Ein Autorennen vor sechzig Jahren

Ruth Köppel-Geitlinger

Ich kann nicht behaupten, je eine besondere Vorliebe fürs Abstauben empfunden zu haben. Schon als kleines Mädchen konnte ich nicht einsehen, weshalb ich den Tischfuss putzen sollte, wenn doch kein Mensch je unter den Tisch schaute. So blieb ich denn meistens eine Weile am Boden sitzen, bewunderte das kunstvoll gedrechselte und geschnitzte Holz und flocht die Fransen des Tischtuchs zu Zöpflein. Einem Gegenstand jedoch gehörte meine ganze Zuneigung, einem versilberten Becher mit dem eingravierten Namen meiner Mutter und der Inschrift «ChrischonaRennen 1925, Auto. Sekt. Basel T.C.S., 2. Preis, IV. Kategorie».

Diesen Becher staubte ich nicht nur gewissenhaft und gerne ab, den polierte ich sogar von Zeit zu Zeit freiwillig mit Silberputz. Wer konnte schon mit einer Mama aufwarten, die als neunzehnjähriges Mädchen ein Autorennen gefahren war? Zu gerne hörte ich ihr zu, wenn sie aus ihrer Jugendzeit erzählte. Während ihre ältere Schwester in der Freizeit kunstvolle Kissen häkelte, Unterröcke strickte und verschnörkelte Monogramme stickte, half meine Mama mit Vorliebe ihrem Vater und ihren drei Brüdern in der mechanischen Werkstatt. Im Arbeitsmantel und mit ihrem Bubikopf wurde sie eher als Lehrling denn als Tochter des Meisters angesehen. Es kam daher auch vor, dass ihr ein Kunde ein Trinkgeld in die Hand drückte mit der Bitte, ihm doch den 5-Tonnen-Lastwagen (mit Eisenbereifung) rückwärts durch das schmale Werkstatt-Tor hinauszufahren.

So kam es, dass das junge Mädchen zu einer Zeit Auto fuhr, als Frauen am Steuer noch recht selten waren und daher grosses Aufsehen erregten. «Wenn dr nummen e Rad abfliege dät!» oder ähnliche liebenswürdige Zurufe bekam die jugendliche Fahrerin des öftern zu hören, wenn sie im offenen Dodge durch Basels Strassen fuhr. Das hinderte sie

Ruth KöppelGeitlinger jedoch nicht zuzusagen, als ihr der Vorschlag gemacht wurde, anstelle ihres Bruders am Chrischona-Rennen 1925 teilzunehmen. Sie war damit, neben zahlreichen Herren, die jüngste der immerhin drei zur Konkurrenz angemeldeten Damen.

Am 27. September war der grosse Tag gekommen. Mit ihrem Bruder auf dem Nebensitz fuhr das kleingewachsene, zierliche Persönchen, das kaum über das riesige Lenkrad hinwegsehen konnte, in Richtung Riehen.

Wie man einem Bericht in der National-Zeitung vom 28. September 1925 entnehmen kann, waren an jenem Tag noch weitere Basler unterwegs: «... In Massen strömte die Bevölkerung in der Frühe des Sonntagmorgens nach Riehen, sodass die Strassenbahnen auf der Sechserlinie eine ganze Anzahl Extrawagen einschalten mussten. Zudem suchten sich Automobile, Seitenwagen, Motorräder und die (heute noch!) populärsten Velos zwischen den Fussgängern auf der Landstrasse vorwärts zu schieben. Der Wettergott hatte rechtzeitig ein Einsehen. Nachdem in den letzten Tagen Regen und sinkende Temperatur das gute Gelingen beinahe in Frage ge stellt hatten, strahlte am Sonntag bei blauem Himmel die wärmende Sonne. Freilich vermochte sie nicht den ganzen Vormittag zu triumphieren. Zeitweise Regenschauer setzten manchem Fahrer unangenehm zu.

Der Start befand sich unmittelbar nach dem Bahnübergang in Riehen. In langen Reihen hatten sich hier alle die verschiedenartigen Vehikel postiert, nachdem sie sich zuvor dem obligaten Abwägen unterzogen hatten und mit der Startnummer geschmückt waren. Laut knatterten die Motore bei der letzten Prüfung, und es war schwierig, zum vorneherein bei diesem grossen «Frontabschreiten» die Gewinnchancen abzuwägen. Immerhin konnten sich Tastversuche auf die Erfahrungen früherer Rennen stützen. Der Ordnungsdienst war vor eine schwierige Aufgabe gestellt. Nur mit Mühe konnten die vielen Tausend Schaulustigen zum Räumen der breiten Strasse bewegt werden. Nach einer gründlichen Besichtigung der Rennwagen suchte sich das Publikum bei den kitzligen Kurven zu postieren, also dort, wo am ehesten «etwas» zu erwarten war, wo die Lenker der Fahrzeuge mit grösster überlegung und raffiniertester Berechnung die Steuer handhaben mussten. Die zahlreich aufgebotene Absperrmannschaft waltete ihres undankbaren Amtes vor und während des Rennens mit grosser Ruhe und ebensolcher Energie. Die Wächter der «Sekuritas» besorgten diesen Ordnungsdienst, unterstützt durch Polizeileute aus dem städtischen Polizeikorps. Dass es immer noch Leute gibt, die den Anordnungen des Ordnungsdienstes nicht Folge leisten und trotz der grossen Gefahr sich auf der Fahrbahn aufhalten, ist bedauerlich.

Kurz nach 8 Uhr fuhr ein Signalwagen mit weisser Fahne auf der Rennstrecke nach der Chrischona. Damit war das Zeichen zum Beginn des Rennens gegeben. Schon nach wenigen Minuten verkündete starkes Rattern das Herannahen des ersten Motorrades und in kurzen Abständen folgten sich die Konkurrenten. Die Länge der zu durchfahrenden Strecke betrug 3495 Meter. Dabei war eine Höhendifferenz von 210 Meter bei einer Durchschnittsteigung von 6 Prozent zu überwinden. (...) Bei den Motorrädern und Seitenwagen waren schweizerische, deutsche, englische, italienische, französische und amerikanische Marken am Start. Im Rennen für Automobile konkurrierten Amilcar, Derby, Salmson, Rally, Fiat, Citroen, Bugatti, Chiribiri, Bignon, La Buire, C.F., Aga, Rollin, Opel, Dt. Zedel, Buick, Berliet, Lancia, Speedsports, Peugeot, Dodge, Chrysler und Alba, eine bunte Beteiligung von Wagen der verschiedensten Fabriken und Länder (...) Dem ganzen Rennen fehlte es nicht an ausserordentlich spannenden Momenten. Die vielen Kurven stellten an die Fahrer hohe Anforderungen, und nach rassigem Anfang mussten verschiedene aufgeben. Besonders das Dorf Bettingen und dessen Südostausgang wurde zur heimtückischen «Falle», der einige Konkurrenten nur äusserst knapp entgingen. Die Polsterung der Strassenmauer und der Telegraphenstangen erwies sich als sehr angebracht. In der Bettingerkurve stürzte 8.11 Uhr in voller Fahrt Ch. Banscher mit seinem Engländer, so dass er bewusstlos weggetragen werden musste. Umsomehr überrascht waren wir, als gegen Schluss des Rennens der Verunglückte nach seiner Erholung mutig neuerdings startete. 8.12 Uhr musste Nebiker aufgeben, da der Motor im Dorfe Bettingen verbrannte. Ebenfalls stürzte - ohne nachteilige Folgen - Dr. P. Würz. Letzterer sogar zweimal, was ihn aber nicht hinderte, in einer dritten Konkurrenz (Seitenwagen) neuerdings zu starten und sich unter diesen erschwerenden Umständen sogar an die Spitze zu plazieren. Schlimm erging es Theo Karrer, der mit seinem «Salmson» nach brillantem Anfang im Dorfe Bettingen zu Fall kam, so dass der Wagen zertrümmert wurde. Er selbst wurde am Kopf verletzt, doch ohne nachteilige Folgen. Einen salto mortale in ein Grabenbord schlug Hackspiel, ohne verletzt zu werden, und in engere Bekanntschaft mit einem Graben geriet H. Gaewyller. (...)»

Auch meine Mutter gehörte zu jenen, die in einer Kurve von der Strasse abkamen. Es gelang ihr jedoch, den Dodge zu bändigen und das Rennen fortzusetzen.

Nach vier Stunden verkündete ein Wagen mit weisser Signalflagge das Ende der Konkurrenz.

Die zu Beginn gestarteten Motorräder waren inzwischen über den Waldweg hinunter nach Riehen zurückgekehrt. Die heimwärts fahrenden Automobile konnten noch einmal von der schaulustigen Menge bewundert werden. Im Casinosaal wartete ein Mittagessen auf Konkurrenten, Mitglieder der Basler Sektion des T.C.S. und auf die geladenen Gäste. Reden wurden gehalten, und der Präsident der Sektion Zürich überreichte der Sektion Basel sogar einen Pokal zur Erinnerung an das grosse Ereignis.

Um 15.30 Uhr waren endlich die Resultate ausgewertet, und der Präsident der Sportkommission, K. Wirz, konnte die Rangordnung verkünden. Von all dem bekam die Dodge-Fahrerin nichts mit. Enttäuscht, dass ihr Wagen «vom rechten Weg abgekommen war», war sie heimgefahren. Der Appetit auf das Bankett-Essen war ihr vergangen, und einen Platz in den «vordersten Rängen» hielt sie für unmöglich. Um so erstaunter war sie, als man ihr einen Becher heimbrachte und ihr Fehlen an der Ehrung zutiefst bedauerte.

Kaum hatte die Trophäe einen ihr gebührenden Platz im Biedermeierkästlein gefunden, kam eine Vorladung aufs «Bäumli» ins Haus geflattert. Mutters Bruder, auf dessen Name der Wagen zugelassen war, war vom Bettinger Dorfpolizisten Krebs verzeigt worden wegen Fahrens mit übersetzter Geschwindigkeit. Vermutlich hatte meine Mutter bei ihrer Trainingsfahrt derart viel Staub aufgewirbelt, dass der gestrenge Ordnungshüter nicht mehr erkennen konnte, dass eine Frau am Steuer sass. Der Angeschuldigte konnte beweisen, dass er zum fraglichen Zeitpunkt ganz woanders war, und somit blieb bis auf den heutigen Tag die Busse unbezahlt. Niemandem wurde die Fahrbewilligung entzogen, was auch zu schade gewesen wäre. Dieses lesenswerte, 1925 ausgestellte Dokument umfasst an die dreissig Seiten u.a. mit Verordnungen betreffend «Verkehr mit Motorfahrzeugen und Fahrrädern», Strafbestimmungen und ein «Gesetz über Besteuerung und Verordnung betreffend die Strassenpolizei in Bezug auf den Betrieb der Strassenbahnen».

Beim Lesen der nachfolgenden Beispiele kann sich wohl niemand eines amüsierten Schmunzeins erwehren:

 

Art. 31 Im weitern ist der Gebrauch der Mundpfeife und der mehrtönigen Hupe, sowie der Sirene ausserhalb der Ortschaften, gestattet. Alle andern Signalapparate sind dagegen untersagt. Der Führer soll die Warnvorrichtung so oft als es zur Sicherheit des Verkehrs als nötig erscheint, namentlich auch bei scharfen Kurven und immer dann zur Anwendung bringen, wenn er von einer Strasse in eine andere einbiegt. (...)

 

Art. 35 Beim Durchfahren von Städten, Dörfern und Weilern darf die Schnelligkeit auf keinen Fall die Geschwindigkeit eines trabenden Pferdes (18 Kilometer per Stunde) überschreiten. (...) Auf stark begangenen Strassen ist die Geschwindigkeit derart zu verringern, dass das Publikum weder durch Kotwurf noch durch Staubwirbel ernstlich belästigt wird.

Art. 36 Niemals darf die Geschwindigkeit, selbst in flachem Lande und auf offenem Felde, 40 Kilometer in der Stunde überschreiten. Bei Nacht und Nebel oder beim Kreuzen mit anderen Fuhrwerken ist diese Geschwindigkeit auf 15 Kilometer in der Stunde herabzusetzen.

Nicht nur die Lektüre der 60jährigen Fahrbewilligung ist interessant, auch die Vorgeschichte des am Rennen beteiligten Dodges lohnt sich zu verfolgen: Einer von Mutters Brüdern verbrachte in den frühen zwanziger Jahren längere Zeit in Detroit, wo er die Herstellung der Automobile von der Schraube bis zum fertigen Fahrzeug erlernte. Das kam ihm später zustatten, importierte doch mein Grossvater Wagen, die in Einzelteilen per Schiff von Amerika kamen und dann in Frachtschiffen den Rhein hinauf nach Basel gelangten. Die Teile waren alle stark eingefettet, damit sie während der langen Uberfahrt in der salzhaltigen Luft keinen Rost ansetzten. Zudem war alles mit feinen, ungebleichten Baumwolltüchern umwikkelt und in Kisten verpackt. In der Werkstatt wurden dann die Teile zum verkaufsfertigen Wagen zusammengesetzt.

Aus den Kistenbrettern entstanden Regale und Schuhkästlein, und selbst die Baumwolltücher fanden wieder Verwendung. Inzwischen hatte nämlich meine Mutter geheiratet und beschlossen, meine Mama zu werden. Die Zeit, wo sie mit Englischen Schlüsseln und Schraubenziehern hantiert hatte, war vorbei. Sie hatte sich dem Kochherd und der Nähmaschine zugewandt. Aus den ungebleichten amerikanischen Baumwolltüchern wurden zarte Windeln, deren Qualität so hervorragend war, dass sie nicht nur mir, als ich Buschi war, dienten, sondern später auch noch meinen eigenen Kindern.

Heute finden die Windeln noch Verwendung als Staublappen, womit ich wieder beim Anfangsthema «Abstauben» wäre. Noch immer verrichte ich diese Arbeit ohne Begeisterung. Mit einem Staubtuch, das eine so bewegte 60jährige Geschichte hinter sich hat, wird sie aber doch um einiges interessanter.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1985

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