Die Taubstummenanstalt in Riehen

Erwin Pachlatko

Trotz vieler Widerstände haben die Gründer der Taubstummenanstalt ein Werk begonnen, das anfangs beinahe Unsinn, zum mindesten hoffnungslos schien, und das dann solange und mit so vielen Opfern fortgesetzt wurde, bis der Gedanke an eine Rettung Taubstummer Allgemeingut unserer Generation zu werden vermochte. Die Entwicklung erinnert an den unendlich mühsamen, aber Gott wohlgefälligen Bau von Kirchen und Kathedralen, an denen gläubige Baumeister ihr Leben lang arbeiteten, um ein unvergängliches Denkmal zu schaffen. Stein auf Stein richteten Lehrer und Erzieher die Sache der Taubstummen auf, ohne nach eigenem Verdienst und eigener Wohlfahrt zu fragen. Ihre Namen sind allmählich in Vergessenheit geraten, aber ihr Werk ist geblieben.

Die Taubstummenanstalt ist eine Gründung des Württembergers Christian Friedrich Spittler, der auch die Diakonissenanstalt in unserer Gemeinde gründen half, ferner die Pilgermission St. Chrischona, die Basler Mission, die Beuggener Armen-Lehrer-Anstalt und noch andere. Im Jahre 1833 versuchte man auf seine Anregung hin, taube Kinder in einigen Räumen der Anstalt Beuggen zu unterrichten. Trotz des Eifers der Lehrer zeitigte dieser Versuch keine merklichen Erfolge, weil sie nicht über die spezielle Ausbildung verfügten und die Schülerzahl aus mehrheitlich Schwachbegabten bestand. Da die Anstalt Beuggen die freigemachten Räume wieder selber benötigte, suchte Spittler einen andern Ort für seine Taubstummen. Und diesen fand er in Riehen. Kurz vorher hatte er das Zäslinsche Gut an der Schmiedgasse von Herrn Bachofen-Merian um 20 000 Franken erworben, mit dem Gedanken hier eine Pilgermission zu gründen. Da er diesen Plan noch nicht ausführen konnte, brachte er im Jahre 1838 im Herbst hier seine Taubstummen unter. Das Haus nannte er Pilgerhof, dessen Name bis zum Jahre 1868 fortbestand.

Als wichtigstes Datum der Taubstummenanstalt Riehen ist der 17. Mai 1839 zu nennen. An diesem Tag hielt der erste Inspektor, Wilhelm Daniel Arnold, seinen Einzug in die Anstalt. Es darf als eine große Fügung bezeichnet werden, daß dieser Mann, dem der Ruf eines ausgezeichneten Taubstummenlehrers vorausging, sich durch Spittler für die Anstalt Riehen gewinnen ließ. Mit wahrem missionarischem Eifer ging er hinter seine Arbeit. Damals wußten nur wenige Leute, daß es möglich ist, ganz taube Kinder sprechen zu lehren. Nachdem er die Schüler nach ihren Gebrechen und Fähigkeiten gesichtet hatte, mußte er einige wegen Schwachsinn entlassen. «Die Anstalt in Riehen soll eine Erziehungsanstalt für Taubstumme, keine Verpflegungsanstalt für Schwachsinnige sein.» Um die Lücken aufzufüllen, mußte er Propagandareisen unternehmen. Viele Eltern wollten ihr taubes Kind nicht schulen lassen, weil sie befürchteten, der «Böse» könnte bei diesem Unterrichte seine Hand im Spiele haben oder ihr Kind könnte ausgenützt werden. Einigen fehlte es auch an finanziellen Mitteln, obwohl die Kostgelder so niedrig wie möglich angesetzt waren und immer ein paar Freiplätze zur Verfügung standen.

Im Werbeschreiben heißt es: «Wir freuen uns, im Blick auf die große Zahl fähiger Taubstummen, eine Erweiterung unserer Anstalt bis auf 30 und mehr Zöglinge möglich zu sehen. Die Erziehung der Zöglinge ist und muß sein eine ebenso sehr leibliche als geistige. Neben den 7 Stunden des Schulunterrichtes, die täglich erteilt werden, erhalten die Knaben und Mädchen Anweisung zu je für ihr Alter und Geschlecht passenden und den Körper übenden Arbeiten, wozu einen großen Teil des Jahres hindurch Garten und Feld die schönste Gelegenheit bieten; im Winter und an Regentagen sind, nebst den häuslichen Geschäften der Landwirtschaft für die Knaben Holz- und Papierarbeiten und ähnliches, für die Mädchen Nähen, Stricken u. dgl. die beste Beschäftigung.»

Aufgenommen wurden die Schüler in der Regel nicht unter 9 und nicht über 12 Jahren. Die ganze Schulzeit betrug zuerst 6 Jahre, aber schon 1877 wurde sie sogar auf 10 Jahre für schwächer begabte Schüler verlängert. Das jährliche Kostgeld belief sich je nach Vermögensumständen auf 15, 20 oder 25 Louisdors.

Der Tagesablauf sah folgendermaßen aus: 05.00 Uhr Tagwache, nachher Morgengebet im Lehrzimmer und Schulaufgaben.

07.00 Uhr Frühstück mit kurzer Andacht für die Erwachsenen. 07.30 Uhr Beginn des Schulunterrichtes mit einer kurzen, dem Sprachvermögen angepaßten Andacht. 09.30 Uhr Eine halbe Stunde Pause zur Erholung und Stärkung.

In den drei Wintermonaten (Nov., Dez. und Jan.) wurde erst um 05.30 Uhr aufgestanden und um 07.30 Uhr gefrühstückt. Dafür fiel die Pause samt dem Stück Brot aus.

10.00—12.00 Uhr Unterricht und anschließend Mittagessen. 13.00-13.30 Uhr Spiele im Garten. Einige Kinder wurden zu Hausarbeiten herangezogen. (In den Wintermonaten von 13.00 bis 16.00 Uhr Schule.) 13.30-16.30 Uhr Schule, anschließend Abendbrot, möglichst mit Obst. Darauf machten die Schüler einen belehrenden Spaziergang, sie turnten, badeten, spielten. Die übrige Zeit bis zum Nachtessen wurde bei den Knaben mit Lernen oder Kartonnage-, Holz-, Feld- und Gartenarbeiten zugebracht; die Mädchen dagegen hatten Unterricht in den weiblichen Arbeiten. 19.30 Uhr Nachtessen mit kurzer Andacht. Im Sommer wurde nachher noch auf dem Hof bis zur Nachtzeit gespielt und nach dem Gebete im Schulzimmer gingen die Kinder schlafen. Im Winter fiel das Spielen weg.

Von den älteren Mädchen durften abwechslungsweise je 2 in der Küche verwendet werden.

Der Samstagnachmittag wurde bei guter Witterung zu einem größeren Ausgang benutzt.

Am Sonntag wurden die Zöglinge in die Vormittagskirche geführt. Am Nachmittag hatte jede Klasse ihre eigene Erbauungsstunde in der Schule. Nach derselben wurde bei guter Witterung wieder ein Ausgang gemacht. Den Abend brachten die größeren Zöglinge mit Lesen von Büchern zu, und die Kleinen wurden vom aufsichtshabenden Lehrer oder einem größeren Schüler durch Erzählen unterhalten.

Daß bei diesem strengen Tagesablauf der leiblichen Pflege volle Aufmerksamkeit geschenkt wurde, lesen wir in einem Bericht von Inspektor Frese: «Die Kost ist einfach, aber kräftig und reichlich mit mannigfacher Abwechslung. Sie muß es sein, denn das Kind wächst und muß viel, sehr viel leisten. Der Unterricht ist für den Taubstummen kein Spielwerk, er fordert den vollen Einsatz des Kindes. Daher gibt's fast jeden Tag Fleisch und reichlich Milch. Sämtliche Kinder haben sonntags Wein zu Mittag, schwächliche täglich.»

Mit nur einem badischen Schulkandidaten begann Arnold seine Arbeit in Riehen. Bereits am 11. Juli 1840 konnte in der Anstalt mit über 20 Schülern das erste Jahresfest gefeiert werden. Das Examen zeigte den Anwesenden bereits die ersten Früchte eines zielbewußten Unterrichtes.

Schon nach dem 1. Jahr machten sich finanzielle Sorgen bemerkbar. Und da geschah etwas Außerordentliches. In der Jubiläumsschrift «Ein Jahrhundert Taubstummenanstalt Riehen» lesen wir.* « Im benachbarten badischen Freiburg lebte ein Spitalverwalter, der hatte einen taubstummen Sohn, der zwar in Pforzheim gut erzogen und ausgebildet worden war, dann aber nicht mehr recht tun wollte, als er nach Freiburg zurückkehrte und dort bei Erlernung eines Handwerkes in schlechte Gesellschaft geriet. Der darüber untröstliche Vater beschloß, den Jungen nochmals zu versorgen. Zufällig erinnerte er sich an Arnold, den er von Pforzheim her sehr schätzte, und wollte ihm den Sohn übergeben, obwohl die Riehener Anstalt nicht katholisch war; denn er wünschte sich am Ende doch lieber einen protestantisch denkenden als einen liederlichen Sohn. Um bei Arnold rascher Gehör zu finden, klagte der Vater sein Leid einem Basler Freunde, Philipp Merian, der bis vor kurzem in Freiburg gewohnt hatte und später nach Lörrach umgezogen war.

Richtig erschien denn auch der schon bejahrte Wohltäter an einem Septembertage mit Vater und Sohn in Riehen. Da ihn das Zipperlein plagte, fuhr er mit der Kutsche in den Hof hinein und führte vom Sitze aus die Unterredung mit Arnold. Bald erklärte sich dieser mit der vorläufigen übernahme des ungeratenen Jungen einverstanden, wobei Merian selbst einen Beitrag an das Kostgeld zu geben versprach.

Hierauf wünschte er energisch im Garten herumgefahren zu werden, da ihn die Bäume und vor allem die Tannen lebhaft interessierten; er hatte sie seinerzeit als Setzlinge dem früheren Besitzer des Gutes aus seinen privaten Waldbeständen besorgt. Arnold, der den kostbaren Augenblick nützen wollte, sprach ihm dabei von der besonderen Art der Pflanzen, den Zöglingen nämlich, die er in den Schulzimmern nebenan zog. Aber Merian schien nicht nur gichtig, sondern auch rabiat gewesen zu sein, denn er wollte gar nichts von den «Simpeln» und «Kretinnen» wissen, die da mit vergeblicher Liebesmühe abgerichtet wurden. Erst als Arnold selber laut und energisch auftrat, ließ sich der Alte brummig dazu bewegen, auf ein paar Minuten dem «Hokuspokus» zuzusehen. Man führte ihm die Kinder vor und ließ sie laut und deutlich einige Namen aussprechen. Merian lächelte spöttisch dazu, stieß seinen Stock auf den Boden und meinte: «Das können Papageien auch!» Als aber Arnold zu direkten Fragen überging und damit zeigen konnte, daß seine Zöglinge auch richtig zu denken vermochten, da begriff Merian doch an den durchdachten Antworten sehr rasch, um was es ging. Er revidierte augenblicklich sein Urteil, das damals das Urteil aller Welt war; er setzte sich hin und hörte eine geschlagene Stunde lang zu. Als er sich endlich verabschiedete, versprach er, bald wieder zu kommen. Als er dann drei oder vier Mal zugehört hatte, bekam er das Gefühl, daß Arnold «alles könne» und blieb fortan der Anstalt treu. Eines Tages rief er ihn zu sich, bekannte ihm, daß nach seiner jetzigen Ansicht die Taubstummen eine achtbare Menschenklasse wären und ließ ihn darauf, da er selbst im Bette lag, ein Papier aus der Tischschublade holen. — Es war das Dokument einer Schenkung an die Anstalt im Werte von 20 000 Gulden!

Das Komitee bezahlte damit zuerst die bislang geschuldete Kaufsumme für Anstaltsgebäude und Liegenschaften und bildete dann auf ausdrücklichen Wunsch aus seiner Mitte einen Verwaltungsrat, um diesen «Merianschen Stiftungsfonds» in spezieller Rechnungsführung zu verwalten. Da die Zinsen des Fonds nur für wenige Freiplätze ausreichten, erhöhte Merian später das erste Vermächtnis um weitere 12 000 Gulden. Auf diese hochherzige Weise wurde der Anstalt über das Schlimmste hinweggeholfen.»

Im Unterrichte löste sich Arnold immer mehr von den Gebärden. Er führte die reine Lautsprache ein, was ihn beinahe zum Gespött der damaligen Taubstummenlehrergilde machte. «So etwas gibt es nicht», sagte und schrieb man gegen ihn, «und so etwas darf nicht sein.» Arnold jedoch, überzeugt von der Richtigkeit seiner Methode, ließ sich nicht verdrießen. Durch zwei Nebenarbeiten hat er sich seine späteren Erfolge gesichert: 1. Er nahm nur hinreichend begabte Taubstumme auf und 2. er erzog und bildete seine Lehrer selber heran. Diese Arbeit wurde gelegentlich zur wichtigsten. Im 25. Jahresbericht schreibt er, daß er in dieser Zeit nicht weniger als 29 Lehrer und 8 Arbeitslehrerinnen angelehrt hat. Was für eine ungeheure Belastung dieser ewige Wechsel unter den Lehrern bedeutete, kann man kaum ermessen.

In dieser Zeit sind 207 Schüler durch seine Schule gegangen. Die meisten davon stammten aus Basel und Umgebung, einige aus den übrigen Kantonen und viele aus dem Badischen und dem Elsaß.

Ein Jahr vor dem Jubiläum starb seine Frau. Da eine Anstalt ohne Hausmutter undenkbar war, heiratete er zwei Jahre später eine der fähigsten Lehrerinnen. In der Zwischenzeit besorgte seine Tochter den Haushalt.

1860 wurde in Bettingen eine Anstalt zur Versorgung älterer Taubstummer gegründet. Arnold gab dafür seinen besten Lehrer her. Diese Anstalt nahm sich später der Schwachbegabten Taubstummen an. Obwohl bei der Gründung die gleichen Männer beteiligt waren, die die Taubstummenanstalt in Riehen unterstützten, lebten später leider die beiden Anstalten immer mehr auseinander.

Dann kamen die Jahre des Ruhms. Arnold vollendete seinen praktischen Lautiergang, in dem er alle seine Erfahrungen niedergelegt hatte. Bald wurde dieser im In- und Ausland bekannt. Nun begann ein unabreißbarer Besucherstrom sich einzustellen. Viele kamen aus Neugierde, viele aus Opposition, andere wieder, um sich von der neuen Methode überzeugen zu lassen. Wie in einem Ameisenhaufen muß es zu gewissen Zeiten gewesen sein, schätzte man doch die Anzahl der Besucher in einem einzigen Jahr auf 1400! Aus allen europäischen Ländern kamen die Taubstummenlehrer, um die sprechenden tauben Kinder zu hören und zu sehen. Riehen war das Mekka der Taubstummenlehrer geworden. Zwei Mitarbeiterinnen verdienen es, erwähnt zu werden, die beiden Schwestern Sprenger, die in unermüdlicher Arbeit «den Dienst so gut versahen wie der Meister selbst.»

Nicht lange nach seinem 40jährigen Jubiläum starb Arnold im Alter von nahezu 70 Jahren. Das war am 16. September 1879. Unter sehr großer Teilnahme von nah und fern wurde er auf dem Friedhof in Riehen in der «vom Gemeinderat Riehen auf noble Weise geschenkten ausgemauerten Gruft zwischen den beiden Pfarrherren Le Grand und Stähelin beigesetzt.»

Seine Nachfolge verursachte dem Komitee große Sorge. Es beschloß, die Leitung nicht einem «eigentlichen Fachmanne zu übergeben, sondern einem wissenschaftlich und pädagogisch tüchtigem Manne von christlichem Charakter.» So wurde Johann Georg Gr eminger, Pfarrer zu Stammheim, am 1. Juni 1880 als Inspektor nach Riehen berufen. Bereits nach zwei Jahren jedoch zog er sich wieder in eine Pfarrei zurück, da er sich hier nicht glücklich fühlte.

Nun berief das Komitee den Norddeutschen August Frese, den Arnold bereits als seinen Nachfolger empfohlen hatte, der aber wegen seiner Abstammung bei der ersten Wahl zurückgestellt worden war. Dieser Mann aus dem Hannoverschen Kirchspiel Debstadt hatte bereits 23 Jahre als Taubstummenlehrer gewirkt und kannte Riehen aus eigener Anschauung, konnte er sich doch gleich andern Besuchern wochenlang nicht von Riehen trennen. Anfangs Oktober 1882 kam August Frese nach Riehen als Inspektor. Zwei Jahre versuchte man einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem neuen Inspektor und der bisherigen Lehrerschaft, vorab mit den beiden Schwestern Sprenger. Umsonst. Im Sommer 1884 räumte das gesamte Personal, das noch von Arnold her stammte, das Haus. Von den 46 Kindern wurden 15 mitgenommen und in Lahr eine eigene Anstalt gegründet. Diese für Frese äußerst peinliche Situation nannte er hinterher wehmütig den «großen Exodus». Da das Komitee fest hinter Frese stand, blieb dieser Auszug ohne Folgen. Zwei junge Lehrer hatten diese Episode gerade noch miterlebt, und mit diesen begann Frese seine Arbeit. Der eine Lehrer war Heinrich Heusser aus Hinwil, der Nachfolger Freses; der andere Heinrich Roose, der als Oberlehrer auch aus der Hannoveranischen Schule stammte und bis zu seinem Lebensende Riehen treu blieb.

Frese führte das übernommene Erbe Arnolds weiter. Er vervollständigte den Lehrgang und vervollkommnete die Methode. Eine methodische Eigenart sei hier erwähnt: Frese lehnte die Bilder im Unterricht ab. Während Arnold bereits Modelle brauchte, ging Frese direkt zur Natur über. So ging er mit seinen Schülern hinaus in die Natur, um ihnen die Bauern auf dem Felde, den Pflug, die Pferde und den Acker zu zeigen. Dabei fragte er und ließ Fragen stellen und suchte auf diese Weise den Sprachschatz der Schüler zu mehren und das Denken zu schulen. Hinter diesen Exkursionen steckte eine äußerst mühselige Arbeit. Julius Ammann, der hier als Lehrer wirkte und später Hausvater der Taubstummenanstalt für Schwachbegabte in Bettingen wurde, schrieb einmal: «Jedes Kind stellt sich uns mit seinen Gebrechen, Mängeln und Unarten als eine Festung dar, umgeben von scheinbar unüberbrückbaren Gräben und undurchdringbaren Hindernissen. Wer unsere Arbeit nicht näher kennt, mag wohl achselzuckend unser Bemühen belächeln und finden, ein solches Unternehmen sei nutzlos. Allein wie auf Werften und großen Eisenwerken in aller Stille für den Belagerungskrieg die geeigneten Kampfmittel ausgedacht und ausgebaut werden, so hat sich auch im Laufe der Zeit, von großen Meistern ausgehend, für unseren Festungskampf eine gute, praktische Unterrichtsmethode ausgebildet. Sie besteht aus wenigen, der Erfahrung entnommenen Grundsätzen. Wir lauschen und spähen alle die kleinen, komischen Bewegungen ab, die das hörende Kind in der Wiege spielend mit seinen Sprachorganen treibt, und suchen sie unsern Kleinen, methodisch der Schwierigkeit nach geordnet, beizubringen, so einfältig auch oft diese übungen scheinen mögen.»

18 Jahre lang diente August Frese der Taubstummenanstalt Riehen als Inspektor. Drei Tage nach dem Jahresfeste im Jahre 1900 wurde er durch den Tod abberufen. Als Nachfolger wurde Heinrich Heusser gewählt, der bereits seit 16 Jahren als Lehrer hier wirkte. Er war der erste Schweizer, der zur Leitung einer Taubstummenanstalt in der Schweiz berufen wurde. Mit großer Treue verwaltete er das reiche Erbe seiner beiden berühmten Vorgänger. Viel zu verbessern und abzuändern gab es an der bewährten Methode nicht. Selbstverständlich wurde der Tagesplan der Neuzeit angepaßt. Statt um 5 Uhr Tagwache, war sie nun eine Stunde später, und statt 7 Stunden Unterricht begnügte man sich mit 6 Stunden im Tag. «Heusser war die Seele, der Kopf und das Herz der Anstalt, wie es selten ein einzelner Mensch in einem so vielfältigen Hauswesen gewesen ist.» Durch ihn wurde die Anstalt in der breiten öffentlichkeit bekannt. Er war beinahe zwei Jahrzehnte Mitglied des Großen Rates, und der Riehener Feuerwehr diente er als Kommandant. Im Militär bekleidete er den Rang eines Obersten. Ist es da zu verwundern, wenn eine solche Persönlichkeit zu der Vertrauensperson im Dorfe wurde, die alle aufsuchten, die einen Rat oder Hilfe brauchten? Immer aber blieb die Anstalt seine Hauptaufgabe, und ihr zu Liebe gab er seine militärische Laufbahn auf, die ihn für immer von Riehen weggenommen hätte.

Schwere Jahre brachte der Anstalt der erste Weltkrieg. Heusser stand mit seiner Berner Brigade im Felde. Walter Bär, der 1914 als neuer Lehrer eingetreten war, und Heinrich Roose waren zum Glück vom Militärdienst befreit, so daß sie den Unterricht weiterführen konnten. Für die Hausmutter muß dies eine äußerst schwere Zeit gewesen sein. Denken wir nur an die Rationierung der Lebensmittel und dann in den folgenden Nachkriegsjahren an die furchtbare Grippe, wo sämtliche männliche Insassen und der Großteil der Mädchen während Wochen krank zu Bette lagen. Wie durch ein Wunder ging die Grippe ohne Todesfall vorüber.

Durch den Krieg kam die Taubstummenanstalt Riehen in eine prekäre Lage, blieb doch von nun an der Zustrom der Zöglinge aus der badischen und elsässischen Nachbarschaft aus, die in den bisherigen 80 Jahren rund die Hälfte der Schülerzahl gestellt hatte. Ebenso kamen immer weniger Schüler aus den Kantonen, in denen es nun selber Taubstummenanstalten gab, und die von ihrer Regierung durch Subventionen unterstützt wurden. Wohl oder übel mußte sich Riehen den neuen Verhältnissen anpassen. «Es liegt etwas Tragisches darin, daß gerade Riehen, das seinerseits die schärfste Auslese hielt, wegen der Ungunst der Zeit und der Ortslage den Trennungsstrich verhältnismäßig am meisten gegen die Schwachsinnigenbildung hin verschieben mußte.»

Lange konnte Heusser das Anstaltsschifflein nicht mehr in die neue Zeit führen. Im Juli 1921 starb er ganz unerwartet an einem Herzschlag. Als Nachfolger wurde der frühere Lehrer Walter Bär berufen, der an der Taubstummenanstalt Zürich tätig war. Gleich wie Heusser stammte auch Bär aus dem Kanton Zürich. Sein Amt trat er am 1. Januar 1922 an. Im gleichen Geiste wie seine Vorgänger führte er seine Aufgabe weiter. Längst war die Riehener Methode Allgemeinheit geworden, und die Anstalt mußte ihren Platz mit vielen andern Instituten teilen. Es begann eine sehr schwere Zeit. Die alten Gebäulichkeiten wurden immer baufälliger, und es fehlte besonders an Geld. Seit der Einführung des jodierten Kochsalzes ging die Taubstummheit in der Schweiz spürbar zurück, und damit sank die Schülerzahl von Jahr zu Jahr. Trotzdem wagten einsichtige Männer des Komitees einen Neubau, weil sie wußten, daß es trotz der sanitären Verbesserungen und der medizinischen Errungenschaften immer wieder taube Kinder gibt, die auf eine Taubstummenanstalt angewiesen sind.

Nachdem das ganze Areal der alten Taubstummenanstalt der Gemeinde Riehen verkauft werden konnte, wurde mit großem Weitblick Ende Dezember 1938 mit dem Bau einer schönen, zweckmäßigen Anstalt an der Inzlingerstraße begonnen, die in ihrer Anordnung später für viele Anstalten zum Vorbilde diente. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bereitete den vielbeschäftigten Anstaltseltern sorgenvolle Stunden. Da während dieser Zeit kaum für längere Zeit Lehrer zur Verfügung standen, lastete auf den Anwesenden oft eine ungeheure Arbeitslast.

Am 27. Juni 1940, während an der nahen Grenze der Krieg tobte, wurde die neue Anstalt bezogen, und am 6. Oktober fand die offizielle Einweihung des Neubaues statt. Hätten nicht der Kanton Basel-Stadt und der Bund großzügige Subventionen zugesichert, wäre dieser Bau nicht zustande gekommen.

Da die Schülerzahl im Jahre 1942 auf 25 sank, gliederte man der Taubstummenanstalt 1943 eine Sprachheilabteilung an. Seither heißt die Anstalt: Taubstummenanstalt Riehen und Schule für Sprachgebrechliche. Wie nötig eine solche Schule ist, beweist die Tatsache, daß immer mehr Anmeldungen für Sprachheilschüler vorliegen als aufgenommen werden können. Das Zusammenleben von tauben und sprachgebrechlichen Kindern zeigt keine Nachteile, wie man vielleicht vermuten könnte.

Die nächsten Jahre zeichneten sich durch große finanzielle Sorgen aus, die schwer auf dem Anstaltbetrieb lasteten. Oft stand man vor der Frage, ob man die Anstalt schließen müsse oder nicht. Der ewige Lehrer- und Personalwechsel und die finanzielle Last hatten Bär und seine Frau müde gemacht. Auf das Frühjahr 1958 trat er von seinem Amte, das er 36 Jahre lang in großer Treue versehen hatte, zurück. Er war der erste Inspektor, der sich in den Ruhestand zurückziehen konnte. Alle andern starben während ihrer Amtszeit. Leider aber dauerte dieser verdiente Ruhestand nur kurz. Unerwartet starb er an einem Hirnschlag am 16. November 1959 in seinem geliebten Uetikon am See, wohin er sich mit seiner Frau zurückgezogen hatte. An seine Stelle wurde Erwin Pachlatko als Inspektor gewählt, ebenfalls ein Zürcher, der bereits seit 1944 als Lehrer hier tätig war. Zum Glück geht es der Anstalt seit der Einführung der Invalidenversicherung im Jahre 1960 finanziell merklich besser, und es ist zu hoffen, daß nach den schweren Jahren wieder bessere folgen mögen.

Die Ereignisse, die sich in den Schulzimmern und den Räumen der Taubstummenanstalt abspielen, sind klein im Verhältnis zu dem großen Geschehen in der lärmigen Welt draußen. Für die vielen hundert Zöglinge, die der Anstalt auf Treu und Glauben anvertraut worden sind, bedeuten sie aber eine ganze, wunderbare Welt. Sie haben nämlich hier eines der köstlichsten Güter des Menschen, die Sprache, erworben, und sie dürfen allmählich vergessen, daß sie stumm wie die Fische und verstoßen wie die Bettler gewesen sind.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1962

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