Die Sammlung Dr Charles F. Leuthardt

Christian Geelhaar

Er habe doch gar nie ein Sammler sein wollen, gestand Dr. Charles F. Leuthardt. Wie er schildert, empfand er es eher als schlechten Witz, als er eines Tages konstatieren musste, dass angesichts der von ihm im Laufe der Jahre zusammengetragenen Bilder, Skulpturen und Graphiken seine Freunde von einer «Sammlung» sprachen. Prestigedenken war für diesen Sammler nie ein Beweggrund gewesen. Für ihn war bei einem Kauf jeweils allein ausschlaggebend, dass er und seine Frau Joppie ein Werk unbedingt haben mussten. Kunst wurde folglich mehr für den «Hausgebrauch», zur tagtäglichen Auseinandersetzung und Bereicherung erworben. Die Sammlung blieb denn bis vor kurzem auch nur einem engeren Freundeskreis des Ehepaars bekannt.

Die Annahme freilich, da habe sich ein Kunstfreund leichthin aneignen können, was ihm an Begehrenswertem unter die Augen gekommen ist, wäre indessen völlig verfehlt. Mitnichten! «Meine verfügbaren Mittel waren beschränkt und meine Liebe zur Kunst gross. Das waren Diskrepanzen, die sich schlecht vertrugen», schrieb Leuthardt vor einiger Zeit dem damaligen Direktor des Basler Kunstmuseums, Dr. Franz Meyer. So konnte nicht ausbleiben, dass bei aller Genugtuung ob des Erreichten dann und wann bedauerliche Erinnerungen an das, was unerreichbar blieb, aufkommen.

Gewiss, der glückliche Zufall hat auch diesem Sammler in seltenem Ausmass geholfen! Indes: darf man da überhaupt an reinen Zufall denken? Haben nicht vielmehr Spürsinn und ein rasches Urteilsvermögen dem Sammler erlaubt, sich ihm bietende Chancen wahrzunehmen und zu nützen? Entscheidungen pflegte Leuthardt denn meist auch augenblicklich zu treffen. Dies mögen zwei Beispiele erhellen. Ein Hauptwerk der Sammlung, André Massons Gemälde «La nuit à la campagne», figurierte 1946 unter nahezu 3000 Nummern im Katalog der Aktion «Künstler im Dienste der Schweizerspende» unter der Bezeichnung «Futurismus». Das konnte allerdings nur den irritieren, der eine Ahnung von der Schlüsselposition des französischen Surrealisten Masson hatte - und das waren in der Schweiz damals ihrer wohl nicht allzuviele. Jedenfalls hatten die Organisatoren das Bild, das einst durch Kahnweiler in die Sammlung Dr. Arnold Mettler-Specker nach St. Gallen gelangt war, und jetzt für 500 Franken angeboten wurde, nicht für wert befunden, in die Verkaufsausstellung zu hängen. Leuthardt aber wusste, wie sehr gerade seine Basler Malerfreunde von der «Gruppe 33» Masson schätzten. Er verlangte das Bild zu sehen und konnte sich alsbald überzeugen, hier einen guten «Fang» zu tun.

Ahnlich abenteuerlich hört sich der Erwerb zweier anderer ebenso zentraler Werke der Sammlung an: der «Nature morte» Fernand Légers und des wundervollen grossen Bildes von Yves Tanguy, «La splendeur semblable». Leuthardt hatte sie 1952 in Paris entdeckt, als er dort mit seinen Malerfreunden Walter Moeschlin und Hans Plüss und zusammen mit dem Kunsthalle-Konservator Dr. Robert Th. Stoll Vorbereitungen für die Ausstellung «Phantastische Kunst des XX. Jahrhunderts» traf. Die Bilder hingen neben Werken anderer Maler im Speisesaal des von der Pariser Kunstwelt damals gerne frequentierten «Le Catalan» an der Rue des Grands Augustins. Leuthardt erwarb sie vom Wirt auf der Stelle. Zu seinem Leidwesen erlaubten ihm seine Mittel nicht, gleich auch noch einen Picasso mitzunehmen.

Die Liebe zur Malerei war in dem Sammler zweifellos durch seine Mutter geweckt worden. Diese hatte in ihrer Jugend eine ausgeprägte musische Begabung bekundet und in einem Genfersee-Institut Musik- und Malunterricht genossen. Die Malerei hatte sie auch nach ihrer Vermählung nie ganz aufgegeben, wobei ihr Sohn zuschauen durfte, wie sie ihre Landschaften und Seen mit Segelbooten gestaltete.

Charles F. Leuthardt wurde am 27. August 1898 in Basel geboren. Seinen Vater verlor er sehr früh; die Mutter heiratete in zweiter Ehe einen Frauenfelder Zahnarzt. Vom fünften Lebensjahr an verbrachte Charles seine Jugendzeit in Frauenfeld. Die kleine Stadt war den Künsten gegenüber in keinerlei Weise aufgeschlossen. Immerhin wurde für den Gymnasiasten der Zeichenunterricht wichtig, und nicht nur, weil die guten Noten in diesem Fach die weniger glänzenden Leistungen des Lateiners aufwägen halfen. Sein Zeichenlehrer nahm ihn einmal nach Winterthur zum Besuch der Impressionisten-Sammlung mit: hier wurde sich der junge Leuthardt erstmals seiner Leidenschaft für die Malerei klar bewusst.

Ihn drängte nun, aus seiner als spiessig empfundenen Umgebung auszubrechen. Das Medizin- und Zahnarztstudium führte ihn nach Basel, Zürich und Strassburg. Die Begeisterung des Studenten entzündete sich zunächst an der Kunst des deutschen Expressionismus und ihrer gewagt «natürlichen» Darstellung der Frau, zumal an Kirchners Kokotten und Berliner Strassenszenen. An ein Sammeln wäre zu jenem Zeitpunkt freilich noch nicht zu denken gewesen!

In Basel gehörte Leuthardt zu jenen Kunstfreunden, die sich, meist zu später Nachtstunde, zu den Malern, Dichtern, Musikern, Leuten von Theater und Kabarett gesellten, die im «Club 33» an der Steinenvorstadt verkehrten. Mit einigen Künstlern der «Gruppe 33», mit Walter Bodmer, Theo Eble, Max Haufler, Walter J. Moeschlin und Hugo Weber verbanden ihn enge Freundschaften. Als die hervorragende Persönlichkeit dieses Kreises erlebte er indessen Walter Kurt Wiemken. Durch ihn gewann er den so entscheidenden Zugang zum Surrealismus.

Die surrealistische Malerei half Einsichten auf metaphysische Fragen vermitteln, die bereits für den Medizinstudenten akut geworden waren und zu deren Formulierung sich Leuthardt eines bekannten Bildtitels von Paul Gauguin bedient: «Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?» Doch verriet er der Kunstkritikerin Annemarie Monteil: «Mir ging es gar nicht um das Surreale an sich, sondern um das Unbewusste, das mächtiger ist als wir meinen. Und zwar nicht als überbleibsel von Erlebtem. Für mich ist Surrealismus verborgener Seelenzustand. Im wirklichen Erleben ist immer Surreales dabei. Ich kann mir nicht einmal Jesus vorstellen ohne Surrealismus.»

Nachdem Leuthardt zunächst gelegentlich Arbeiten seiner Künstlerfreunde vom «Club 33» gekauft und so den Grundstock einer bescheidenen Sammlung gelegt hatte, gelangte 1946 mit dem erwähnten Gemälde von André Masson erstmals ein Werk von internationalem Rang in seinen Besitz. Das Sammeln sollte sich auch in der Folge zeit zumal auf den Surrealismus konzentrieren: es kamen jetzt ausgesuchte Werkgruppen von Joan Mirò, von Yves Tanguy, Meret Oppenheim und Otto Tschumi hinzu. Dies mag aus heutiger Sicht wohl als konsequent erscheinen, nicht aber unbedingt überraschen. Konsequent war Leuthardt gewiss, ja sogar mehr noch: mit seiner Vorliebe für den Surrealismus schwamm er, aus der Sicht mancher Basler jedenfalls, gegen den Strom. (Dass ihm seine kompromisslose überzeugung sogar Freunde entfremdet hat, bedeutete für den Sammler eine besonders schmerzhafte Erfahrung.) Abstrakte Kunst und Surrealismus bildeten seit den dreissiger Jahren Gegenpositionen. Georg Schmidt, der damalige Direktor des Kunstmuseums, verkannte zwar den surrealistischen Irrationalismus nicht, gab jedoch der abstrakten Kunst seinen fast ausschliesslichen Vorzug. Beispiele der Malerei des Surrealismus fanden so vorerst allein durch einige Deposita der Emanuel Hoffmann-Stiftung Eingang in das Basler Museum.

Als sich im Laufe der Nachkriegsjahre die schöpferischen Impulse des Surrealismus allmählich erschöpften und die Preise für Werke aus der «klassischen» Schaffenszeit dieser Künstler rapid zu steigen begannen, war es für Leuthardt selbstverständlich, das Kapitel «Surrealismus» in seiner Sammlung als abgeschlossen zu betrachten. Er wandte seine Aufmerksamkeit fortan der unmittelbaren Gegenwart zu, um Neues zu entdecken und zu erproben, wobei allerdings unschwer festgestellt werden kann, dass Wurzeln des Schaffens der von ihm geschätzten jüngeren Künstlergeneration nicht selten in den Surrealismus zurückreichen. «Man könnte behaupten», meinte Franz Meyer, «dass Charly Leuthardt in allen Fällen etwas vom Geist des Surrealismus wiederfand, dass er hier wie vor Mirò und Tanguy ergriffen wurde von einer Bewegung, die ganz von innen kommt, unbehindert von rationaler Zensur, um sich dann, im dramatischen Spannungsfeld von dunklen und hellen Kräften, voll im Sichtbaren zu realisieren.»

Bei seinen regelmässigen Besuchen in der Seinestadt war der Sammler mit den frischen Impulsen der «Ecole de Paris» vertraut geworden. Seine Sammlertätigkeit begann sich insbesondere dem Schaffen der in Paris wirkenden Maria Helena Vieira da Silva und Hans Härtung zuzu wenden, zu denen sich alsbald auch freundschaftliche Beziehungen anbahnten. Charles F. Leuthardt dürfte der erste Basler Sammler gewesen sein, der Bilder dieser wichtigen Vertreter der «Ecole de Paris» besessen hat.

In den fünfziger und frühen sechziger Jahren kamen ferner mehrere bedeutende Arbeiten von jüngeren Schweizer Malern, deren Schaffen im «Informel» und «Tachismus» gründet, in die Sammlung: hervorzuheben wären hier Bilder von Franz Fedier, Lenz Klotz und Matias Spescha. In besonderem Masse weckten die vorwiegend kleinformatigen sensiblen Malereien auf Papier und Stoff des Irländers Phillip Martin des Sammlers Entzücken.

Auch den neuen Ausdrucksformen der siebziger Jahre gegenüber hat er sich seine Aufgeschlossenheit bewahrt. Jetzt begann er sich vermehrt auf das Sammeln druckgra phischer Blätter zu verlegen, zumal auf das Werk amerikanischer Maler, Jasper Johns und Jim Dine.

In dem Masse, da seine Sammlung wuchs, wurde sich Charles F. Leuthardt der Verantwortung des Sammlers der öffentlichkeit gegenüber bewusst. Mit grosser Bereitschaft hat er Ausstellungen - namentlich jene der Basler Kunsthalle, deren Vorstand er von 1949 bis 1958 angehörte - durch Leihgaben unterstützt und solcherart seine Kunstschätze breiteren Kreisen zugänglich gemacht. Grössere Werkgruppen waren in den Ausstellungen «Phantastische Kunst des XX. Jahrhunderts» (1952) und «Basler Privatbesitz» (1957) zu sehen gewesen.

Damit sollte es indessen nicht sein Bewenden haben. Leuthardt und seine Gemahlin haben im vergangenen Jahr beschlossen, ihre Sammlung - unter Wahrung des Nutzniessungsrechts - dem Basler Kunstmuseum zum Geschenk zu machen. Diese generöse Zuwendung reiht den Namen des Sammlers Leuthardt fortan in jene erfreulich zahlreiche Gruppe von Mäzenen, Basler Bürgern vor allem, ein, die durch Schenkungen und Vermächtnisse ihre Verbundenheit mit dem Museum ihrer Stadt zum Ausdruck gebracht haben.

Vom 22. März bis 3. Mai 1981 durfte das Kunstmuseum eine Auswahl von 64 Bildern, Zeichnungen und druckgraphischen Blättern von 30 Künstlern ausstellen (die ganze Schenkung umfasst 141 Werke von 69 Künstlern). Franz Meyer bezeichnete an der Eröffnung die Schenkung Leuthardts als «eines der Hauptereignisse am Ende meiner Amtszeit». Ich habe versucht, die Ausstellung nach kunsthistorischen Kriterien zu hängen: chronologischen wie stilistischen. Der Sammler hatte seine Sammlung natürlich noch nie zuvor so sehen können und war offenbar begeistert; er muss der eifrigste Besucher seiner Ausstellung gewesen sein. Jetzt sind die Bilder wieder in ihr Riehener Heim zurückgekehrt. Dort folgt die Präsentierung nach anderen Gesichtspunkten, persönlicheren: In jedem Raum sind Werke verschiedener Zeiten und Stilrichtungen vereint und zu einem vielstimmig klingenden Ganzen verwoben, wie es eben nur einem sensiblen, mit seiner Sammlung durch jahrelangen Umgang tief vertrauten Sammler gelingen kann.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1981

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