvetierstrasse häufige Wechsel, wie sie als Vorstandsmitglied des Quartiervereins aufgrund der gemeldeten Neuzuzügeradressen weiss.


Die Mehrzahl der Mitglieder des Quartiervereins Niederholz kommt indessen nicht aus diesen Strassen. Auch damit kennt sich Anuschka Bader aus, da sie bei der Zustellung der Vereinspost mithilft. Von den rund 3000 Haushalten im Niederholzquartier sind etwa 10 Prozent Mitglieder des Quartiervereins. Rund die Hälfte von ihnen wohnt in der näheren Umgebung des Andreashauses. Spitzenreiter mit 25 und mehr Mitgliedern sind die Niederholzstrasse, die Fürfelderstrasse und der Gstaltenrainweg. Hier wohnen etwa 30 Prozent der Mitglieder. Der Anteil der Eigenheimbesitzer im Quartierverein liegt bei rund 30 Prozent und ist damit bedeutend höher als innerhalb der gesamten Quartierbevölkerung, die zum weitaus grössten Teil in Wohngenossenschaften und Mietwohnungen zu Hause ist.


Personell und örtlich gibt es zwischen Quartierverein und Andreashaus enge Verbindungen. Die Anlässe des Quartiervereins finden oft im Andreashaus statt und unter den regelmässigen Besuchern des Andreashauses sind viele Mitglieder des Quartiervereins. Dass beides zuweilen fast als Einheit wahrgenommen wird, stört Anuschka Bader. «Ich fürchte, dass einige, die gern beim Quartierverein mitmachen würden, dies nicht tun, weil sie ihn als kirchlich wahrnehmen, was er nicht ist, obwohl die Anlässe meistens im Andreashaus stattfinden.»


Zwischen Dorf und Stadt


Dass sie irgendwo dazwischen wohnt, zwischen Dorf und Stadt, wurde ihr schon als Kind bewusst. «Wenn meine Mutter sagte, sie gehe einkaufen, hiess das, sie geht ins Rauracherzentrum oder in die Migros im Niederholz. Wenn sie ins Dorf einkaufen ging, sagte sie, sie gehe jetzt nach Riehen. Als Kind hat mich das verwirrt. Ich dachte: Wir wohnen doch in Riehen, warum sagt sie, sie gehe nach Riehen zum Einkaufen? Mit der Zeit wurde mir klar, es gibt die Stadt, das Dorf und dazwischen sind wir, das Niederholz.»


Riehen, das bedeutete für sie als Kind aber nicht nur das Dorf, wo sie sehr selten war, sondern auch die Wohngebiete am Hang, oberhalb des Dorfs. Dort war sie mit ihrer Familie ab und zu bei Verwandten oder Bekannten zu Besuch. «Für uns Kinder war das eindrücklich, die stattlichen Häuser und die Sonnenuntergänge, die man von dort beim Nachtessen beobachten kann. Aber manchmal fühlten wir uns in den grossen Räumen und den weitläufigen Gärten auch etwas verloren.»


In ihrem Quartier lebe man näher aufeinander. «Wir haben zwar auch unsere Gärtchen und viele haben ihr Einfamilienhaus, aber wir sind auch sehr voneinander abhängig und wissen das.» Also bemühe man sich um ein gutes Verhältnis zueinander. Das macht für sie das Zusammenleben so ausserordentlich angenehm und bereichernd. «Es gibt sehr viele Leute, die sich aktiv engagieren. Zum Beispiel arbeiten im Andreashaus sehr viele als Freiwillige mit. Viele sind bereit, fürs Quartier etwas zu geben. Ich weiss nicht, ob das ‹oben› auch so wäre.»


Niederholz als Stiefkind der Gemeinde?


Und wie steht sie als Kennerin des Quartiers zum Gefühl, das im Gespräch mit Quartierbewohnerinnen und -bewohnern regelmässig auftaucht – dem Gefühl, von der Gemeinde ‹oben› nicht ganz ernst genommen oder gar 
als Riehener zweiter Klasse behandelt zu werden? «Ich denke, das wird hochstilisiert», sagt sie bestimmt. «Es hat sich in den Köpfen mancher Leute festgesetzt und sie finden es bestätigt, selbst wenn es überhaupt nicht – oder nicht mehr – der Realität entspricht.» 


Ein klein wenig könne sie diejenigen, die sich benachteiligt fühlen, aber trotzdem verstehen, ergänzt sie zum Schluss. Was ihr und vielen anderen im Quartier fehlt, ist ein Restaurant oder ein Treffpunkt, wie es das Restaurant Niederholz war. Wie viele andere Quartierbewohnerinnen und -bewohner setzt sie ihre Hoffnungen auf den geplanten Zentrumsbau bei der S-Bahn-Haltestelle Niederholz. Allerdings wird sie den Eindruck nicht los, dass die Planung stocke. Wie viel Einfluss die Bevölkerung darauf überhaupt nehmen kann, sei indessen eine offene Frage, fügt sie rasch an. Jedenfalls plädiert sie entschieden dafür, den Zentrumsbau ernst zu nehmen und nicht nur viel darüber zu reden.


Den Bau der S-Bahn-Station empfindet sie im Übrigen als Glücksfall für das Quartier. Nicht nur, weil die Verbindungen in die Stadt und ins Wiesental dadurch verbessert wurden. Sondern auch, weil der Perron eine wunderbare Aussicht über das Niederholz bietet. «Plötzlich dieser Überblick», sagt sie begeistert. «Wenn man oben auf dem Bahndamm steht, kann man in alle Richtungen blicken und nimmt das Quartier als Ganzes wahr.» Weniger zerschnitten als aus der Bodenperspektive. Oder aus der Perspektive des damaligen Kindes, für das die Grenzen sehr eng gezogen waren.


 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2016

Rund ein Drittel von Riehens Bevölkerung ist heute über 60 Jahre alt und der Anteil älterer und alter Menschen nimmt stetig zu. Vom demografischen Wandel, von Seniorinnen als Konsumentinnen, vom wertvollen Beitrag der…

zum Jahrbuch 2016