Disziplin und Freiheit am Himmel

Eric Müller

Eric Müller, der seit vielen Jahren in Riehen wohnt, hat im Kunstflug ganz ausserordentliche Leistungen erbracht. So ist er vierfacher Schweizer Meister, wurde 1974 Europameister und nahm bereits dreimal an Weltmeisterschaften teil, zuletzt 1976 in Kiew. Das wohl Aussergewöhnlichste an seinen Leistungen aber ist, dass er sie als wirklicher Amateur erbrachte; der Kunstflug ist für ihn stets Hobby geblieben, dem er sich neben seinem Beruf als Architekt mit Begeisterung widmet. Doch lassen wir Eric Müller selber erzählen, wie er zum Fliegen kam. 

Seitdem ich weiss, dass es Flugzeuge gibt und dass man sich damit dreidimensional bewegen kann, bin ich vom Fliegen fasziniert. Das begann mit sechs Jahren. Damals suchte ich alle Flugzeugbildchen zusammen, die ich auftreiben konnte, aber da es noch fast keine Fachzeitschriften gab, war das gar nicht so einfach. Dann begann ich Flugzeugmodelle zu bauen, aus Holz geschnitzte anfänglich und später solche, die fliegen konnten. Da hiess es nun zuerst die Zeichnungen anfertigen und dann laubsägeln, leimen, bespannen und lackieren. Dann kam der grosse Moment: das Einfliegen. Manchmal brachte er Erfolg und Freude, manchmal nur Bruch und die feste überzeugung, dass das nächste Modell besser werde. Je länger ich mich mit dieser Materie befasste, desto mehr war ich fasziniert davon.

Meinen ersten Flug durfte ich mit dreizehn Jahren machen, dank der Tatsache, dass ich ein schlechter Schüler war. Mein Vater versprach mir einen lOminütigen Kunstflug mit einem Fluglehrer, wenn ich nicht mehr auf Probe käme. Da lohnte sich denn das Büffeln, ich wollte unbedingt in einem richtigen Flugzeug und nicht in der Schule fliegen. Der grosse Tag kam, ich hatte alles sehr genau vorbereitet, alle Figuren, die der Fluglehrer fliegen sollte, aufgeschrieben und mir nächtelang vorgestellt, wie diese wohl zu fliegen seien. Mit einer Bücker Jungmann auf dem alten Sternenfeld, dem Fluglehrer Erich Lüthy und ganz viel Erwartungen startete ich zu diesem ersten Flug, der wunderbar, aber viel zu kurz war. Hier wurde ich von jenem Virus erfasst, von dem ich nicht mehr loskam und der mir viel Freude und schöne Stunden brachte.

Mit siebzehn Jahren durfte ich im fliegerischen Vorunterricht 8 Flugstunden fliegen und wollte dann Militärpilot werden, was mir jedoch nicht gelang. Sieben Jahre später habe ich mit meinem ersten Lohn den nächstbesten Flugplatz aufgesucht und mich als Schüler eingeschrieben. Gleich nach dem Privatpiloten- bestand ich auch das Kunstflugbrevet.

Es begann eine schöne Zeit. Kunstflug heisst Beherrschung des Flugzeuges in allen Fluglagen und Flugzuständen. Daraus entsteht ein harmonisch künstlerisches Spiel in exakten geometrischen Figuren — ein Ballett am Himmel. An den Kunstflugmeisterschaften der Schweiz konnte ich freilich erst 1968, also mit 35 Jahren zum ersten Male mitmachen. Vorher fehlte es mir an Zeit und Geld, und es gab kaum Kunstflugzeuge in der Schweiz, die man mieten konnte. 1970 wurde ich für die Schweizer Nationalmannschaft selektioniert und ging mit einer Bücker-Lerche an die Weltmeisterschaften nach England. Es war ein tolles Erlebnis, und es war für mich faszinierend, das beherrschte Fliegen zu perfektionieren. Der Wettbewerb, das Sich-Messen mit anderen, setzt die richtigen Maßstäbe und ist auch Ansporn in der Suche nach der grösstmöglichen Beherrschung der Materie. Die grosszügige Freiheit im Kunstflug, sich vielfältig und raumerfassend bewegen zu können, existiert natürlich, wie jede andere Freiheit, nur im Rahmen von feingegliederten Gesetzen und Ordnungen. Es spielen da Technik, Mechanik und Aerodynamik mit, aber es gilt auch, die eigene Psyche und die physische Kondition folgerichtig damit zu verbinden. Erst die Ordnung aller Einflüsse erlauben einem, diese grosszügige Freiheit im Kunstflug zu erleben und zu geniessen.

Im Kunstflug findet man, allerdings mit speziellen Flugzeugen, die Grenzen des Möglichen, das Beherrschen jeder Fluglage, Fliegen auf dem Rücken oder senkrecht hinunter und auch das Fliegen mit grossen Anstellwinkeln. Sobald ein Flugzeug einen gewissen Anstellwinkel überschritten hat, geht es von selbst in eine Trudel- oder Autorotationsbewegung über, welche nur durch eine geeignete Steuertechnik beendet werden kann. Die Kunstflieger erarbeiten und üben diese Steuermöglichkeiten und vereinen sie in einem Tanz am Himmel. Aber hier findet der Kunstflug auch seinen positiven Niederschlag auf die allgemeine Luftfahrt. Diesen Zusammenhang zwischen Kunstflug und allgemeiner Luftfahrt wird man spätestens dann wirklich begreifen, wenn die Linienmaschine, in der man sitzt, in eine abnorme Fluglage gerät, sei es durch extreme Windverhältnisse, mechanische Schwierigkeiten oder Fehler des Piloten. Spätestens dann wird man die fundierten Kunstflugkentnisse des Piloten zu schätzen beginnen.

Nach den Weltmeisterschaften in England mit einem alten Flugzeug war es mir klar, dass auch die Technik geändert werden musste. Ein Jahr später war ein Club gegründet und das Geld organisiert, um ein modernes Kunstflugzeug, einen Acrostar, erwerben zu können. Dieses Flugzeug wurde vom Schweizer Swissairpiloten Arnold Wagner konstruiert und in Deutschland gebaut. Es ist eine Holzkonstruktion mit einem Glasfaserholm, einem 220 PS starken Boxermotor und einer ausgezeichneten Wendigkeit. Ein Beispiel: mit der alten Bücker-Lerche konnte man kaum eine Rolle senkrecht hinauf fliegen, mit dem Acrostar kann man gleich drei machen.

Mit diesem Flugzeug waren dann die letzten, wesentlichen Voraussetzungen geschaffen, um in der Weltelite ein ernsthaftes Wort mitreden zu können. Als einer der wenigen wirklichen Amateure, — die meisten anderen Piloten sind mindestens Berufspiloten oder sogar ausschliesslich Kunstflieger —, gelang es mir, 1974 Europameister zu werden. 1976 konnte ich nochmals an den Weltmeisterschaften in Russland teilnehmen, was wiederum ein sehr interessantes und eigenartiges Erlebnis war. Die Art und Weise wie die Russen, d. h. das jetzige russische System, einen «sportlichen» Wettbewerb bestreiten, entspricht freilich nicht meiner Weltanschauung. Da ist alles erlaubt, sofern es dem System nützt, seien es nächtliche Ruhestörungen per Telefon oder gar falsche Ausrechnungen der Resultate. So konnte nur ein Russe «gewinnen». Wenn der Sport den Machthabern eines Landes dazu dient, ihre Macht zu festigen, ist dies ein übler Missbrauch, und ich meinerseits werde an keinem sportlichen Anlass im Osten mehr teilnehmen, ohne handfeste Garantien zu haben, dass nicht gemogelt werden kann. Doch dieser Flug mit einem kleinen Sportflugzeug 1000 km hinter den Eisernen Vorhang, in eine völlig andere Welt, hinterliess mir einen gewaltigen Eindruck. Was wir bei uns zum Teil als Selbstverständlichkeiten hinnehmen, ist mir dadurch wieder zu Werten geworden, welche man pflegen muss.

Um diesen doch relativ teuren Sport finanzieren zu können, fliege ich an Flugveranstaltungen Kunstflugvorführungen. Der Erlös kommt dem Club zugute, und dessen Mitglieder können dadurch das Flugzeug günstig mieten. Diese Vorführungen, welche vom Piloten exakte Kunstflugkenntnisse voraussetzen, sind Zirkusvorführungen. Das Publikum muss staunen und zum Lachen gebracht werden. Es ist die Arbeit eines Clowns, die Leichtigkeit vorspiegelt und doch einer präzisen Vorbereitung bedarf; da ist nichts improvisiert. Vor einigen Jahren machte ich eine solche Vorführung über dem Rhein in Basel. Natürlich lockte es mich, unter einer Brücke durchzufliegen. Doch nur mit spontanen Entschlüssen lässt sich dies nicht bewerkstelligen, es sei denn, man möchte später etwas bereuen. Ich musste also die rechtliche Situation abklären, Fährseile und Brückenbogen ausmessen, die Winkel und auftretenden Beschleunigungen berechnen. Schliesslich stimmte alles. Eine halbe Stunde vor dem Flug kontrollierte ich an Ort und Stelle mit dem Feldstecher, ob nicht etwa Lautsprecherkabel oder ähnliches neu hinzugekommen waren. Nach all diesen Vorbereitungen sieht dann das Publikum nur noch einen plötzlichen Durchflug und ist überrascht und erstaunt. Das ist Zirkus!

Der Kunstflug hat mir persönlich vieles gegeben. Abgesehen von all den grossartigen fliegerischen Erlebnissen ist mir zum Beispiel das Maienbühl und die Eiserne Hand ans Herz gewachsen. Bei meinen Waldläufen zum Zwecke des Konditionstrainings ist mir diese Gegend mit seinen Rehen, Hasen, Vögeln und seinem gepflegten Wald zum Freund geworden. Auch die Notwendigkeit der körperlichen Fitness beim Kunstflug kommt mir täglich zugute; ich war motiviert, das Rauchen aufzugeben und einen gesunden Lebenswandel zu führen, der das Leben lebenswerter macht. Ebenso erlernte ich das autogene Training, um das furchtbare Lampenfieber, das mich früher in Wettbewerben befiel, zu bekämpfen; auch dies hilft mir, gewisse Probleme einfacher zu bewältigen. Nicht zuletzt konnte ich in der Rezession ein zusätzliches Tätigkeitsfeld finden, indem ich als Flugfotograf Luftaufnahmen für verschiedenste Zwecke anfertigte. So ist aus dem Bubentraum ein Hobby und eine sportliche Betätigung geworden, die mein Leben aufs Schönste bereichern.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1977

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