Die Geschichte von dem unbelehrbar Glücklichen

Rudolf Graber

Der Dichter Rudolf Graber (* 1899), Lehrer am Realgymnasium in Basel, lebte in den Jahren 1955 bis zu seinem Tode 1958 in Riehen.

«Die Geschichte vom unbelehrbar Glücklichen» ist in den Neuen Basler Fährengeschichten, Guggenbühl und Huber, Schweizer-Spiegel-Verlag Zürich, erschienen. Diesem Verlag sei hier für die Druckerlaubnis gedankt.

Vor ein paar Wochen, im Frühsommer, starb da unten am Rhein einer der begabtesten Bläser unserer Stadt, manche nannten ihn den besten Flötisten, den sie je gehört. Er starb aus der Blüte seiner Kraft hinweg, jung, kaum dreiunddreißigjährig, mitten aus einer Schar von Freunden heraus, Musikern, Malern und Bildhauern, die ihn verehrten und liebten, und von der Seite einer jungen kinderlosen Gattin.

Sogleich am Tag nach seinem Tod erschien bei der jungen, untröstlichen Frau der Vater des Verstorbenen, ein stämmiges Appenzeller Mannli, trat merkwürdig frisch, aufgeräumt, ja fröhlich ein; er war grau gekleidet, nicht einmal schwarz, trug seinen grünen Filzhut geradeswegs munter zurückgeschoben, er hatte sogar ein Zweiglein Heidekraut frühmorgens auf dem Weg zum Appenzeller Bahnhof gebrochen und ins Hutband gesteckt.

Der Tote war nicht mehr in der Wohnung, und das Mannli half sogleich die Blumen und Kränze abnehmen, die in großer Zahl immerzu gebracht wurden, und den Besuchern Rede und Antwort stehen, und war so der jungen Frau sehr nützlich. Er war keineswegs betrunken, wie sie im ersten Schreck gefürchtet hatte; seine Heiterkeit kam vielmehr aus seinem tiefsten Herzen, und wenn eben niemand vorsprach, so faßte er ihre beiden bebenden Hände in seine und tadelte die Frau leise und väterlich ihres nicht zu besiegenden Schmerzes wegen, der mit jedem neuen Blumenbund, das dem Toten gebracht wurde, frisch hervorbrach.

«Du wirst doch an dem Einen nicht zweifeln», sagte er, «daß du deinen Hansli wiedersiehst, schöner und reiner in einem großen großen Licht, und in einem Goldglanz, der dich zuerst derart blenden wird, daß du seine hingestreckten Hände fast verfehlst —»

Und als die junge Frau heftiger weinte und zögerte, seinem Glauben beizupflichten, so glücklich er sie gemacht hätte, vertraute er der erschreckt Horchenden an, daß die Zeit des Wiedersehens ihrer aller im ewigen Licht näher bevorstünde, als sie vielleicht meinte, und fing ihr an Bibelsprüche zu nennen, wonach möglicherweise in den nächsten Stunden schon, sicherlich aber binnen weniger Tage oder Wochen der Einbruch der himmlischen Seligkeit in unsere arme Welt erfolgen müsse.

«O Vater», seufzte die junge Frau und wehrte seine Worte ab; da wurde er fast ungehalten und nannte ihr ein paar Vorzeichen der jüngsten Zeit — darunter sogar seines Sohnes Tod — daß ihr ein Schauer um den andern über die Schulterblätter lief und sie einen Augenblick in ihrer Herzensnot versucht war, alle Besinnung von sich zu werfen und nur mitzuglauben und in seine große Seligkeit einzutauchen.

Sie konnte es nicht. Aber sie lauschte doch während ihrer Mittagsruhe, die sie in ihrem Zimmer verbrachte, mit Rührung auf die Terrasse hinaus, wo der Alte Begonien und Kakteen begoß und leise von der holden Ewigkeit mit sich selbst brummelte. Unter der Terrasse aber, im Hof, begannen zwei Frauen aus dem Haus über die üble Weltlage zu sprechen und fluchten beide einem hochgeschnellten und hochgestellten Mann, dem sie die Schuld an Unruhe und Elend der Welt beimaßen, und der auch sein redlich Teil daran hatte.

Da aber beugte sich der Schwiegervater über das Blumengeräms hinunter und bat die Frauen mit gedämpfter Stimme — denn er wollte die Schlafende nicht stören — doch einmal für jenen Staatslenker zu beten, statt ihn zu verfluchen. Dieser sei nämlich ein armer Mensch, von Gott und seiner Anmut und Helle verlassen, und was einzig seinen Sinn noch zum Bessern lenken könnte, das sei nicht Ingrimm und Verwünschung, sondern herzhaftes Gebet. Der Alte berichtete den Frauen, er habe nun schon viele Menschen um sich gesammelt, und alle beteten sie täglich für jenen ins Dunkel Steuernden, und sobald sie ihrer genug wären, so könne es nicht anders sein, so müsse das Böse aus jener armen und gepeinigten Seele weichen, und vieles müsse noch gut werden, viel mehr als sie dächten. Erst heute morgen, im Zug, habe er zwei junge Mädchen, die er beim selben Schimpfen belauscht, fünfzig Franken gegeben, damit sie mitretteten, statt mitverdammten, und sie hätten zwar das Geld zuerst gar nicht nehmen wollen, aber von Anfang an ihr Mitgebet versprochen. Und wenn die Frauen im Hof jetzt auch noch mithölfen und vielleicht nur noch ein paar Dutzend Menschen mehr, die er bald einmal zusammen haben wollte, dann, spürte er, zöge die goldene Waagschale mit dem Guten auch in jener Seele hernieder und flöge die schwarze, stählerne gewichtlos auf.

Die junge Frau zog den ganz Begeisterten von der Terrasse herein, und sie entschuldigte ihn später bei den Frauen.

Nachts bettete sie ihn im Musikzimmer, einem weiten Raum gegen die Straße hinaus, auf einer Couch. Als er schon schlief, erinnerte sich die junge Frau mit Schrecken der vielen Blumen, die sie in dem Raum gelassen hatte, und fürchtete, ihr Duft könnte ihn quälen; so holte sie diese leise noch heraus und stellte auch die Jalousien quer, damit die frische Nachtluft hereinkühle.

Während der Nacht hörte sie den Alten jedesmal, wenn sie schlaflos lag, laut, aufgeweckt und herzlich reden; er schien die ganze Nacht kein Auge zuzutun. In aller Dämmerfrühe aber kam er, außer Rand und Band vor Glück, zu ihr, faßte ihre Hand und sprach: «Komm mit, komm mit — Hansli ist im Zimmer drüben und will mit dir sprechen — er war die ganze Nacht bei mir und hat mir so viel Liebes und Schönes berichtet — er ist gar nicht tot, es ist alles eine Täuschung — komm, er wartet auf dich, komm schnell, er muß mit dem ersten Sonnenstrahl wieder fort.»

Die junge Frau weinte und nannte ihn einen Armen.

— Nein, er sei kein Armer, sagte er, er sei ein Reicher, er habe seinen Hansli die ganze Nacht um den Hals gehalten, und jetzt blange jener so sehr nach ihr, und sie komme nicht.

Schließlich erhob sie sich ganz unsinnig vor Sehnsucht und Schmerz, um doch mit ihm zu gehen.

Da lag auf seinem Kopfkissen eine kleine rötliche Steinbüste, die ein Bildhauer einst von dem geliebten Flötenbläser gemacht. Die junge Frau hatte sie auf den Flügel gestellt, um die schönen Züge wenigstens im schimmernden Stein wiedergespiegelt zu sehen; aber Blumen waren davor gehäuft worden; erst in der stillen Nacht hatte sie die Blumen weggebracht; und als der Alte aus seinem ersten Schlummer erwacht war, hatte er im Licht der Straßenlaterne durch die geöffneten Jalousien herein oder vielleicht der Sterne, auf einmal die Augen seines Sohnes gegen sich schimmern sehn, hatte seinen Kopf umfaßt und herumgetragen und seine nächtliche Zwiesprache mit ihm begonnen.

Aber die junge Frau konnte dem Vater das lange darlegen — bei ihm war der lebendige Hansli gewesen und hatte mit ihm Worte so tiefer Liebe gewechselt, wie sie nie ein harter Steinbrocken hätte ertönen lassen können — oh nein, wenn sie den Hansli morgen beerdigten, so vergrüben sie einen Lebendigen. Und er bat die junge Frau inständig — und doch seltsamer Weise nie mit der letzten Heftigkeit eines Besessenen — die Beerdigung zu hintertreiben und zu harren, bis ihr Hansli froh und gesund von seinen seltsamen Gängen und Aufträgen heimkehrte.

Die junge Frau zerfloß in Tränen, denn sie spürte wohl in dem Alten dieselbe Liebe zum Toten, wie sie sie hatte. Trotz all ihrer Zuneigung aber wollte der Schwiegervater nun nicht länger mehr hier bleiben. Wenn sie den Hansli zur Erde bestatteten, begingen sie die größte übeltat — jedenfalls wollte er nicht dabeisein — und zudem — fiel ihm ein — hatte er heute noch eine wichtige Besprechung mit einem Bundesrat. Er hatte diesen um eine Audienz gebeten, er hatte sie auf den späten Nachmittag zugesagt erhalten, er wollte dem hohen Herrn etwas mitteilen, woraus dem Schweizerland ein unermeßlicher Nutzen erwachsen werde.

Sie umfing ihn und wollte ihn halten, denn trotz aller Narretei vermochte ihr rätselhafterweise kein Mensch den Trost einzuflößen wie er. Aber er ging.

Und doch — sieh! anderntags in aller Herrgottsfrühe stand er wieder da. Der Bundesrat hatte sich des Versprechens der Audienz nicht mehr erinnern können — oder wollen, sagte der Alte zornig — zu dessen eigenem Schaden übrigens, sogar sehr zu dessen eigenem Schaden, wie sich über kurzem erweisen werde.

Er hielt die junge Frau nicht auf in ihren Vorbereitungen für das Begräbnis. Aber er selber mitkommen? — Nein: an dem Unrecht, einen Lebendigen in die Erde zu versenken, wollte er nicht teilhaben. Er fuhr zwar im Auto bis weit vor die Stadt hinaus mit. Doch bei der Auffahrt gegen den Friedhof ließ er anhalten und trollte sich durch die sommerlichen, morgenstillen Felder bergan über den Gottesacker hinauf. Dort oben über dem weitgestuften Friedhof steigen einsame Matten hinan, der krause Wald schlingt sich darob gegen den schroffen Hörnlifeisen hinüber; wer dort oben sitzt, hat das weite Land zu Füßen, die ferne Stadt in ihrem grau-bläulichen Dunst, den groß hingeschwungenen Rheinstrom mit seinen silbernen Untiefen an den Rändern und seinen blitzenden Sonnenwiderscheinen mitten auf der grünen Flut; und jenseits der Stadt, in endloser Weite, wie ein Meer tief hinten licht vernebelnd, sinkt die sonnige Rheinebene in die Ferne; und wenn nur ein wenig Duft und schimmernde Feuchtigkeit die Luft trüben, vermag der Hinausschauende die sanft geschwungenen, blauen Berge der Vogesen mit seinen Blicken bis in halb unbekannte Lande hinab zu verfolgen.

Dort oben, an jenem strahlendhellen, frühen Sommermorgen, saß Hanslis Väterli. Er starrte zuerst mit gerunzelter Stirn in den weit geöffneten Friedhof unter ihm, wo fern und klein, aber deutlich vor den hellen Sandwegen sich abzeichnend, die Beerdigung seines Sohnes langsam vor sich ging. Er saß zwischen entfernten Bäumen mitten in einer Wiese, und auf einmal sah er — wie er nachher mehrmals erzählte — seinen Hansli in gewöhnlicher und ungezwungener Straßenkleidung durch das blühende, duftende Gras mit den vielen bunten, glänzenden Blumeninseln zu ihm heraufsteigen. Aus der Tasche guckte ihm ein Stümpchen seiner Flöte. Er schien heiß zu haben, obgleich er nur langsam stieg. Er wischte sich die Stirn, er zog gar seinen Rock aus, und auf den Rock setzte er sich nun neben den Vater hin ins Gras. Er sagte kein Wort zum Vater, er sah ihn nur unter seinem dichten Brauengestrüpp hervor mit seinen guten, braunen, immer ein wenig in Lust schwimmenden Augen unsagbar freundlich und ein wenig forschend an. Einmal nahm er Vaters Hand am Gelenk, wies ihn mit dem schönen kraushaarigen Gesicht auf den dunkeln Zug der Leutlein unten im Friedhof, die nun an einem offenen Grab angekommen waren und sich darum herum anstauten — er lachte leise, er schüttelte lachend den Kopf, er zog seine Flöte in mehreren Teilen aus der Rocktasche, setzte sie spöttisch zusammen, hob sie an den Mund, wandte sein schönes, freundliches Gesicht dem Vater zu und legte die Lippen auf das Elfenbein der Flöte mit jenem zarten Suchen, das ihm so eigentümlich gewesen war und das jedesmal etwas so Frohes, Zuversichtliches und verschleckt Erwartungsvolles gehabt — und fing dann auf einmal, eben da fern dort unten zwischen den winzigen, grünen Buschhecken und Steinreihen der Sarg in die Gruft gesenkt wurde, ein helles, übermütiges Lied zu spielen an, ein Lied, so schön, wie er es überhaupt noch nie gespielt hatte, so heiter und lustig, alle Töne zuckten und glänzten sogar einen Augenblick als goldene Funken fröhlich tanzend in der blauen, lichten Luft umher. Die Apfelbäume, die eben rötlich-weiß blühten, taten ihren runden Blust weit auf und atmeten und rauschten zart mit dem Blust, die vielen, vielen buntfarbigen, frohen Blumenkelche und -köpfe wogten atmend in der himmlischen Musik, das Gras wellte leise wie in einem ganz zarten, heitern Wind und glänzte und glänzte wie nie mit seinen schlanken, biegsamen Seiten. Und jetzt — oh, Wunder — sieh: jetzt hob sich Hansli leise vom Boden ab; auf seinem Rock sitzend schwebte er erst ein wenig in die Luft auf, blieb dort still hangen, lachte, immerzu munter spielend, zu seinem Vater hernieder, blickte einmal auf und weg in die sommerliche Morgenweite von fernem Fluß und stiller Ebene, setzte die Flöte ab und sah lange hinaus, spielte darauf weiter, nun unverrückt und ernster, ja endlich ganz ernst, fest und traurig seinen Vater ansehend, der ihm immerzu die Hände nachstreckte und mit ihm redete, und hob sich schließlich, mit seinen Rockschößen leise flatternd, zart und zarter vergehend, in die silberblaue, leichte Luft hinauf und weg ...

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1966

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