Ein internationales Gartenfest in Riehen

Fritz Hoch

Es war am 4. September 1879, nachmittags zwischen 4 und 5 Uhr, als ein Extrazug der Wiesentalbahn mit 40 Personenwagen schnaufend am Riehener Bahnhof ankam von Basel her. Kaum war der Ruf erschollen: «Riehen! Alles aussteigen!», da ergoß sich aus den Coupés ein Strom von Herren und Damen, teils bekannte Basler und Baslerinnen, teils recht fremd anmutende Gäste, zusammen etwa 2000 Menschen. Wer sich unter sie mischte, konnte die verschiedensten Schweizer Mundarten, aber auch schwäbische, hochdeutsche, holländische, schwedische, englische (auch in amerikanischer Aussprache), französische, spanische, italienische, vielleicht auch ein paar griechische Brocken hören. Es waren Gäste aus aller Herren Länder, die sich in jener ersten Septemberwoche zu einer Hauptversammlung der «Evangelischen Allianz» in Basel eingefunden hatten. Dieser Bund evangelischer Christen aus den verschiedensten Kirchen und Gemeinschaften war 1846 in London gegründet worden unter dem Wort Jesu: «Daß sie alle eins seien», hatte 1855 in Paris, 1857 in Berlin, 1861 in Genf, 1867 in Amsterdam und 1873 in New York internationale Tagungen abgehalten, und nun war diesmal, nach anfänglichem Zögern, Basel, damals eine «Provinzstadt» von etwa 60 000 Einwohnern, bereit, als Festort die Konferenz zu empfangen. Um den über 2000 Gästen nach anstrengenden Tagen des Anhörens der verschiedensten Vorträge und Gottesdienste einige Stunden der Erholung und Ausspannung zu gewähren, hatte Herr Theodor Sarasin-Bischoff, in Basel als Redaktor des «Volksboten» oder auch unter dem Spitznamen «Herr Himmelan» bekannt, die ganze Schar in sein Landgut nach Riehen eingeladen. So schlenderten denn, geführt von den Baslern, alle die Fremden durch die Wendelinsgasse, vorbei an den damals noch üppigen Riehener Misthaufen, zur Rößligasse, zum Sarasinschen Gut. Ein kritischer Basler hat damals in einer Plauderei im Blatt der Radikalen, wohl etwas karikierend, die fremden Gäste Basels so geschildert: ein unsagbares Etwas sei allen wie ein Stempel aufgedrückt, trotz großer Verschiedenheiten. Da sehe man

magere englische Reverends mit dem steifleinenen handbreiten Kragen und daneben den wohlgenährten württembergischen Landpfarrer, dessen Bäuchlein ein stattliches Rund aufweise, norddeutsche Hofprediger in schwarzem Rock und weißer Halsbinde, mit goldenem Ring und blitzenden Diamanten, währschafte Frauen aus dem badischen Ländchen in ihren Trachten und daneben die weitausschreitende, spindeldürre Britin, «alle machen dieselben himmlisch verklärten Augen»! Da nach den Schätzungen der Zeitungen gegen 3000 Gäste an dem Gartenfest teilnahmen — 1500 Fremde und 1500 Basler - ist anzunehmen, daß manche auch mit Fahrzeugen oder zu Fuß nach Riehen kamen. Vielleicht galt auch von der Rößligasse, was einer vom Nadelberg in Basel berichtet: noch nie habe man da eine so große Menge von Fuhrwerken, Equipagen, Droschken beieinander gesehen wie an dieser Tagung beim Vereinshaus. Eine Basler Zeitung stellt übrigens noch ausdrücklich fest: «Daß auch das schöne Geschlecht dabei (nämlich beim Gartenfest) sehr zahlreich vertreten war, versteht sich nach modernen Begriffen von selbst».


Am eisernen Eingangstor des Parks mußte man seine Konferenzkarte als Ausweis zeigen. Offenbar sollte nicht «Krethi und Plethi» Zugang haben. Im Garten bot der Gastgeber allen seinen Gästen eine reiche und trefflich organisierte Bewirtung. Da und dort, unter den prächtigen alten Linden und Kastanienbäumen, zwischen Hainen und Teichen standen Tische, wo man sich mit Kaffee, Tee, Bier, Wein gütlich tun konnte. Was es dazu zum Essen gab, verraten uns die Berichte nicht. Sie erzählen mehr von der geistlichen Kost, die geboten wurde: «Die herrlichste Herbstwitterung begünstigte das Wandeln durch den großen und schönen Park, das Genießen der reichlich dargebotenen Erfrischungen im Freien, die Bildung hier einer Gruppe und dort einer zweiten und dritten usw., die ohne einander zu stören, geistliche Lieder sangen und den Ansprachen in mancherlei Zungen zuhörten. Der Gastgeber selber eröffnete die Reihe», so schreibt der offizielle Festbericht.


Vermutlich unter den herrlichen Platanen neben dem Herrschaftshaus führte ein französischer Redaktor aus, der früher Katholik gewesen war, der Zug vom Bahnhof zum Garten habe ihn an Wallfahrtszüge nach Lourdes erinnert. «Das Ziel unsrer Wallfahrt heute abend ist dieser herrliche Tempel, dessen Säulen jene großen Bäume, dessen Decke das dunkelblaue Gewölbe des Himmels ist und in dessen Räumen unsre Gesänge bezeugen, daß wir unsern Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten, wie sein Sohn es uns gelehrt hat.» Diese Versammlung erinnere an den Tag der ersten Pfingsten. Drei Worte seien im Schiffbruch der Sprachenverwirrung verständlich für alle: Christus, Bethlehem, Golgatha!


Während hier unter den Platanen sich die welsch redenden Basler und Gäste um französische Redner scharten, war in einem andern Teil des Gartens vor einer natürlichen Schallwand von dichten Baumgruppen eine Rednertribüne aufgestellt, von der aus deutsche Ansprachen gehalten wurden. Wie das Glockengeläute am Sonntagmorgen, so versammelte hier ein von einigen angestimmtes Lied die Lustwandelnden zu engem Kreis und zu einer großen aufmerksamen Versammlung. Bekannte Männer wie Pfr. Wenger vom Heinrichsbad, die durch ihre Schriften bekannten Pastor Funke aus Bremen, Wagner aus Lausanne, aber auch Schweden und Holländer ergriffen hier das Wort. Ein Engländer fand, die Wahl Basels als Konferenzort sei von großer Bedeutung, da sich hier auf neutralem Boden Christen aus Deutschland und Frankreich nach dem entzweienden Krieg wieder zusammenfinden könnten. Ein italienischer Evangelist fragte einen seiner Freunde: «Was wärest Du jetzt, mein Bruder, ohne die frohe Botschaft? Ein Mönch! Und ich selbst, was wäre ich? Ein Schafhirt auf den piemontesischen Bergen! Darum sei hochgepriesen das Evangelium!»


Als es dunkel wurde, entzündeten sich viele hundert Papierlaternen, bengalische Feuer beleuchteten feenhaft die Bosquets und Teiche. Irgend jemand aus der bunten Menge stimmte an: «Laßt mich gehen» und durch den ganzen Park tönte es: «Paradies, wie ist deine Frucht so süß! Unter deinen Lebensbäumen wird uns sein als ob wir träumen ...» Bis in die Nacht hinein erstreckte sich das Lustwandeln, bis der mächtige Ton eines Gongs zum Aufbruch rief. Noch erteilte von der Rednertribüne aus ein Grieche in der Ursprache des Neuen Testaments allen den apostolischen Segen. Dann eilte alles dem Bahnhof zu.


Manche Fremde, die solch ein Gartenfest noch nicht kannten, hätten hier den Eindruck von einem christlichen Volksfest empfangen, heißt es im offiziellen Festbericht, und ein Einsender im «Christlichen Volksboten aus Basel» schreibt: «Ergreifend war es hier (im Garten), wie man an verschiedenen Orten die großen Taten Gottes konnte verkündigen hören: ein kleiner Vorgeschmack der großen Allianzversammlung im Himmel; wo aber dann alle nur eine Sprache reden werden.» Und ein Freund des Volksboten aus einem anderen Schweizer Kanton stellt fest : « Manches Band der Gemeinschaft ist zwischen den gastfreundlichen Bewohnern der Stadt und den Gästen, die oft mehr und besseres brachten und zurückließen, als sie empfingen, gestiftet worden.»


Und was dachten wohl die Riehener von dieser Invasion, die ihrem Dorf mehr Gäste brachte, als es damals Einwohner zählte? Waren sie sich der Ehre bewußt, auch wenn sie nur als Zaungäste teilnehmen konnten, daß ihr kleines Dorf zu einer Zeit, da solche internationale Veranstaltungen noch selten waren, eine so große Versammlung aus aller Herren Länder beherbergen durfte? Leider gab es damals noch kein «Riechemer Blättli», das uns darüber Auskunft geben könnte! Die kleine Schar der Riehener «Freunde der Evangelischen Allianz» darf aber jedesmal, wenn sie zur Allianzgebetswoche in der ersten Woche des neuen Jahres zusammenkommt, dankbar der Tatsache gedenken, daß Riehen einmal Mittelpunkt der internationalen Evangelischen Allianz gewesen ist.


Quellen: Verhandlungen der Evangelischen Allianz bei der 7. Hauptversammlung in Basel, vom 31. August bis 7. September 1879. Herausgegeben von Chr. Joh. Riggenbach, Bahnmaiers Verlag, Basel, 1879.


«Der Christliche Volksbote aus Basel», Jahrgang 1879 und 1880.


Die Basler Tageszeitungen: «Allgemeine Schweizer Zeitung», «Basler Nachrichten» und «Der Schweizerische Volksfreund», anfangs September 1879.


Th. Brupbacher, «Was töricht ist vor der Welt», Seite 177.


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1966

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