Ein Fluss wird gebändigt
Gerhard Kaufmann
Als des Feldbergs liebliche Tochter bezeichnet Johann Peter Hebel in seiner gemütvollen Schilderung den Schwarzwaldfluss, der sich nach einem 82 Kilometer langen Lauf bei Kleinhüningen in den Rhein ergiesst. Der Dichter weiss aber auch anderes zu berichten: von der Launenhaftigkeit dieses manchmal als bescheidenes Rinnsal, mitunter aber als hochangeschwollene Flut daherbrausenden Gewässers. Im Gegensatz zu den im Alpengebiet entspringenden Flüssen entbehrt die Wiese im Sommer des durch Firn und Eis gebildeten Wasservorrates. Dieser Nachteil wird teilweise ausgeglichen durch das waldreiche Einzugsgebiet, das seiner Speicherfähigkeit wegen die Wiese selbst in trockenen Sommern vor dem vollständigen Versiegen bewahrt.
In alten Quellen ist verschiedentlich die Rede von der Holzflösserei auf der Wiese, aber auch von einer Fähre an der Stelle, wo einstmals die drei Bänne Basel, Weil und Riehen zusammenstiessen. Aus diesen Hinweisen wurde hin und wieder der Schluss gezogen, die Wasserführung der Wiese sei im Mittelalter eine bedeutend höhere gewesen als heute. Diese Hypothese scheint mir nicht haltbar, hat sich doch weder das Einzugsgebiet noch haben sich die klimatischen Verhältnisse in den vergangenen fünf Jahrhunderten derart verändert, dass dies einen Einfluss auf die Wasserführung der Wiese gehabt haben könnte. Charakteristisch für die Wiese sind die sogenannten Weihnachtshochwasser, ein starkes Ansteigen des Flusses im Dezember, wenn im Schwarzwald nach den ersten starken Schneefällen eine plötzliche Erwärmung in Verbindung mit intensiven Regenfällen eintritt.
Wie kaum ein anderes Element hat der Wasserlauf der Wiese unsere Landschaft geformt. Während Jahrtausenden hat das dem Tal seinen Namen gebende Gewässer in mehreren, oftmals ihre Lage verändernden Flussarmen die breite, zwischen Dinkelberg und Tüllinger gelegene Talaue durchzogen. Es sind ziemlich genau hundert Jahre her, seitdem auch im Banne Riehen damit begonnen wurde, mit Hilfe moderner Flussbautechnik die Spuren dieses ehemals frei seinen Weg suchenden Wildwassers endgültig zu tilgen.
Flusslauf und Banngrenze
Es ist erstaunlich, dass die Wiese nicht die Banngrenze zur Nachbargemeinde Weil und damit die Landesgrenze bildet. Für das Gebiet des Schlipf mag das untergegangene Leidikon oder die auf das 13. Jahrhundert zurückgehende Anlegung eines baslerisch-bischöflichen Rebberges eine ausreichende Erklärung für den etwas eigentümlichen Grenzverlauf am Fuss des Tüllingerberges liefern. Viel schwieriger zu deuten ist die Entstehungsgeschichte der heute bis zu 220 Meter nordwestlich der Flussmitte verlaufenden Grenze im Gebiet der Mühle- und der Tränkematten. Wohl hat die Wiese über Jahrhunderte hinweg ihren Lauf immer wieder verändert und damit die Grenzziehungen in Frage gestellt. Frühe Darstellungen und Vermessungswerke zeigen jedoch, dass der die Hauptwassermassen führende Flussarm bedeutend näher dem Riehener Siedlungsgebiet lag, als dies heute der Fall ist. Schon früh waren die beiden Nachbargemeinden Riehen und Weil bestrebt, eine vom launenhaften Fluss unabhängige Banngrenze zu fixieren. Die durch die häufigen Hochwasser gefährdeten Grenzmarken wurden zu diesem Zweck durch auf sicherem Grund stehende Lohensteine «versichert». Der Problematik dieser den Zufälligkeiten der Natur ausgesetzten Grenze verdankt Riehen sein frühestes, auf das 16. Jahrhundert zurückgehende Vermessungswerk. Als Vermessungsbasis, die es erlaubte, die Standorte verlorengegangener Lohensteine jederzeit zu rekonstruieren, diente eine optische Verbindungslinie, welche zwischen dem Südturm der Stettener Kirche und dem nördlichen Münsterturm gezogen wurde.
Die Tatsache, dass bis in unser Jahrhundert hinein die auf dem rechten Wieseufer, jedoch im Gemeindebann Riehen gelegenen Matten ausschliesslich im Besitze von Weiler Bauern waren, würde ebenfalls für eine Grenzziehung in der Flussmitte sprechen. Das Gebiet rechts der Wiese war ja bis zum 1861 erfolgten Bau einer festen Brücke von Rie hen aus nur mit Schwierigkeiten erreichbar. Die Wuhrpflicht, d.h. die Pflicht des Uferunterhaltes und der Ufersicherung lag denn auch - Landesgrenze hin oder her - bis 1891 bei der Gemeinde Weil. Eine Erklärung für die Ausdehnung des Riehener Gemeindebannes über die natürliche Flussgrenze hinaus mag darin zu finden sein, dass Riehen und Basel bei Grenzstreitigkeiten geschicktere - oder vielleicht auch trinkfestere - Unterhändler ins Feuer zu schicken wussten. Mit etwelcher Bitterkeit liess sich 1828 die Badische Regierung dazu wie folgt vernehmen: «Die Geschichte lehrt uns, dass die Stadt oder der Stand Basel in den Verträgen mit Baden stets unbegreiflich glücklich gewesen ist und dass bei allen Verhandlungen mit der Kantonsregierung die grösste Vorsicht nötig ist, wenn keine nachteilige übereinkunft herauskommen soll.»
In der Chronik der Stadt Weil findet sich zu dieser Aussage noch die folgende Erklärung: «Mit dem Ausdruck 'unbeschreiblich glücklich' im Schreiben der badischen Regierung sind wahrscheinlich folgende zwei Tatsachen gemeint: Es war im Laufe der Zeit der Stadt Basel gelungen, vom Riehener Zoll ab auch das rechte Ufer der Wiese in ihren Besitz zu bringen. Die Gemarkung Weil verläuft im Süden der Wiese entlang, stösstaber nirgends bis zum Fluss vor. Zum andern hatten die Basler im Vertrag von 1685 das Recht erlangt, dass in wasserlosen Zeiten alle Wuhre zwischen Schopfheim und Basel zugunsten der Klein-Basler Gewerbe zu öffnen seien. Die Weiler Mattenbesitzer konnten somit in trockenen Sommern ihre Wiesen gar nicht oder nur ungenügend wässern. »
Riehen, Basel und die Wiese
Am vorgeschobenen Rand der Niederterrasse, dem Hochwasserbereich der Wiese jedoch entzogen, hatten vermutlich im 4. Jahrhundert alemannische Siedler ihre ersten Behausungen errichtet. Offensichtlich beruhte die Wahl des Siedlungsplatzes auf der richtigen Einschätzung der topografischen Gegebenheiten: Das Platzniveau der Kirchenburg liegt 12 Meter höher als dasjenige der Wiesenaue, für die Dorfbewohner bedeutete dies Sicherheit vor allen Unberechenbarkeiten des Flusses.
Damit waren unsere Altvordern dem Zwang enthoben, ihre Kräfte in der Abwehr des launischen Schwarzwaldflusses zu verbrauchen, sie lebten mit der Wiese, vor allem aus ihrem reichen Fischbestand. Das fruchtbare Ackerland befand sich ausserhalb der Flussaue auf der ersten Geländeterrasse am Fusse des Dinkelbergs. Der von der Wiese durchströmte Teil des Gemeindebannes diente als Streuund Weideland, der Auenwald als Brennholzlieferant. Ausserdem Hessen die Hochwasser mitunter beachtliche Mengen an willkommenem Schwemmholz zurück.
Riehen und seine Bewohner haben es somit über Jahrhunderte hinweg verstanden, sich mit der Wiese und den von ihr entfesselten Naturgewalten zu arrangieren. In Riehens Geschichtsschreibung sucht man denn auch vergeblich nach Hinweisen auf hochwasserzerstörte Behausungen. ärger bereitete lediglich der bald in der Verlängerung des Bachtelenweges, bald in der Achse der heutigen Weilstrasse aufs rechte Wieseufer führende Steg, der den winterlichen Hochwassern nie allzu lange standhielt. Für Riehens bäuerliche Bevölkerung bestand somit kein Anlass, den Lauf der Wiese mit aufwendigen Mitteln zu bändigen oder diese gar in ein neues Bett zu zwingen. Erst nachdem aus der Auenlandschaft nach und nach Kulturland geworden war, erwachte auch in Riehen ein gewisses Interesse, dieses vor Wegschwemmungen und anderen Verwüstungen zu schützen. Darauf deutet die Vereinbarung vom 6. November 1828 mit der Gemeinde Weil über den gegenseitigen Uferunterhalt sowie das Treffen zwischen den Gemeinderäten von Riehen und Stetten vom 21. Mai 1851, das ebenfalls das gemeinsame Vorgehen bei der Errichtung von Wuhrbauten zum Gegenstand hatte.
Ähnliches wie für Riehen galt auch für die Stadt. Die Wiese lag zu weit von der mittelalterlichen Stadt entfernt, um diese zu gefährden. Das Interesse der Kleinbasler Gewerbetreibenden galt in erster Linie den durch das Wiesewasser gespiesenen Gewerbekanälen - erste schriftliche Quellen hierüber datieren aus dem Jahre 1349 - der Fluss als solcher interessierte nur wenig. Im umfangreichen und kostenschweren Ratschlag an den E.E. Grossen Stadtrat vom 19. Mai 1852 betreffend die Gesamtkorrektion des Wiesenflusses wird angesichts der hohen Kosten die Frage gestellt, «ob nicht lieber der Wiesenfluss seinem natürlichen Lauf überlassen werden sollte, da der Werth des durch überschwemmungen des Flusses bedrohten städtischen Eigenthums zu einer so grossen Ausgabe in keinem Verhältnis steht...».
Indessen war die aufgeworfene Frage nur noch theoretischer Natur. Die Stadt hatte angefangen, über ihre mittelalterlichen Mauern hinauszuwachsen. Es galt, das künftige Bau- und Industriegebiet «Im Klybeck» vor überschwemmungen zu schützen, der beginnende Bahnbau verlangte nach festen Brücken und damit nach gesicherten Flussufern.
Die Korrektion der Wiese im Banne Riehen
Den hohen Investitionen zum Trotz stellten sich bei den auf städtischem Gebiet durchgeführten Flusskorrektionen immer wieder Rückschläge und Misserfolge ein. Die im Zuge der periodisch auftretenden Hochwasser erfolgenden Dammbrüche im Banne Riehen gefährdeten oder zerstörten das auf städtischem Boden durchgeführte Korrektionswerk. Die Erkenntnis, dass nur mit einer durchgehenden Korrektion ab Landesgrenze - auf badischem Hoheitsgebiet hatte man sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts dieser Aufgabe ebenfalls energisch angenommen - dem Problem beizukommen sei, begann sich durchzusetzen. Dabei wurde von der Kantonsregierung die Auffassung vertreten, nicht nur der Uferunterhalt, d.h. die sogenannte Wuhrpflicht, sondern darüber hinaus auch die eigentliche Flusskorrektion sei primär eine kommunale Angelegenheit. Wie aber sollte ein armes Bauerndorf - mit Steuereinnahmen von Fr. 13 000.— pro Jahr - dazu gebracht werden, eine Flußstrecke von 2,7 Kilometer Länge aus eigener Kraft zu korrigieren?
In ihrem Vorgehen bewiesen die kantonalen Behörden einmal mehr wenig Fingerspitzengefühl. In den Akten begegnen uns auf Seiten des Kantons zum Teil die gleichen Namen wie bei der obrigkeitlich verfügten Einführung der Kanalisation. Die Dorfregierung nahm Zuflucht in die bereits in andern Zusammenhängen praktizierte Taktik des Hinhaltens und des Verzögerns. Einen dramatischen Höhepunkt in diesem Hin und Her setzte das Hochwasser der Jahreswende 1882/83.
Entsprechend der geschilderten Interessenlage eilte es den Riehener Gemeindebehörden auch diesmal nicht mit der Sicherung der durch das Hochwasser gefährdeten Uferverbauungen. Obwohl der Kantonsingenieur schon einen Monat vor Eintritt des Hochwassers den Gemeinderat aufgefordert hatte, eine schadhafte Uferstelle zu sichern, bequemte sich dieser erst nach Eintritt des Katastrophenfalls dazu, nämlich am Neujahrsmorgen 1883 einige Leute in den Wald zu schicken, um Föhren für die Ufersicherung zu schlagen. Kein Wunder, dass Kantonsingenieur Bringolf ob dieser Dickhäutigkeit die Nerven durchgingen und er die Riehener Gemeindeväter mit wenig schmeichelhaften Ausdrücken bedachte. Die Sache hatte ein Nachspiel: Auf den Bericht des Kantonsingenieurs hin beschloss der Regierungsrat die Einleitung eines Verfahrens gegen Gemeindepräsident Hans Wenk wegen - aus Nachlässigkeit oder gar aus bösem Willen - unterlassener Hilfeleistung.
Der mit der Untersuchung beauftragte Vorsteher des Departementes des Innern, Regierungsrat Bischoff, gelangte nach erfolgter Einvernahme des Gemeindepräsidenten zum Schluss, dass ein schuldhaftes Verhalten der Rie hener Gemeindebehörde nicht vorliege. Im Bericht an den Regierungsrat wurde die - im übrigen nie bestrittene Pflicht der Gemeinde Riehen zur Hilfeleistung bei Wassernot festgehalten, wurden aber auch die Entgleisungen des Kantonsingenieurs nicht verschwiegen. Der Verdacht liegt nahe, dass der Kantonsingenieur mit seinem harschen Vorgehen gegenüber der Gemeinde Riehen vom eigentlichen Problem ablenken wollte: die verheerenden Zerstörungen, die das Weihnachtshochwasser von 1882 angerichtet hatte, waren - so wurde nach und nach bekannt - darauf zurückzuführen, dass die in den Jahren 1876 bis 1882 durchgeführten Uferverbauungen für eine Wassermenge von lediglich 350 Kubikmeter pro Sekunde dimensioniert waren, während das erwähnte Hochwasser mit einer Menge von 450 Kubikmeter pro Sekunde sein zerstörerisches Werk tat. Etwas anderes war aber ebenfalls klar geworden, nämlich, dass Riehen, wie auch schon Kleinhüningen, niemals in der Lage sein würde, das weittragende Werk einer Flusskorrektion aus eigener Kraft zu bewältigen.
Aufgrund der durch dieses «Jahrhunderthochwasser» gewonnenen Erkenntnis wurde zunächst einmal das Flussbett im Banne Kleinhüningen, im Stadtbann und in den ersten 500 Metern des Riehenbannes saniert und mit durchgehenden, auf die erforderliche Höhe gebrachten Hochwasserdämmen versehen. Hiefür bewilligte der Grosse Rat in den Jahren 1884 und 1885 insgesamt Fr. 300 000.—. Erstmals gelangte eine Bundessubvention in Höhe von 33% der veranschlagten Kosten zur Auszahlung. Es zählt zu den grossen Leistungen des damals noch jungen Bundesstaates, die Kantone in ihrem Kampf gegen verheerende Wildwasser und ungebärdige, mitunter ganze Talschaften verwüstende Flusshochwasser zu unterstützen. Etwas ungewöhnlich war lediglich, dass von den eidgenössischen Räten der Beitrag an die Korrektionsarbeiten an der Wiese (Beschluss vom 26. Juni 1885) aufgrund des Bundesgesetzes betreffend die Wasserpolizei im Hochgebirge gewährt wurde. Den Kreditbeschlüssen folgten in den Jahren 1886-1889 die Bauarbeiten. Wenn auch da und dort, vor allem bei der Ausmündung in den Rhein, im Laufe der Jahrzehnte Ergänzungsarbeiten notwendig geworden sind, so darf doch festgestellt werden, dass die damals getroffenen Massnahmen sich nunmehr seit hundert Jahren bewährt haben.
Indessen nahm der Kleinkrieg zwischen der Kantonsregierung und den Gemeindebehörden wegen der im Riehenbann immer noch nicht korrigierten Flußstrecke seinen Fortgang. Ein bezeichnendes Licht auf das gestörte Verhältnis zwischen den beiden Kontrahenten wirft das Schreiben des Vorstehers des Baudepartementes an den Gemeindepräsidenten vom 13. Juli 1885:
Herrn Gemeinde-Präsident in Riehen.
In Beantwortung Ihrer Zuschrift vom 20. Juni abhin erlaube ich mir, Ihnen Folgendes zu bemerken: Die im März 1883 von uns bezogenen 18 Bund Flechtruten sind gegen andere ausgetauscht worden. Die im März 1884 von uns bezogenen 14 Bund Flechtruten sind Ihnen von uns bezahlt worden, wofür Quittung in unseren Händen. Die im Januar 1883 aus dem Gemeindewald bezogenen 16 Stück Föhren sind beim damaligen Hochwasser zum ersten Schutz der Ufer im Riehenbann verwendet worden, wozu die Gemeinde Riehen verpflichtet ist. Weil damals trotz mehrfacher Aufforderung die Gemeinde ihre Pflicht nicht getan hat und die Hilfsmittel, über welche das Baudepartement verfügen konnte, allein nicht ausreichten, ist damals an den Ufern im Riehenbann und im Stadtbann bis zum Wuhr ein Schaden entstanden, dessen Wiederherstellung den Staat über Fr. 50 000. — gekostet hat.
Wie Sie angesichts dieser Tatsachen noch den Mut haben können, uns für einige Föhren, die wir ausschliesslich im Interesse Ihrer Gemeinde verwendet haben, nachträglich noch eine Rechnung von Fr. 80.— zu stellen, ist mir unbegreiflich.
Ich kann aus diesen Gründen die zurückfolgenden beiden Rechnungen nicht anerkennen, beharre dagegen auf Bezahlung der durch Ihren Bannwart unerlaubter Weise auf unserem Lagerplatz weggenommenen 40 Bund Flechtruten.
Mit Hochachtung
Der Vorsteher des Baudepartementes
Falkner
Die im Stadtbann zum Abschluss gebrachten Korrektionsarbeiten sowie das finanzielle Unvermögen der Gemeinde Riehen mündeten schliesslich in den unter dem Aspekt der Gemeindeautonomie so verhängnisvollen Ratschlag Nr. 866 «betreffend die Verhältnisse der Gemeinden Riehen und Bettingen» vom 13. April 1891. Mit dem aus diesem Ratschlag resultierenden Grossratsbeschluss wurde Riehen nicht nur der Pflicht zur Wiesekorrektion enthoben, sondern es wurden ihr gleich noch das Schulwesen abgenommen, ausserdem ging die Pflicht zum Unterhalt der Ortsverbindungsstrassen nach Weil, Inzlingen und Grenzach und damit die Oberhoheit über diese Strassen an den Kanton über. Wie immer bei der übernahme von Gemeindeaufgaben durch den Staat versuchte sich der letztere durch bedeutende, der Gemeinde aufgezwungene Liegenschaftstransaktionen schadlos zu halten.
Nach durchgeführter Bereinigung der hoheitlichen und finanziellen Zuständigkeiten konnte endlich daran gedacht werden, die Wiesekorrektion auch im Riehenbann durchzuführen und damit für das ganze Kantonsgebiet zum Abschluss zu bringen. Der entsprechende Kostenvoranschlag lautete auf Fr. 225 000.—. Auch an diese Kosten leistete der Bund einen Beitrag in Höhe von 33%. Der entsprechende Beschluss der eidgenössischen Räte wurde in der Sommersession 1896 gefasst. Bereits ein Jahr darauf musste der Kantonsingenieur seiner vorgesetzten Behörde von enormen Kostenüberschreitungen Kenntnis geben. Die Fertigstellung der Korrektionsarbeiten im Banne Riehen zogen sich hin bis ins Jahr 1906. Im Jahre 1919 machte noch einmal ein Weihnachtshochwasser ausserordentliche Instandstellungsarbeiten notwendig.
Damit war der Wiese von Zell bis Kleinhüningen ein solides, wenn auch nicht immer sehr elegantes Korsett verpasst worden. Allein der Kanton Basel-Stadt hat auf seinem Hoheitsgebiet über 2 Millionen Franken dafür aufgewendet. Der ordentliche Uferunterhalt verursacht zur Zeit Kosten in der Höhe von Fr. 60-80 000.— pro Jahr.
Die Wiese als Prüffeld der Wasserbautechnik
Das Einzugsgebiet der Wiese misst 424 Quadratkilometer. Trotz des von der starken Bewaldung ausgehenden Regulierungseffektes sind die Extreme der Wasserführung beträchtlich: mittlere Wasserführung 11 Kubikmeter pro Sekunde, Maximalhochwasser 450 Kubikmeter pro Sekunde bei einem Gefälle von 3,5 Promille im untersten Flussab schnitt (Zum Vergleich: Rhein bei Basel max. 5600 Kubikmeter pro Sekunde, Birs bei Basel max. 340 Kubikmeter pro Sekunde).
In einem Plan der Flußstrecke aus dem Jahre 1817 ist ersichtlich, dass bereits damals versucht wurde, mit baulichen Mitteln die Gewalt der periodisch auftretenden Hochwasser zu brechen. Die Massnahme bestand in der Erstellung von sogenannten Buhnen, d.h. quer zur Flussrichtung stehenden Sporren, wie sie heute noch bei zahlreichen Alpenwildwassern, so z.B. in der Lütschine oder in der Kander, anzutreffen sind. Dieser Art der Ufersicherung war jedoch in der Wiese kein Erfolg beschieden. Der Misserfolg lag u.a. in der Tatsache begründet, dass durch die fortschreitenden Korrektionsarbeiten im mittleren, d.h. im badischen Wiesental die Wiese kaum mehr Geschiebe mit sich führte, so dass die Balance zwischen der Ausschwemmung vorhandenen Materials und der Anschwemmung neuen Geschiebes empfindlich gestört wurde. Die Sporren wurden nach und nach unterspült; und da neues Material nicht nachgeführt wurde, stürzten sie ein.
Nach zum Teil heftig geführten Diskussionen setzte sich das uns heute bekannte Doppelprofil durch mit einem für das Niederwasser und das sogenannte Drittelwasser dimensionierten Mittelgerinne und beidseitigen Vorländern, begrenzt je durch die Hochwasserdämme, das ganze dimensioniert für eine Wasserführung von maximal 450 Kubikmeter pro Sekunde. Der Sohlensicherung dienen die in regelmässigen Abständen eingebauten Quer schwellen. Kontrovers waren auch die Ansichten über die Bepflanzung der Vorländer. Für die Bepflanzung mit Weidenstökken und Akazien sprach die durch das Wurzelwerk erzielbare Verfestigung des angeschütteten Erdreiches; gegen eine Bepflanzung die Befürchtung, dass die grösser werdenden Akazien und Weidenstöcke den Lauf des Hochwassers behindern und sich in gefahrdrohender Weise Schwemmgut darin verfangen könnte. In dieser Auseinandersetzung folgte die Regierung anfänglich dem Förster, der sich für eine Bestückung der Vorländer aussprach. Schliesslich setzte sich aber die Meinung durch, die Vorländer seien lediglich durch einen Grasteppich zu schützen, wobei der Kantonsingenieur sogar vorschlug, das Baden in der Wiese zu untersagen, dies, um die Grasnarbe nicht durch das Bade- und Lagerleben zu gefährden. Die Ingenieurdoktrin der unbestockten Vorlandzone wurde allerdings nicht konsequent durchgesetzt. Im rechtsufrigen Abschnitt zwischen Landesgrenze und Weilerbrücke hat sich im Laufe der Jahrzehnte ein reichhaltiger Baumbestand entwickelt, womit diese Flußstrecke zu den landschaftlich reizvollsten zählt. Ausgerechnet dieser Abschnitt steht nun aber in Gefahr, durch den Bau der Zollfreistrasse seiner einmaligen Ufervegetation verlustig zu gehen.
Auf Betreiben des Kleinhüninger Vertreters im Grossen Rat befasste sich im Jahre 1877 eine Grossratskommission mit der Frage, ob der Wiese in den letzten anderthalb Kilometern ihres Laufes ein neues Bett zu graben sei, d.h. sie ab der damaligen Kaffee-Surrogatfabrik (heute Thomy und Franck) in gestrecktem Lauf in den Rhein zu führen, die Flußstrecke auf diese Weise um 300 Meter verkürzend. Das Vorhaben gelangte, unter anderem der hohen Kosten wegen, nicht zur Ausführung.
Im Jahre 1898 war der Flussabschnitt Weilerbrücke/ Landesgrenze Versuchsstrecke für eine neue Art der Flusskorrektion, der damaligen Fachwelt unter der Bezeichnung «System Schindler» bekannt, entwickelt von einem schweizerischen Wasserbauingenieur gleichen Namens. Im Gegensatz zum mehrstufig-trapezförmigen Doppelprofil sah das Schindlersche System ein parabelförmiges Profil vor, die Flussohle befestigt durch gepflästerte Querrippen, diese mit senkrecht eingerammten Pfählen gesichert. Nach Ingenieur Schindler empfahl sich sein System durch eine bei gleicher Flussbreite - grössere Abflussmenge und bedeutend geringere Erstellungskosten. Das Schindler'sche System hatte bereits in grossem Stil bei der Weichselkorrektion in Russisch-Polen Anwendung gefunden. Die die Wiesekorrektion mitsubventionierende Eidgenossenschaft war stark daran interessiert, mit diesem System in der Schweiz Erfahrungen zu sammeln, standen doch damals grosse Korrektionsarbeiten an der Sitter und an der Thür unmittelbar bevor. Auf Intervention des eidgenössischen Oberbauinspektors, Ingenieur von Morlot, stimmte der Regierungsrat der Ausführung der entsprechenden Versuchsstrecke im Gemeindebann Riehen zu. Von diesem Schindler'schen Abschnitt ist heute nicht mehr viel zu se hen, denn er erwies sich, obwohl unter der persönlichen Leitung des Projektverfassers erstellt, als totaler Misserfolg.
Die Auseinandersetzungen zwischen Schindler und dem seiner Person und seinem System ablehnend gegenüberstehenden Kantonsingenieur nahmen bisweilen tragische Züge an. Die in diesem Zusammenhang erhobenen Anschuldigungen und vorgebrachten Rechtfertigungen füllen Bände. Heute aufgrund der Aktenlage eine Schuldzumessung vornehmen zu wollen, ist aussichtslos. In einem seiner Briefe an die Regierung beklagt sich Schindler bitter über die Intrigen des Kantonsingenieurs, die u.a. in der Zuweisung renitenter Vorarbeiter, Lieferung von schlechtem Material und dies erst noch mit Verspätung, Verweigerung von Schutzhütten für die Unterbringung der Vermessungsinstrumente etc. bestanden. Interessant ist immerhin, dass im bereits erwähnten Flussabschnitt zwischen Weilerbrücke und Landesgrenze auf der rechten Uferseite als Relikt der Schindlerschen Korrektionsbemühungen eine eigentliche Vorlandzone fehlt und sich deswegen eine besonders eindrückliche Ufervegetation entwikkeln konnte.
Die, wie bereits erwähnt, im Jahre 1906 zum Abschluss gekommenen Korrektionsarbeiten haben seither allen Hochwassern standgehalten, was der damaligen Ingenieurkunst ein gutes Zeugnis ausstellt. Das gilt um so mehr, als für die gesamte Korrektion der Wiese - abgesehen von einigen in diesem Jahrhundert erstellten Ergänzungsbauten - keine einzige Schaufel Beton verwendet wurde. Das beweist, dass mit den natürlichen Baumaterialien Erde, Kies und Steinen, in Verbindung mit einer geeigneten Bepflanzung, sich Bauwerke schaffen lassen, die dem Zahn der Zeit mindestens so gut zu widerstehen vermögen wie der einst als unverwüstlich gepriesene Beton.
Das Landschaftsbild wandelt sich
Die ab Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführte Kanalisierung der Wiese war das Werk mehrerer Generationen. Entsprechend langsam vollzogen sich die mit den Korrektionsarbeiten einhergehenden Veränderungen des Landschaftsbildes. Opposition gegen den damit verbundenen Verlust an natürlicher Fluss- und Auenlandschaft machte sich auch deshalb nicht bemerkbar, weil es als Zeichen des Fortschrittes galt, einen unberechenbaren Fluss zu bändigen und ihm mit Hilfe der Ingenieurbaukunst einen von Menschenhand vorgezeichneten Lauf aufzuzwingen. Kritische Stimmen aus Naturschutzkreisen erhoben sich erstmals im Jahre 1907, als man auf Betreiben des Kantonsingenieurs daran ging, die in den achtziger Jahren auf den beiden Vorländern angepflanzten Weiden - weil angeblich zu gross geworden - radikal zu entfernen und statt dessen die Humusbedeckung der Vorländer und der Hochwasserdämme mit einem Rasenteppich zu schützen. Seiner Ufervegetation beraubt, präsentierte sich der Fluss mit einem Male als künstlich angelegter Kanal, bar jeden Charmes. Ein Leserbriefschreiber hat dieser Erkenntnis am 9. Januar 1911 in den Basler Nachrichten wie folgt Ausdruck gegeben: «Eine wahre Freude muss es sein für ein richtiges Technikergemüt, wenn es die hier pfeilgeraden Linien, die bei den Ufer und die beiden Dämme so vor sich sieht, aber für den Freund der Natur ist da nicht mehr viel übrig geblieben. Früher war nämlich das Vorland links und rechts der Wiese mit Weiden bepflanzt, die den Fluss hübsch einrahmten und über die Tatsache hinwegtäuschten, dass die Wiese eingedämmt sein muss. »
Der Anpflanzung von Douglasien auf den beiden Hochwasserdämmen während der Kriegsjahre 1914/18 lagen keine landschaftsgestalterischen überlegungen zugrunde. Diese Bäume wurden in stur regelmässigen Abständen angesetzt, angeblich, um bei einem allfälligen Dammbruch gefällt und als Notverbauung gebraucht werden zu können. Sie wirken heute noch fremd - Koniferen, mit Ausnahme vielleicht von einzelnen Föhren, haben in einer Auenlandschaft ohnehin nichts zu suchen - und unterstreichen durch ihre Anordnung noch zusätzlich die Künstlichkeit des Flussbettes.
In einem vom 19. April 1910 datierten Schreiben an den Vorsteher des Baudepartementes wies der Präsident der Ornithologischen Gesellschaft darauf hin, dass durch die Entfernung der Uferbepflanzung der in den Langen Erlen beheimateten Vogelwelt irreparabler Schaden zugefügt werde. Die Einmaligkeit und die Reichhaltigkeit des dortigen Singvogelbestandes suche seinesgleichen und bringe Besucher nicht nur aus der ganzen Schweiz, sondern auch aus dem Ausland nach Basel. Obwohl die Eingabe vom damaligen Präsidenten der schweizerischen Naturschutzkommission, Paul Sarasin, unterstützt wurde, stiess sie bei den Technikern des Baudepartementes auf taube Ohren. Als späte Frucht der damals von der ornithologischen Gesellschaft unternommenen Anstrengungen darf die 1928 erfolgte Anlegung der Naturschutzweiher am Breitmattenweg betrachtet werden.
Mit dem zur Schonung der Grasnarbe verfügten Badeverbot vermochte sich das Baudepartement nicht durchzusetzen. Von den ersten warmen Tagen im Frühjahr bis in den Herbst hinein lagern oder tummeln sich Sonnenhungrige auf den Vorländern beidseits des Flusslaufes. Dem eigentlichen Baden kommt dabei sekundäre Bedeutung zu; es ist wegen der unterschiedlichen Wasserqualität des Flusses auch nicht immer ratsam. Gerade für Städter stellt auch die korrigierte Wiese ein liebgewordenes Stück Natur dar, im Gebiet oberhalb und unterhalb der Schliesse ist denn auch die Wiese mit ihrem Umfeld zur eigentlichen Kleinbasier Riviera geworden.
Schluss
Erst wenn nachts der Verkehrslärm allmählich verstummt, ist in Zeiten von Hochwasser auch heute noch das Rauschen der Wiese bis ins Dorf hinein zu hören. Sonst aber wird - ausser von einigen unentwegten Spaziergängern und den ihre Runden absolvierenden Grenzwächtern - das Steigen und Fallen der Fluten von der öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen; die Wiese als Naturgewalt ist heute für die Anliegergemeinden kein Thema mehr. Man kann sich fragen, ob, befände sich der Fluss noch immer in seinem Urzustand, er die Eingriffe und Veränderungen des 19. Jahrhunderts über sich ergehen lassen müsste. Heute ist uns bewusst, dass derartige frei mäandrierende Flussläufe, wie z.B. der Hinterrhein am Ausgang des Domleschg, ein einzigartiges, heute selten gewordenes Naturdenkmal darstellen.
Für unsere Wiese gehört der geschilderte und auf alten Abbildungen liebevoll festgehaltene Naturzustand endgültig der Vergangenheit an. Die Wiesekorrektion hat in Riehen ihre Spuren hinterlassen, nicht nur nach aussen hin, sondern ebenso deutlich in der politischen Landschaft, d.h. im Verhältnis zwischen Kanton und Gemeinde. Letztere zu tilgen, sollte unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht schwerfallen.
Ich habe zu danken:
Frau Christel Sitzler, Archivsekretärin der Gemeinde Riehen für die Beschaffung des Quellenmaterials aus dem Staatsarchiv (Akten Bau X 1,1 betr. Wiese) und dessen zweckdienliche Aufbereitung. Herrn Ingenieur E. Golder, a. Strasseninspektor, Basel, auf dessen Publikation ich mich bezüglich der hydrografischen Daten und der technischen Beschreibung der verschiedenen Verbauungssysteme abstützen konnte.