Die Therapeutische Gemeinschaft Gatternweg

Ruedi Gröflin-Buitink

Wenn heute im Zusammenhang mit dem Drogenproblem der Name «Gatternweg» fällt, so ist allgemein klar, dass es sich um die Therapeutische Gemeinschaft am Gatternweg 40 in Riehen handelt. Diese in der ganzen Schweiz bekannte und erfolgreiche Einrichtung alternativer Sozialarbeit ermöglicht maximal sieben Jugendlichen (alles ehemaligen Fixern), sich aus ihrer Drogenabhängigkeit zu lösen. In der Gemeinschaft arbeiten mit den Jugendlichen vier feste, qualifizierte Mitarbeiter zusammen mit zwei externen Therapeuten. Zum «Gatternweg» gehören zudem die Jugendwerkstätte Brünnlirain als externe Arbeitsmöglichkeit und die Brockenbuden GLUBOS in Basel und Riehen. Getragen werden alle Einrichtungen vom privaten Verein «Selbsthilfe Jugendlicher in Wohngemeinschaften» (SJWG), mit dessen Gründung alles begann.

1971 taten sich im Zuge der Zeit einige alternative Sozialarbeiter mit in der Sozialarbeit tätigen Riehener Bürgern zusammen und gründeten die SJWG mit dem Zweck, «Hilfe an sozial benachteiligte Jugendliche zu vermitteln.» Als wichtigste Tat kaufte der Verein noch im gleichen Jahr mit privaten und staatlichen Geldern die Liegenschaft Gatternweg 40, wo Sozialarbeiter und freiwillige Helfer sich mit drei Strafentlassenen Jugendlichen als Wohngemeinschaft (WG) niederliessen. Die Gruppe verstand sich von Anfang an als Gemeinschaft zur Selbsthilfe, was ihr erstes gemeinsames Unternehmen sinnbildlich zum Ausdruck brachte: sie bauten das herkömmliche Einfamilienhaus zur WG mit Verwaltungs-, Arbeits- und Gruppenräumen um und aus. Ebenso sinnbildlich verstanden sie ihre Arbeit in der neugegründeten Brockenbude GLUBOS, wo sie aus Wohnungsräumungen eingegangene Möbel restaurierten und verkauften, wie das heute noch in der Jugendwerkstatt und den neuen Brockenbuden geschieht. Ebenfalls wie heute noch, hatte sich die Gemeinschaft Arbeitsplätze und eine unabhängige Einnahmequelle geschaffen.

 

Diese materielle Verselbständigung half, die Bauarbeiten voranzutreiben, und nach einem Jahr konnte 1972 die Gemeinschaft am Gatternweg eingeweiht werden. Nun war es auch möglich, das Ziel der Gemeinschaft näher zu definieren: der «Gatternweg», wie nun das Haus mit seinem kleinen Zoo und Garten allgemein bekannt wurde, sollte «Wohnraum für Jugendliche in Schwierigkeiten» schaffen. Solange die materielle Unabhängigkeit durch die Erträge der Brockenbude einigermassen gewährleistet war, vertrug die Gemeinschaft, die durchschnittlich aus fünf bis sechs Mitgliedern bestand, die häufigen Wechsel innerhalb der Gruppe und konnte so ihrem Zweck gerecht werden. Als im Dezember 1973 die Räumlichkeiten des GLUBOS aber abgebrochen wurden, musste auch deren Betrieb liquidiert werden. (Erst im Juli 1975 konnte sie am Brünnlirain wiedereröffnet werden.) Eine Neustrukturierung der Gemeinschaft drängte sich auf. Da sich die Gruppe ausser den Sozialarbeitern hauptsächlich aus drogenabhängigen Jugendlichen zusammensetzte, wurde die Gemeinschaft entsprechend auf deren Bedürfnisse ausgerichtet. Es gab nun neu «Mitarbeiter» und «Betreute», und aus dem «Wohnraum für Jugendliche in Schwierigkeiten» wurde die therapeutische Gemeinschaft mit einem Langzeit-Therapieprogramm für drogenabhängige Jugendliche. Damit war die noch heute geltende Bestimmung des «Gatternwegs» gefunden und ein langer Weg des Suchens vorläufig abgeschlossen. Einmal mehr wurde der Zweck des Trägervereins neu formuliert, dessen Aufgabe es seit 1974 ist, «Hilfe an drogenabhängigejugendliche zu vermitteln.»

Was aus dieser Entwicklung deutlich hervorgeht, ist, dass «Hilfe» als sozialer Prozess verstanden wird, als lebendiges Lernen während 24 Stunden am Tag innerhalb der Gemeinschaft, und dass mit der Liegenschaft Gatternweg 40 der zentrale Ort für diesen Lernprozess gegeben ist.

Grundlage der therapeutischen Arbeit am Gatternweg ist ein 2-Phasenmodell, das ursprünglich in Hannover entwickelt wurde. Letztes Ziel der therapeutischen Arbeit ist es, dass der Jugendliche grösstmögliche Unabhängigkeit vom Verein und andern Helferinstitutionen erreicht. Die Gemeinschaft hat zur Aufgabe, dem Jugendlichen innerhalb eines nach Phasen und Stufen gegliederten Programms diese Unabhängigkeit zu ermöglichen.

Die erste Phase dieses Programms zeichnet sich durch eine intensive therapeutische Betreuung aus: die Jugendlichen wohnen und arbeiten in der Gemeinschaft und können erst nach einiger Zeit extern arbeiten. Mit dem Auszug aus der Gemeinschaft endet die erste Phase nach zirka anderthalb bis zwei Jahren.

In der 2. Phase stehen die Jugendlichen nur in einem losen Kontakt mit der Gemeinschaft und können maximal ein Jahr in der Jugendwerkstätte oder in einer Brockenbude als feste Mitarbeiter arbeiten. Eine begleitende Betreuung erhalten sie vom jeweiligen Leiter der Institution. In der Regel befinden sich diese Jugendlichen in Einzeltherapie bei einem auswärtigen Therapeuten.

Das Leben in der ersten Phase, das heisst also am Gatternweg 40, ist so organisiert, dass es gesamthaft als Therapie verstanden wird. Therapie findet nicht nur an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten statt, sondern umfasst den ganzen Tagesablauf. Alle Lebensbereiche werden entsprechend von Mitarbeitern und Betreuten gemeinsam strukturiert.

Das Leben in der Gruppe ist in vier Bereiche unterteilt: 1) Wohnen, Haushalt, Garten, Tiere 2) Arbeit 3) Freizeit 4) explizite Therapie. Im ersten Bereich richtet der Betreute zuerst sein eigenes Zimmer ein und findet dazu seinen Bezug, also eine Identifikationsmöglichkeit. Er muss regelmässig putzen und aufräumen und lernt damit eine andere Lebensform als die unregelmässige der «Gasse» kennen. In der Haushaltarbeit geht es darum, dass der Betreute sich in einem geordneten Ablauf zurechtfindet und diesen Schritt für Schritt mitbestimmen kann. Im Garten und besonders bei den Tieren lernt jeder, dass regelmässiges Pflegen und Arbeiten nicht nur das Verantwortungsgefühl gegenüber Pflanzen und Tieren fördert, sondern letztlich gegenüber sich selbst.

Im Bereich «Arbeit» ist erstes Ziel, von der internen Arbeit wie Wolle spinnen, Stühle flechten zur externen in der Jugendwerkstatt oder sonstwo zu gelangen. Wichtig ist besonders am Anfang, dass ein Produkt hergestellt wird, dessen Entstehung überschaubar und nachvollziehbar ist. Es sollen auch Produkte hergestellt werden, die der Finanzbeschaffung dienen, und es wird weitgehend mit natürlichen Materialien gearbeitet, um neben dem persönlichen Bezug auch handwerkliche Interessen und Fähigkeiten zu wecken.

Im Bereich «Freizeit» bestehen rigorose Abmachungen, die wiederum konträr zum Leben auf der «Gasse» sind. Am Anfang verbringt der Betreute seine Freizeit ausschliesslich in der Gruppe, bis er später Vormittage, Abende und ganze Wochenende für sich allein beanspruchen kann. In diesem Bereich geht es vor allem darum, passives Konsumverhalten abzubauen, und Alternativen zur Langeweile finden zu lassen.

Im Bereich der expliziten Therapie wird in wöchentlichen Einzel- und Gruppensitzungen versucht, in erster Linie den Selbstheilungsprozess in Gang zu setzen. Hauptsächlich nach Methoden der Gestalttherapie wird die erlebnisorientierte Wahrnehmung von Gefühlen und Prozessen gefördert und damit die Fähigkeit entwickelt, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, anstatt vor ihnen zu flüchten.

Wird davon ausgegangen, dass Fixer ein strukturloses, dem Konsum verfallenes und Konflikten ausweichendes Leben führen, so ist das «Gegengift» indiziert: bewusste, selbstgewählte und mitbestimmte Lebensformen.

Bewusstes Ordnen und Strukturieren sind entsprechend zentrale Anliegen in der ersten Phase am Gatternweg. Für ihre Verwirklichung bietet die Gemeinschaft den Betreuten ein 4-Stufen-ModeIl an. So beginnt der Betreute in der ersten Stufe mit beinahe keinen Freiheiten und wenig Verantwortung (z.B. keine Einzelfreizeit), nur Rechten, die er zu gebrauchen lernt. Möchte er mehr Freiheit, so stellt er an die Gemeinschaft den Antrag, in die zweite Stufe übertreten zu dürfen. Begründen muss er seinen Wunsch mit der Bewährung in den verschiedenen Lebensbereichen. Die Gemeinschaft diskutiert in der «Vollversammlung», ob dem Antrag stattgegeben oder ob die Zeit in der gleichen Stufe verlängert wird. Bei «Rückfällen» kann sie auch den Ausschluss aus der Gemeinschaft durchsetzen.

Ist der Betreute in die zweite Stufe übergetreten, so bekommt er mehr Freiheiten (z.B. Einzelfreizeit), aber auch Verantwortung. Er kann nach aussen treten und als wichtigstes: er kann seine Erfahrungen als Hilfe an Betreute in der ersten Stufe weitergeben. Bei jedem übertritt in eine nächste Stufe erfolgt somit ein Ansporn, einen Schritt aus Abhängigkeiten zu machen und neue Bezüge zum Alltag zu finden.

Für den Erfolg des Therapieprogramms ist entscheidend, dass der Betreute sich aus eigener Motivation für den Aufenthalt am Gatternweg entschieden hat. Sein Wunsch, sich aus der Drogenabhängigkeit zu lösen, genügt nicht; er hat sich bewusst für die Gemeinschaft mit all ihren Härten zu entscheiden. Um aufgenommen zu werden, muss er deshalb eine schriftliche Bewerbung an die Gemeinschaft richten; er hat einige Abklärungsgespräche zu bestehen, bevor er für eine Probezeit am Gatternweg wohnen kann. Während der Probezeit zeigt sich, wie weit er die Gruppe und die Gruppe ihn akzeptieren kann.

Dieses verhältnismässig strenge Aufnahmeverfahren hat wesentlich zum Erfolg des Programms beigetragen; denn es ist damit gelungen, eine relativ stabile und kontinuierliche Gruppe aufzubauen, wie sie für die Langzeit-Therapie nötig ist. Verfrühte, das heisst vor Abschluss des Programms vollzogene Austritte sind in den vergangenen vier Jahren immer seltener geworden. Eine verwaltungstechnisch angenehme Folge des Aufnahmeverfahrens ist zudem die Möglichkeit, eine Warteliste für Plätze am Gatternweg zu führen.

Wenn wir die Entwicklung der vergangenen neun Jahre «Gatternweg» zusammenfassen, so wird eines immer deutlicher: der Erfolg wäre ausgeblieben und die Arbeit heute unmöglich ohne Risikobereitschaft und Lohnverzicht der Mitarbeiter, ohne Unterstützung und Mitarbeit staatlicher und privater Institutionen, sei es durch finanzielle Hilfen wie die Subvention der Gemeinde Riehen oder Spenden Privater; sei es durch die Zusammenarbeit mit Fürsorgeämtern in der ganzen Schweiz und dem Dropin Basel bei der Aufnahme neuer Betreuter; oder sei es durch den Erfahrungsaustausch mit andern therapeutischen Gemeinschaften wie zum Beispiel der «KETTE» (Organisation privater therapeutischer Einrichtungen der Drogenhilfe in der Region Basel).

Auch in Zukunft wird die Arbeit nur im Rahmen breitester Kooperation möglich sein; besonders wenn es um die Lösung des Problems «Nachsorge», wie die Arbeit mit ehemaligen Betreuten bezeichnet wird, geht. In der Nachsorge sieht die SJWG zusammen mit den übrigen Mitgliedern der «KETTE» denn auch die dringlichste Aufgabe der Zukunft.

Wir hoffen, dass das gesellschaftliche Verständnis gegenüber der Drogensucht und ihrer Therapie weiterhin wächst, da dies erfahrungsgemäss eine wichtige Voraussetzung für unsere Arbeit ist.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1980

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