«Die Räumlichkeit klingender Phänomene» 


Rahel Hartmann Schweizer


 

Weil unser Gehör so beschaffen ist, dass wir im Grunde ständig in Tönen, Geräuschen und Klängen schwimmen, setzte Beat Gysin seine Oper ‹Skamander› in einem Hallenbad in Szene. Als Komponist interessiert er sich nicht nur für die Musik, sondern auch für den Raum, in dem sie gespielt wird. Für sein Werk wurde er mit dem Kulturpreis 2012 der Gemeinde Riehen ausgezeichnet.


 

Im Jahr 1699 entdeckte Charles Campbell auf seinem Grundstück in Newgrange in der irischen Grafschaft Meath ein jungsteinzeitliches Hügelgrab. Erschlossen von einem 22 Meter langen Gang, befindet sich in dessen Innerem ein 7 Meter hohes, kreuzförmiges Gewölbe. Die Kammer ist mit Zeichnungen von Kreisen und Zickzacklinien an Wänden und Decken verziert und mit Steinbassins in Schalenform sowie einer Feuerstelle alimentiert. Forscher erklären sich die Ausstattung folgendermassen: In die Bassins wurde Wasser gegossen, dann legte man im Feuer erhitzte Steine hinein, sodass sich die Höhle mit Dampf füllte. Nun wurde ein Ton angestimmt, der eine stehende Welle erzeugte, die sich im Wasserdampf abzeichnete. Und dieses Bild wurde schliesslich grafisch an den Wänden verewigt: eine Klang-Raum-Kunst-Installation, die 5000 Jahre alt ist! 1


 

Es mag erstaunen, was dieses jahrtausendealte Zeugnis eines Klang-Raum-Bild-Rituals mit dem Schaffen des Komponisten Beat Gysin zu tun hat. Nun: vielleicht alles – das hoffe ich im Folgenden offenkundig zu machen.2 Jedenfalls ist der Verweis auf die jungsteinzeitlichen Vorfahren keineswegs eine etwas weit hergeholte Anspielung auf die erbliche Prädisposition unseres Protagonisten, der 1968 nämlich in eine Musikerfamilie hineingeboren wurde und in Basel Klavier, Chemie, Komposition (bei Thomas Kessler und Hanspeter Kyburz) sowie Musiktheorie (bei Roland Moser und Detlev Müller-Siemens) studierte.


 

Dreidimensionales Hören


Dass er den Riehener Kulturpreis über 50 Werke für verschiedene Besetzungen später – von Solo- bis Orchesterkompositionen, die unter anderem durch das Arditti-Quartett, die Basler Madrigalisten und die Ensembles Windspiel und ‹ums ’n jip› aufgeführt wurden – in einer Kirche empfängt, ist stimmig. Denn für seine jüngsten Kompositionen hat er mit dem von ihm gegründeten Studio Klangraum ebenfalls Sakralräume als Schauplätze gewählt: die Leonhardskirche in Basel, das Grossmünster in Zürich, das Münster in Bern, die Kathedrale in Lausanne und die Jesuitenkirche in Luzern. Zusammen mit vier weiteren Komponisten hat er ein Projekt auf die Beine gestellt, mit dem er diese Kirchen auf eine ganz eigene Weise bespielt. Es trägt den Titel ‹Numen› und basiert auf der Idee, den jeweiligen Raum mit seinen je spezifischen akustischen Eigenschaften in die Komposition beziehungsweise in das Musikerlebnis, das dem Publikum geboten wird, einzubeziehen. 


 

Gysins Interesse gilt «der Räumlichkeit klingender Phänomene». Er will uns ein dreidimensionales Hören bescheren, ganze «Klangraumgebilde», wie er es nennt, erschaffen. Das ist im Zeitalter der Musikkonserve, da opulenteste Orchesterwerke auf Geräten mit minimalsten Ausmassen – die jüngste iPod-Generation misst 76,5 x 39,6 x 5,4 Millimeter – gespeichert und unabhängig von Raum und Zeit – im ICE-Zug, auf dem Matterhorn oder auf der Basler Rheinfähre – abgespielt werden können, ein ambitioniertes Unterfangen. 


 

Und es gelingt ihm. Er beschert uns ein authentisches und einzigartiges Musikerlebnis – und dies gegen eine elektronische Konkurrenz, die uns selbst bei einer Studioaufnahme die Illusion zu vermitteln vermag, wir befänden uns im Sydney Opera House, im KKL in Luzern oder in der Arena von Verona. Vermutlich wäre die Industrie gar in der Lage, uns die Akustik des nur auf Visualisierungen existierenden Stadtcasino-Neubaus von Zaha Hadid zu suggerieren. Beat Gysin aber fälscht nicht, er täuscht uns nichts vor. So, wie ein Architekt uns ein Haus visuell vor Augen führt, lässt Gysin es uns mit den Ohren wahrnehmen. Um dies anhand des erwähnten ‹Numen›-Zyklus zu illustrieren: Würde der Architekt uns die Kirchenbauten zeigen und auf ihre architektonischen Besonderheiten aufmerksam machen, indem er sie mit Lichtstrahlen ausleuchtete, offenbaren uns Gysin und seine Kollegen deren Eigenheiten, indem sie sie akustisch ausloten.


 

Auraler und optischer Raum


Auch das Erlebnis lässt sich in Analogie zur visuellen Wahrnehmung beschreiben, die Scheinwerfer erzeugen, wenn sie die Farben eines Glasfensters zum Leuchten bringen, die Plastizität eines Reliefs betonen, indem sie Licht und Schatten akzentuieren oder die Konturen einer sonst im Dunkel des Raums verschwindenden Kapelle hervorheben. Ganz ähnlich war die Wirkung der Klänge – im konkret beschriebenen Fall in der Jesuitenkirche in Luzern. Schien der eine Komponist die Formen der barocken Kirche zu konterkarieren und ihr einen Klangkubus einzuschreiben, füllte der andere das Gewölbe förmlich mit Klangfarben aus. Gysins Werk aber wirkte so ätherisch, dass man sich an verblassende Fresken erinnert fühlte: Hier blitzte eine Volute klingend auf, da rieselten die Töne wie Gips von der Decke, dort touchierte der Klang ein Medaillon. Das ist aber nur eine Version: Da es in fünf verschiedenen Kirchen aufgeführt wurde, klang es jedes Mal anders.


 

Erzielt hat Gysin den Effekt, indem er seine Komposition auf die je spezifischen akustischen Gegebenheiten der fünf Kirchen abstimmte und sowohl Instrumentalisten als auch Sängerinnen und Sänger im Raum verteilt Aufstellung nehmen liess. Die an die in der Renaissance entstandene Venezianische Mehrchörigkeit erinnernde Positionierung reicherte Gysin um eine zusätzliche Dimension an, indem er die Aufführenden anwies, sich im Raum zu bewegen.


 

Die aurale Architektur, die sich daraus entwickelte, war nicht gleich beschaffen wie die optische. Die Stimme der Sopranistin, die in einiger Entfernung positioniert war, tröpfelte direkt ins Ohr und die Instrumentalmusik aus der nahen Kapelle entrückte in den Hintergrund. Der Hörraum war gegenüber dem Sehraum förmlich umgestülpt. Wer weiss: Hätte man den Raum während des Konzerts akustisch vermessen und visualisiert, wären vielleicht nur die Stuckaturen als materialisierte Partien in Erscheinung getreten, Wände, Stützen und Gewölbe hingegen als transparente Gebilde. 


 

Beat Gysin wird den visuellen Vergleich verzeihen. Denn er foutiert sich keineswegs um die optischen Aspekte, blendet sie nicht aus – im Gegenteil: Zuweilen spielt er gerade dann mit ihnen, wenn es nichts zu sehen gibt. Das Publikum, das sich 1999 in ein vollkommen abgedunkeltes Wasserreservoir führen liess, um die nach diesem Ort benannte Komposition zu hören, habe anschliessend von seinen visuellen Erlebnissen berichtet, erzählt Gysin: «Keiner hat von der Musik geredet. Die sahen die verrücktesten Sachen – ausgerechnet, wenn die Menschen nichts sehen, erleben sie enorm viel visuell.»


 

Hören in zwei Sphären – innen und aussen


Die Produktion ‹Feigels Mosaik› – eine Vertonung des Gedichtbands ‹Hinter einer Glaswand› von Susanne Feigel – umschreibt Gysin gar mit dem Begriff «Kaleidoskop» – einem ausgesprochen das visuelle Erleben anregenden Instrument also. Hier gestaltete sich die optische Komponente kongenial zur akustischen Konzeption: Das Ensemble veränderte seine Position im Raum von Akt zu Akt, sodass die Musik aus unterschiedlichen Richtungen ertönte und immer wieder andere Klangfelder aufspannte. Analog verfuhren er und Lukas Langlotz – der zweite im Bund des Studio Klangraum – mit dem Bildraum: Acht mobile, in verschiedenen Farben strahlende Leuchtwände wurden von Stück zu Stück verschoben und bildeten so im Laufe der Aufführung acht ‹Lichträume›. Dabei musizierten Instrumentalisten und Sänger einmal vor, einmal hinter diesen Wänden. Diesem Davor und Dahinter entsprach wiederum die akustische Anlage: Das Publikum wurde mit offenen Kopfhörern ausgestattet, sodass es in zwei Sphären hörte – in einen inneren Klangraum getaucht und von einem äusseren umhüllt. 


 

Vibration und Schwindel


Das hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Disposition der Oper ‹Skamander›, die Beat Gysin 2001 im Hallenbad Rialto in Basel zu Gehör brachte. Das Publikum lauschte der live und via Unterwasserlautsprecher übermittelten Musik bald über, bald unter Wasser – und zwar nicht nur mit den Ohren, sondern durch die Vibrationen im Wasser mit dem ganzen Körper.

Dieses Innen und Aussen möchte Gysin dereinst architektonisch umsetzen, als Raum im Raum. Dabei wäre die äussere Hülle fix, der innere Saal aber von Wänden begrenzt, die aus einzelnen, um die eigene Achse drehbaren und ständig den gewünschten akustischen Vorstellungen anpassbaren Elementen bestünden.


 

Das ist aber noch Zukunftsmusik. Bereits konkretere Gestalt nimmt eine andere Idee an, die er wiederum mit dem Studio Klangraum verfolgt. Sie greift das Bewegungsmotiv von ‹Numen› auf – allerdings mit einer entscheidenden Variation: Nicht die Musiker sollen sich bewegen, sondern die Zuhörerinnen und Zuhörer, und zwar auf einem Karussell. Sich um das Orchester herum zu drehen, dürfte neben der akustischen auch eine spannende körperliche Erfahrung sein.


 

Um dem Schwindel vorzubeugen, der einen ob all der brillanten Ideen erfassen könnte, sei eine sanfte Landung auf dem Boden beziehungsweise bei der eingangs geschilderten archäoakustischen Entdeckung von 1699 versucht: In einem unserer Gespräche skizzierte Beat Gysin ebenso die Idee, den Schauplatz der Kirche gegen den einer Höhle zu tauschen wie Klänge in nebelartiger Atmosphäre sichtbar zu machen! 


 

1 Peter Kiefer: Klangräume der Kunst, Heidelberg 2010, S. 20.


2 Dieser Text basiert auf Gesprächen mit Beat Gysin am 20.12.2012 in Basel und am 3.6.2013 in Bern. Der Beitrag ‹Die Räumlichkeit klingender Phänomene: ein Lebensprojekt› von Rahel Hartmann Schweizer in: TEC21, Nr. 33/34 (2013), S. 16–20, befasst sich ausführlicher mit dem Thema.


 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2013

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