Die zweite Basler Ärztin kam aus Riehen

Elisabeth Flueler, Brigitta Hauser-Schäublin

Adèle Thommen-Weissenberger (1872-1965)

 

Erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts befassten sich Universität und öffentlichkeit in Basel ernsthaft mit dem Frauenstudium, obwohl die Universitäten von Zürich, Genf und Bern den Töchtern ihre Tore schon längere Zeit geöffnet hatten.1) Vorsichtig wartete man an der ältesten Schweizer Universität ab, wie sich die Frage des Frauenstudiums entwickle. Wie konnten überhaupt Frauen nach einem Studium streben, zu dem keine Vorbildung möglich war? 1881 stellte die Basler Töchterschule erstmals Ausweise für Lehrerinnen aus, die dann ab 1883 vom Staat anerkannt wurden. Aber der Gedanke an ein Mädchengymnasium lag noch in weiter Ferne. Auch dachten die gebildeten Kreise, die «besseren Familien», nicht daran, dass ihre Töchter einen Beruf erlernen möchten, um ihn dann auch auszuüben. Es waren die Eltern aus dem zukunftsgläubigen Mittelstand, die für ihre Töchter die Erlaubnis zum Studium anstrebten.

An allen Universitäten verlangten die Frauen zuerst zum Medizinstudium Zugang; deshalb hatte sich auch in Basel die medizinische Fakultät als erste mit der Frage des Frauenstudiums zu befassen. Diese anfängliche Bevorzugung des Medizinstudiums hing mit der traditionellen Rolle der Frau zusammen, da sie neben dem Aufziehen und Lehren der Kinder sich auch um die Kranken und Alten in der Familie kümmerte. - Laut einer Umfrage unter den Professoren waren diejenigen der medizinischen Fakultät für die Zulassung von Frauen; die andern Fakultäten und die Kuratel sprachen sich dagegen aus. Trotzdem stimmten der Regierungsrat und dann, am 20. März 1890, der Grosse Rat für das Frauenstudium. So konnte Emilie Frey, Tochter des Kaufmanns Eduard Frey-Stampfer, nachdem sie in Zürich die eidgenössische Maturität bestanden hatte, im Sommersemester 1890 an der Universität Basel immatrikuliert werden, als erste Frau und als einzige unter 400 Studenten. Sie praktizierte als erste Basler ärztin bis 1935.

Zwei Jahre nachdem die erste Baslerin das Medizinstudium begonnen hatte, immatrikulierte sich die erste Riehenerin, Adèle Weissenberger, an der gleichen Fakultät. Neben Lina Wanner (1875-1960) (s. Seite 142), die sich für das Studium der Zahnmedizin entschlossen hatte, wurde sie mit dem Abschluss des Medizinstudiums im Jahre 1898 zur ersten Akademikerin Riehens.

Adèle Weissenberger war die zweite Tochter von Adelheid Wenk und Heinrich Weissenberger, der als letzter in der Reihe seiner Vorfahren den Beruf eines Dorfbaders ausübte.2) Die von Adèle Weissenberger verfassten Aufzeichnungen aus ihrem Leben, die sie ihren Nachkommen hinterlassen hat, beginnen mit ihren Kindheitsjahren, die sie im Badhaus an der Bahnhofstrasse verlebte. Diese Aufzeichnungen vermitteln Einblicke ins Leben dieser aussergewöhnlichen Frau, die bis ins hohe Alter den Arztberuf, den sie von ihrem ehelichen Heim und ihrer Praxis aus an der Holbeinstrasse in Basel ausübte, nie ganz aufgab. Deshalb soll sie, durch die Notizen aus ihrem Leben, selbst zu Wort gelangen: «Im elterlichen Hause an der Bahnhofstrasse in Riehen, dem alten Bad, verlebte ich mit meinen beiden Schwestern Anna und Emma die ersten Kinderjahre.

Wir Kinder wurden äusserst einfach und streng erzogen, aber es fehlte uns an nichts, und wir erlebten grosse Freuden an unseren einfachen Weihnachtsfesten, oder wenn wir mit Mama an die Messe nach Basel gehen durften, oder an den verschiedenen Weinlesen bei uns und bei den Verwandten. Im Jahre 1878 siedelten wir in das vom Vater erbaute neue Haus über vis-à-vis dem Bahnhof. Im gleichen Jahr kam ich in die Schule, und die kommenden Jahre brachten die kleinen Nöte und Freuden der Schulzeit. Ich hatte immer weniger gute Zeugnisse als meine beiden Schwestern und enttäuschte dadurch meinen Vater sehr. Ich sehe ihn noch an meinem Examen der 3. Klasse mit gerötetem Kopf, weil ich eine einfache Multiplikation falsch gerechnet hatte. Mein liebster Lehrer, vor dem ich den grössten Respekt hatte, war Herr Rohner, der mich dann später in Mathematik auf die Maturität vorbereitete.

Nach Beendigung der Riehener Schule ging ich zwei Jahre in die Basler Töchterschule, zusammen mit meiner Schwester Anna. Wenn der Zug passte, so gingen wir zum Mittagessen heim, sonst assen wir bei befreundeten Familien in der Stadt zu Mittag. In dem gastlichen, geistig und social hochstehenden Kreise konnte ich vieles lernen, und ich bin den teuren Menschen bis heute unvermindert dankbar geblieben.

Am 18. März 1888 wurde ich in der Peterskirche bei Herrn Pfarrer Böhringer confirmiert und erhielt den Spruch Ps. 27, Vers 1.

Nach Unterbruch eines Jahres, das ich zu Hause zubrachte und zur Stärkung meiner etwas geschwächten Gesundheit benützte, bezog ich wieder die Schule und machte die zwei Fortbildungsklassen der Töchterschule durch und bestand im Frühjahr 1891 das Lehrerinnenexamen.

Ich hatte aber nicht im Sinn, Lehrerin zu werden, sondern ich wollte Medizin studieren, und alle meine Bemühungen galten diesem Ziel. Meine Eltern setzten mir keinen grossen Widerstand entgegen und erlaubten, dass ich Privatstunden in Mathematik und Latein nahm.

Im Frühjahr 1892 machte ich in Zürich die eidgenössische Fremdenmaturität für Mediziner. Kurz vorher war mein Vater schwer krank gewesen und war mit Mama in Lugano zur Erholung. Bald nachher fing das Studium an der Basler Universität an. Ich besuchte die naturwissenschaftlichen Collégien bei den Professoren Klebs, Zschokke, Piccard und Hagenbach-Bischoff. Das Aufnehmen des vielen neuen und hochinteressanten Wissens war für mich unbeschreiblich beglückend. Besonders gefiel mir die Zoologie und die vergleichende Anatomie der Wirbeltiere bei Professor Zschokke. Die männlichen Mitstudenten waren freundlich gegen mich und liessen mich gewähren, manche Freundschaft verband mich mit ihnen... Die beiden Propaedeutica waren gut vorübergegangen, und ich wurde nun Klinikerin. Meine Lehrer waren alle ausserordentlich gut und rücksichtsvoll gegen mich, eher hatte ich ausnahmsweise von einem Patienten oder einer Patientin Widerstand zu ertragen, die mit einer weiblichen Studentin nicht einverstanden waren. Als Unterassistentin bei Professor Socin lernte ich Dr. Paul Heusler kennen. Sein männlicher, gerader Charakter, seine Sicherheit und Weltgewandtheit imponierten mir mächtig, und wir fassten bald grosse Zuneigung zueinander. Es war ein schönes Arbeiten zusammen und wir machten schöne Pläne, wie wir später und immer miteinander arbeiten wollten. Im Frühjahr 1898 erkrankte Paul Heusler an Grippepneumonie und starb am 17. Mai. Mir kam es vor, als ob nun auch für mich das Leben ein Ende hätte. Doch in vier Wochen sollte mein Staatsexamen stattfinden, und ich durfte mich nicht der Trauer überlassen. Die strenge Arbeit half mir über die schlimmste Zeit des Kummers hinweg und nicht weniger die Liebe und Teilnahme der Familie des Verstorbenen. Das Examen war vorüber, und nach einem Erholungsaufenthalt in Bad Boll kam ich als Volontärassistentin ins Kinderspital Basel, das von Professor Hagenbach-Burckhardt geleitet wurde. Hier machte ich meine Doktordissertation über: Intubation und Serumbehandlung der Diphterie im Basler Kinderspital. Im Herbst 1899 reiste ich nach Dresden und wurde Volontärassistentin an der Königlichen sächsischen Frauenklinik unter Professor Leopold. Dieser Winter mit den vielen Kranken und Gebärenden in der grossen Klinik war ausserordentlich lehrreich. Das Verhältnis zu den ärzten und besonders zum Chef war das denkbar beste. Professor Leopold führte mich in seine Familie ein, und ich habe viel schöne, durch klassische Musik festlich gestaltete Abende dort zugebracht. Die Stadt Dresden mit den reichen Kunstsammlungen, mit den prächtigen Barockbauten und der schönen Umgebung wurde mir ganz besonders lieb.

Nach meiner Rückkehr ging ich daran, eine Praxis zu gründen, und am 1. Juni 1900 eröffnete ich sie im Hause der Apotheke Rohrdorf am Spalenberg. Ich durfte mit dem Anfang zufrieden sein und hatte bald ein ganz nettes Arbeitsfeld.

An Pfingsten 1903 verlobte ich mich mit Dr. Emil Thommen, Lehrer an der damaligen oberen Realschule in Basel, dem Sohn der unserer Familie seit Jahren befreundeten Familie des Lehrers Jakob Thommen-Harr in Bettingen. Wir kannten uns schon sehr lange, waren uns aber in den letzten Jahren nur selten begegnet. Wie unerwartet kam an mich die Frage. Aber ich brauchte mich nicht lange zu besinnen. Ich hatte zu Dr. Thommen das grösste Vertrauen und grossen Respekt vor seinem Wissen, ich hatte auch früher schon für ihn 'geschwärmt'.

Am 1. Oktober 1903 wurden wir in der Kirche zu Riehen durch Pfarrer Iselin getraut. Im Frühjahr 1905 kauften wir das Haus Holbeinstrasse 57 und zogen anfangs Juli ein.

Von Neujahr 1908 an zeigt sich die Krankheit meines lieben Vaters und am 17. April stirbt er in Kirchdorf, Kt. Bern, wo er bei einem Arzt zur Erholung weilte. Am 22. August dieses Jahres kommt Heini (d.h. das einzige Kind, Georg Heinrich, der später als Dr. jur. seine Studien abschloss und nach einer mehrjährigen Tätigkeit an der Kriegswirtschaftlichen Abteilung in Bern bis zu seinem Tode als Buchantiquar in Basel lebte) zur Welt.»

Sehr wichtig «war mir doch meine Berufsarbeit, die ich mit wenigen Unterbrechungen von Frühjahr 1900 bis heute (Herbst 1936) ausgeübt habe. Von Anfang an hatte ich eine sehr nette, mich befriedigende Tätigkeit und hatte viel mehr Freude dabei als Widerwärtiges und Schweres. Ich habe jetzt noch viele Patienten, die ich seit den ersten Jahren meiner Praxis betreue und denen auch ich sehr anhänglich bin. Schwer traf es mich immer, wenn mich jemand verliess, und ich plagte mich lange Zeit mit der Frage, warum es wohl geschehen sei. Ich hatte ja natürlich, schon während des Studiums und auch später, als Frau und allein, wie ich meistens vorwärtsging, nicht alles so vollständig aufnehmen und praktisch üben können, wie meine männlichen Kollegen. Ich hatte oft das Gefühl, die andern könnten alles besser machen als ich. Wenn mir wirklich ein Fehler passierte oder ich meine Unzulänglichkeit einsehen musste, waren dies Ursachen mancher schlechter Nacht und grosser Aufregungen. Aber die Freude, die ich in meiner Tätigkeit erlebte, überwog das Traurige und Schwere doch um vieles.

Seit dem Frühjahr 1936, nach einer 14 Tage dauernden Grippe, fühle ich mich viel weniger wohl als gewöhnlich, und ein etwas schwerer Krankheitsfall, der mich körperlich sehr in Anspruch nahm, zeigte mir, dass ich mit der Arbeit nicht so weitermachen darf wie bisher. Das Herz machte mir wochenlang viel Beschwerden, und ich entschloss mich, wenigstens die Hausbesuche aufzugeben.»

«Sept. 1945: Ich habe nun meinen Beruf aufgegeben, nicht ohne grosses Bedauern auf der einen Seite, aber doch mit einem Gefühl der Erleichterung und des Dankes, dass ich nun nicht mehr die grosse Verantwortung tragen muss, die mit dem ärztlichen Beruf verbunden ist.»

Trotz dem Wortlaut dieses Eintrages von 1945 ins Tagebuch aber wissen wir, nicht zuletzt dank den Kindheitsundjugenderinnerungen ihres Enkels, des heutigen Biologen Dr. Heinrich Thommen, dass die weit herum beliebte Arztin bis in ihr neuntes Lebensjahrzehnt hinein - sie starb 1965 93jährig - einen Kreis von vornehmlich älteren Patientinnen besass, die sie auf deren Wunsch hin mit dem ihr eigenen Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein betreute. Adèle Thommen-Weissenberger blieb in vorgerücktem Alter von Schicksalsschlägen nicht verschont: 1949 starb ihr Mann, Emil Thommen, und 1956 ihr Sohn, Georg Heinrich. Ihre Grosskinder, so schreibt sie in einer späteren Aufzeichnung, haben ihr über dieses Leid hinweggeholfen.

Die Ermahnungen, die sie den Menschen gegenüber aussprach, die ihr nahe standen, waren Ausdruck ihrer Besorgtheit um das gesundheitliche Wohl und die Zukunft derer, für die sie sich auch verantwortlich fühlte. Nach dem frühen Tode ihres Sohnes machten sie einer immer stärker werdenden Milde Platz. Obwohl Adèle ThommenWeissenberger immer berufstätig gewesen war, fand sie nicht zuletzt dank ihrer Haushälterin, die ihr fast 50 Jahre lang zur Seite gestanden war - auch immer Zeit für ihre Familie, namentlich für ihre Enkel, denen sie gerne selbst erfundene Märchen erzählte, mit ihnen einen Spaziergang unternahm und mit denen sie regelmässig Birnenbrot und Weihnachtsgutzi buk. Für ihre Enkelkinder war die Grossmutter auch gleichzeitig diejenige Person, die im Krankheitsfall als kompetente Arztin einspringen konnte.

 

Die erste Riehener Zahnärztin

Lina Wanner, geboren am 26. Juli 1875, die Schwester des Riehener Müllermeisters Johannes Wanner-Hess (siehe Seite 28), war die erste Riehener Zahnärztin. Im Unterschied zu Adèle Weissenberger aber studierte sie nicht an der Universität Basel. über die Gründe wissen wir nicht Bescheid; jedenfalls bestanden dort lange Zeit, bis nach der Jahrhundertwende, nur mangelhafte Ausbildungsmöglichkeiten in Zahnheilkunde.3) Lina Wanner ist vermutlich im Jahre 1900 in die USA übersiedelt. Im März des gleichen Jahres verlangte sie nämlich vom Inspektorat der Schulen von Riehen und Bettingen einen Auszug aus ihrem Zeugnis der vierten oder obersten Klasse der Sekundär- und Realschule, die sie im Jahre 1889/90 erfolgreich abgeschlossen hatte. Wahrscheinlich benötigte sie diesen Nachweis für ihre Studien in Amerika. Am Wisconsin College of Physicians and Surgeons in Milwaukee wurde ihr am 18. Mai 1903 die Würde eines Doktors der Zahnheilkunde verliehen. Nach Basel zurückgekehrt, eröffnete sie mit einer Freundin, die ebenfalls in den USA studiert hatte, eine Praxis. Nach deren Verheiratung zog Lina Wanner zuerst nach Zürich, liess sich dann aber 1924 im Wiesental, in Schopfheim, nieder, wo sie bis 1950 als Zahnärztin tätig war. Sie lebte dort auch nach ihrem Rücktritt aus dem Berufsleben weiter bis zu ihrem Tode am 30. September 1960.

Quellen

1 Elisabeth Flueler. Die Geschichte der Mädchenbildung in der Stadt Basel. 162. Neujahrsblatt 1984 S. 97f.

2 Michael Raith. Die Familie Weissenberger von Riehen. Z'Rieche 1979, S. 52-64.

3 Das Frauenstudium an den Schweizer Hochschulen, herausgegeben vom Schweiz. Verband der Akademikerinnen. S. 222f. Zürich 1928.

Biographische Angaben zu den im Text erwähnten Persönlichkeiten:

Paul Böhringer (1852-1929), Prof. Dr. theol., Pfarrer Eduard Hagenbach-Bischoff (1833-1910), Prof. Dr. phil., Mathematiker Eduard Hagenbach-Burckhardt (1840-1916), Prof. Dr. med., Pädiater Emil Iselin (1861-1925), Dr. theol. h.c., Pfarrer Georg Klebs (1857-1918), Prof. Dr. phil., Pflanzenphysiologe Gerhard Christian Leopold (1846-1911), Prof. Dr. med., Gynäkologe Jules Piccard (1840-1933), Prof. Dr. phil. et med. h.c., Chemiker Friedrich Zschokke (1860-1936), Prof. Dr. phil. et sc. techn. h.c., Zoologe

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1986

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