Ein Leben im Dienste des Bruders

Fritz Hoch

Von Pfarrer i. R. Fritz Hoch

Es sind etwas mehr als hundert Jahre vergangen, seit Christian Friedrich Spittler, der «Sekretär der Christentumsgesellschaft», im Alter von 85 Jahren gestorben ist. über diesen fruchtbaren Gründer christlicher Anstalten und Vereine in der «Regio Basiliensis» sagte Pfarrer Legrand in einer ihm gewidmeten Gedächtsnisrede: «Ein Leben wie das unseres seligen Spittlers, das ist wenigstens für mich die lebendige Apologie des Christentums. Ein Leben von der Art, das so viel Gutes wirkte, so viel Segen verbreitete, und ein Sterbebett, wo ein Strahl aus der seligen Ewigkeit das friedvolle Antlitz des Heimgehenden beleuchtete und verklärte, kann nichts anderes als einen göttlichen und ewigen Grund haben.» Wie sehr das segensreiche Wirken dieses Mannes mit Riehen und Bettingen verknüpft war, möchte der folgende Beitrag zeigen.

Herkunft und Jugend

Die Familie Spittler stammte aus österreich, von wo sie ihres evangelischen Glaubens willen nach Württemberg ausgewandert war. Christian Friedrich wurde am 12. April 1782 in einem schwäbischen Pfarrhaus als fünftes und letztes Kind geboren. Als er elf Jahre alt war, starb sein Vater und ebenso sein älterer Bruder, der damals Student der Theologie war. Die Mutter übergab ihren Jüngsten einem bekannten Lateinlehrer, der ihn mit seinem Tatzenstock so schlug, daß er für sein ganzes Leben an der rechten Hand einen steifen und krummen Finger hatte. Wie viele seiner Vorfahren, sollte Christian Beamter werden. Er kam daher in eine Lehre als Kameralist und arbeitete später in der Stadtschreiberei in Schorndorf. Wie wenig er aber von seinem Beruf befriedigt war, zeigt die Tatsache, daß er mit einem Freunde nach Amerika auszuwandern plante. Da rief ihn ein Freund seines verstorbenen Bruders, der Theologe Carl Steinkopf, nach Basel zur Mitarbeit im Sekretariat der «Christentumsgesellschaft». Diese war die «Evangelische Allianz» oder die «ökumene» jener Zeit: überzeugte Christen der verschiedensten Länder und Kirchen Europas gehörten ihr an, sandten Briefe und Berichte über das kirchliche Leben ihrer Gegend an die Zentrale nach Basel, wo sie teils im Blatt der Gesellschaft gedruckt, teils in Abschriften verbreitet wurden. Hier fand der junge Spittler eine ihn innerlich packende Aufgabe, die er zuerst als Gehilfe der Theologen Steinkopf und Blumhardt und später in eigener Verantwortung führte. So sehr seine Familie ihn immer wieder bat, in die alte Heimat zurückzukehren, so blieb doch Spittler sein ganzes Leben lang dieser seiner Aufgabe treu. Seit 1801 war Basel sein Wohnsitz und seine Wahlheimat. Im Haus zum «Fälkli» an der Ecke Schlüsselberg/Stapfelberg hatte er seine Wohnung, in der viele Pensionäre und Gäste aus- und eingingen und in der er auch eine eigene Buchhandlung betrieb.

Verlobung und Heirat

In der von Johannes Kober 1887 herausgegebenen Lebensbeschreibung C. F. Spittlers (leider haben wir keine neuere, wissenschaftliche Darstellung seines Lebens) taucht der Name «Riehen» zum erstenmal im Zusammenhang mit seiner Hochzeit auf. Am 11. Februar 1812 wurde er in der Dorfkirche zu Riehen getraut. Verlobt war er seit 1809 mit Susanna Götz von Basel, in deren Elternhaus er eine Zeitlang gewohnt hatte. Er bekam aber keine Heiratserlaubnis, bevor er endgültig befreit war von den damals ganz Süddeutschland heimsuchenden Rekrutierungen Napoleons I. und bevor er Schweizer Bürger war. Nach langwierigen Bemühungen konnte er endlich von Stuttgart aus berichten: «Ich bin frei!» Ein ihm wohlgesinnter Arzt hatte ihm bescheinigt, daß er mit seinem steifen, krummen Finger kein Gewehr bedienen könne ! Durch Vermittlung treuer Freunde bekam er das Bürgerrecht von Davos und wurde dadurch auch Schweizer Bürger. Und da sich unterdessen auch seine Braut von schwerer Krankheit erholt hatte, stand der Verheiratung nichts mehr im Wege. Spittlers Adoptivtochter Sette erzählt später von diesem Hochzeitstag: «Vom Münsterplatz aus, allwo die Braut bei ihrem Onkel Miville seit Jahren wohnte, fuhr die kleine Gesellschaft in einigen Chaisen nach Riehen, in welchem Kirchlein die Copulation durch Herrn Pfarrer Falkeisen, Mitglied der (Christentums-) Gesellschaft, vollzogen wurde. Obschon die Felder schneebedeckt und die Natur in tiefem Schlafe lag, so war's doch ein schöner, lieblicher Wintertag, ein Tag des Segens und der Weihe, welcher im Sonnenschein der Liebe so viel erlittene Angst und Sorge jetzt vergessen machte; ja, er mag den beiden Neuvermählten nach all den Stürmen und der langen Wartezeit des Brautstandes vorgekommen sein wie das friedliche Einlaufen in die sichere Bucht nach unruhiger Seefahrt.»

Die Frage, warum die Trauung gerade in Riehen stattfand, ist wohl damit zu beantworten, daß Spittlers erster «Chef» in Basel, Dr. Steinkopf, eng befreundet war mit Pfarrer Huber in Riehen. Wenn er Ruhe und Stille nötig hatte, brachte er gerne einige Tage im Riehener Pfarrhaus zu. Er wird auch seinen jungen Schreiber manchmal nach Riehen mitgenommen haben, ihm das Dorf und die Herrschaftssitze der Basler gezeigt und die Umgebung mit ihm durchwandert haben. So gewann der junge Schwabe, der ja selber in ländlicher Gegend aufgewachsen war, Riehen und seine Felder und Wälder mitsamt seiner Kirche lieb.

Die Taubstummenanstalt

Die folgenden Jahre, in denen Europa durch Napoleons Kriege in steter Unruhe lebte, brachten Spittler viel Arbeit. Er gründete mit Pfarrer von Brunn und anderen zusammen eine Schule für künftige Missionare, aus der dann die Basler Missionsgesellschaft hervorgegangen ist, und mit Christian Heinrich Zeller zusammen richtete er das völlig verwahrloste Deutschritterhaus in Beuggen zu einer Heimstätte für die vielen durch Krieg und Hungersnot damals verwaisten Kinder und zu einem Seminar für «Armenlehrer» ein. Dort sammelte sich im Lauf der Jahre auch eine kleine Schar taubstummer Kinder, die besonderer Betreuung bedurften. Spittler kam zur überzeugung, daß sie eine eigene Unterkunft nötig hatten. Nach langem Suchen fand er im sogenannten «Zäslingut» in Riehen, an dessen Stelle heute das Gemeindehaus steht, eine passende Liegenschaft. Der damalige Besitzer, J. J. Bachofen-Merian, überließ sie ihm für den billigen Preis von 20000 Franken. Spittler, der sich sein Leben lang etwa im Sinn von Tersteegens Lied: «Kommt Kinder, laßt uns gehen, der Abend bricht herein» als Pilger auf dieser Erde fühlte, nannte das neuerworbene Gut «Pilgerhof». Im Oktober 1838 schreibt er an einen Freund: «Diesen Monat hatte ich die übersiedlung der Taubstummenanstalt von Beuggen nach Riehen in den Pilgerhof zu besorgen. Gegen 20 Wagen waren zu diesem Zug erforderlich. Ich hätte nie geglaubt, daß das Abbrechen und Aufrichten einer Haushaltung von 25 Personen so viel Geschäft verursachen würde, als ich es da erlebt habe. Dem Herrn aber sei Dank, daß Er mich Elenden würdigt, diesen lieblichen Platz zu seinem Dienst weihen zu dürfen.»

Die Taubstummenanstalt kam zu reicher Blüte, seit zu ihrem Inspektor Wilhelm Arnold — der Urgroßvater der derzeitigen Oberschwester des Diakonissenhauses und der Gemeindehelferin von Riehen — berufen wurde. Er lehrte die Taubstummen nicht mehr, wie es damals üblich war, eine Zeichensprache, sondern er lehrte sie, mit viel Geduld und Liebe, von den Lippen der anderen ablesen und selber sprechen. Von weit her kamen damals Besucher nach Riehen, um Arnolds Methode kennen zu lernen und seine Erfolge zu bewundern. Die Taubstummenanstalt blieb in diesem sogenannten «Zäslin'schen Gut», bis sie 1940 in den Neubau Ecke Inzlingerstraße/Haselrain umzog und auf ihrem bisherigen Areal die Gemeinde ihr schönes Haus erbaute. Noch zeugen manche der herrlichen Bäume im «Wettsteinpark» von dem einstigen Garten, in dem sich die Taubstummen ergehen durften. Spittler selber, dessen Frau viel kränklich war, brachte gerne die Sommermonate in für ihn reservierten Zimmern im «Pilgerhof» zu. (Weiteres kann nachgelesen werden im Jahrbuch «z'Rieche» 1962, S. 15—24: «Die Taubstummenanstalt Riehen» von Erwin Pachlatko.) Die Kleinkinderschule in Riehen Im Mai 1840 schreibt Spittler an einen Freund: «Im Pilgerhof ist jetzt auch eine Kleinkinderschule entstanden. Gott sei Dank dafür.» Und im Juni des gleichen Jahres teilt er in einem Rundbrief an die «verehrten Herrschaften Riehens» mit, daß unter Leitung von Frau BischoffRespinger, Frau Von der Mühll-Hoffmann und Frau Pfarrer Wenk seit kurzem in Riehen eine Kleinkinderschule bestehe. Frau BischoffRespinger habe in ihrem Landgut in einem Nebengebäude des Legrandhauses ein passendes Lokal dafür zur Verfügung gestellt. Eine Lehrerin aus Basel habe die Schule mit 16 Kindern begonnen. Es könne sein, daß sich die Kinderzahl bald bis auf 40—50 vermehre. Dann müsse eine zweite Lehrerin angestellt werden. Die Gründerinnen wären sehr dankbar, wenn auch andere «Herrschaften» Beiträge an diese «Landkleinkinderschule» spenden wollten. — Es scheinen also damals schon zwei Kleinkinderschulen in Riehen bestanden zu haben: eine an der Rößligasse für die Kinder vom Oberdorf und eine an der Schmiedgasse für die vom Unterdorf! Offenbar haben sie sich bald vereinigt. Sie bekamen zeitenweise Unterkunft im Schulhaus am Erlensträßchen oder auch an der Bahnhofstraße. Aber wenn wieder Raum für eine neue Schulklasse nötig wurde, mußte die «Häfelischule» weichen, ja sie mußte zeitenweise ganz eingestellt werden, weil kein passendes Lokal für sie vorhanden war. Da entschlossen sich die «Riehener Herrschaften», mit Hilfe der Basler «Gemeinnützigen Gesellschaft» und der Gemeinde Riehen, an der Schmiedgasse ein eigenes Haus für die Kleinkinderschule zu bauen. Es wurde 1873 eingeweiht. Es ging später in den Besitz des Staates über und dient heute noch als Kindergartenlokal. Zu einer Zeit, da es noch wenig Kleinkinderschulen gab, war also Riehen auf diesem Gebiet fortschrittlich. Spittler hat dazu durch Rat und Tat sicher auch das Seine beigetragen. Für ihn war die Kleinkinderschule ein Mittel, den Samen des Wortes Gottes frühe schon in die Kinderherzen auszustreuen. Er mag es herzlich begrüßt haben, daß seit 1859 Riehener Diakonissen die Schule führten. (Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung und Entfaltung der «Kleinkinderschule in Riehen» findet sich im Jahrbuch «z'Rieche» 1969, S. 24—33.) Die Pilgermission Mission, Ausbreitung des Evangeliums, das war ja Spittlers innerstes Anliegen. Sein Herz war entflammt für das Werk der Heidenmission. Aber ebenso sehr beschäftigte ihn auch immer wieder die Frage, was geschehen könne, um im eigenen Land und Volk die der Kirche und dem Glauben Entfremdeten wieder zu gewinnen. Dabei war ihm das persönliche Zeugnis von Mann zu Mann, von Frau zu Frau wichtig. Christliche Handwerker sollten unter ihren Gesellen und Lehrlingen, wie auch unter ihren Kunden als Zeugen Jesu Christi wirken. Zu solchem Dienst aber mußten sie ausgerüstet werden durch biblischen Unterricht. 1834 sammelte der mit Spittler befreundete Pfarrer Haag in Feuerbach bei Kandern Jünglinge aus dem Handwerkerstand um sich und gab ihnen Unterricht in Bibelkunde und Kirchengeschichte. Als ihm diese Tätigkeit von der badischen Kirchenleitung verboten wurde, gab er sein Pfarramt auf und führte seine «Pilgermissionsanstalt» im Inzlinger Wasserschloß weiter, unter Mithilfe des ebenfalls mit Spittler befreundeten eigenartigen Dr. de Valenti. Als auch da die badischen Behörden mit einem Verbot eingriffen, wurden die Jünglinge als Bibelkolporteure im Dienst der Basler Bibelgesellschaft ausgesandt. Der Gedanke der «Pilgermission» ließ aber Spittler keine Ruhe. Wenn er die Sommermonate in der Taubstummenanstalt in Riehen zubrachte, spazierte er hin und wieder nach St. Chrischona hinauf. Das alte Wallfahrtskirchlein diente damals dem Chrischonabauern als Remise! Spittler bewegte je länger je mehr der sehnliche Wunsch, daß dieses zerfallende, seinem Zweck entfremdete Kirchlein doch wieder zu gottesdienstlichen Zwecken möchte verwendet werden. So reifte in seinem Herzen der Plan, daß das Chrischonakirchlein der Sitz der geplanten Pilgermission werden solle. Er wandte sich an die Basler Regierung, der die Kirche gehörte, mit der Bitte, sie ihm zu überlassen. Nach längeren Verhandlungen kam es zu einem Vertrag des Inhalts: «1. Die Regierung sorgt fortan nur für den Unterhalt des Daches und der Mauern. Der übernehmer des Kirchleins — Spittler — hat die innere Wiederherstellung und Einrichtung ganz auf seine Kosten auszuführen. 2. Um das Eigentumsrecht des Staates zu wahren, wird eine jährliche Miete von Fr. 5.— festgesetzt.» Anfangs März 1840 begab sich Spittler mit seiner Adoptivtochter, dem Schreiner Epple und dem ersten Zögling, Josef Mohr, auf den Berg und nahm in feierlicher Weise unter Dank- und Bittgebeten Besitz von dem Kirchlein. Josef Mohr richtete sich notdürftig ein Zimmer ein und räumte zunächst gründlich auf. Aus den vielen Knochen, die sich im Boden fanden, drehte er mit einer kleinen Maschine, die Spittler schon früher erworben hatte, Knöpfe. Er führte ein Tagebuch über seine Arbeiten. Da heißt es zum Beispiel am 21. September: «Die Gaiß an die Kirchenmauer gebunden, daß sie weiden sollte; sie wagte sich zu weit über die Mauer, fiel hinab und erhenkte sich. Ich kam zu spät, sie zu retten, mußte zum Messer greifen, sie zu stechen. Das war eine große Verlegenheit.» Mit allerlei Abbruchmaterial, das in der Stadt erworben wurde, wurden im Turm einige Zimmer eingebaut, unter dem Kirchendach ein Lehrsaal und über dem Chor ein Schlafsaal eingerichtet. Die Kirche wurde geweißelt und mit Bibelsprüchen geschmückt. Zöglinge stellten sich ein und in der Person von Pfarrer Gottlieb Schlatter aus St. Gallen auch ein Lehrer, der mit Begeisterung Bibelunterricht erteilte und sonntägliche Gottesdienste im Kirchlein hielt, die von der Bevölkerung der Umgegend mehr und mehr besucht wurden. Es ging äußerst einfach und bescheiden zu im Haushalt auf dem Berge; Spittler aber fand Freunde, vor allem auch in England, die das begonnene Werk freudig und reichlich unterstützten, so daß es sich entfalten konnte. Schon bald wurde die Ausbildung so erweitert und verbessert, daß die Brüder als Prediger und Evangelisten ausgesandt werden konnten, vor allem nach Nordamerika zu den Auswanderern aus Deutschland und der Schweiz. Aber auch nach Jerusalem und bis nach Abessinien sandte Spittler seine Chrischonabrüder. Wie im Lauf der Jahre die ganze Siedlung auf dem Berge mit Brüder- und Schwesternhaus, mit Eben-Ezer-Halle und Haus zu den Bergen, mit Waldrain und Pflegeheim entstanden ist, kann hier nicht ausgeführt werden. Das mag man nachlesen in dem Buch: «Wir sind sein Werk. 125 Jahre Pilgermission St. Chrischona bei Basel.»

Spittler schrieb zur Zeit der Erneuerung des Kirchleins auf dem Berge an einen Freund: «Es wird dies wohl meine letzte Arbeit sein; ich bin entschlossen, jetzt nichts Neues mehr anzufangen, und so hätte ich also mit diesem Kirchlein und einem Kirchhof den Beschluß gemacht.» Aber auch die Augen des nunmehr 58jährigen Mannes sahen immer wieder neue Nöte, und das von der Liebe Christi getriebene Herz konnte nicht anders, als Hilfe zu schaffen.

Die Kleinkinderschule in Bettingen

So oft er von Riehen zu seinem lieben Chrischonawerk wanderte, erschrak er immer wieder über die verwahrloste, ungezogene, wilde Bettinger Jugend, die auf den Gassen umhertollte. Gespräche mit dem Gemeinderat, er solle doch etwas für diese Jugend tun, blieben erfolglos. Als nun 1849 ein kleines, unbewachtes Kind in einer Jauchegrube ertrank, entschloß sich der «Erzbettier von Basel», im Wenkenhof und in anderen Landsitzen vornehmer Basler in der Umgebung Beiträge zur Gründung einer Kleinkinderschule für Bettingen zu sammeln. Es gelang ihm, ein passendes Lokal und in einer frommen, kinderliebenden Witwe, Frau Haage, eine Lehrerin zu finden, so daß schon 1850 die Kleinkinderschule in Bettingen eröffnet werden und ihren heilsamen Einfluß auf die Kleinen ausüben konnte. Später wurde auch diese Schule von einer Riehener Diakonisse geführt, zurzeit von einer Chrischonaschwester. In jüngster Zeit durfte diese Schule in ein neues, für sie gebautes Lokal einziehen. Seit 1859 gab es übrigens auch in Bettingen eine Taubstummenanstalt, die von der in Riehen abgezweigt war. Sie beherbergte zunächst ältere Taubstumme; später — unter Julius Ammann — widmete sie sich der Erziehung der schwachsinnigen Taubstummen.

Das Diakonissenhaus in Riehen

Auch an der Not der Kranken konnte Spittler, dieser von der Barmherzigkeit Jesu ergriffene Jünger, nicht vorbeigehen. Als 1842 das Basler Bürgerspital in den Markgräflerhof umziehen durfte, gründete Spittler mit Basler Pfarrern zusammen einen «Verein für christliche Krankenpflege». In das neue, schöne Haus sollten auch besser ausgebildete und gesinnte Pflegerinnen einziehen. Der Verein sandte junge Töchter, die sich auf seinen Aufruf hin meldeten, nach Ludwigsburg zu Dr. August Hermann Werner, der dort Krankenschwestern ausbildete. Manche heirateten, ergriffen andere Berufe; die Personalnot im Bürgerspital dauerte an. Als der verwitwete Vater Spittler 1851 in eigener schwerer Krankheitsnot den Mangel an guter Pflege am eigenen Leibe erlebte, entschloß er sich, nach dem Vorbild der mit ihm befreundeten Pfarrer Theodor Fliedner in Kaiserswerth am Rhein und Franz Härter in Straßburg, auch für Basel ein Diakonissenhaus zu gründen. Ein für diesen Zweck passendes Haus fand er in dem von Dr. Felix Platter gebauten Haus an der Oberdorfstraße, in dem damals Pfarrer Johannes Hoch-Stehlin — der Urgroßvater des Schreibers dieser Zeilen — ein Knabenpensionat führte. Er war alt und gebrechlich geworden und verkaufte daher gerne sein Haus an Spittler. Dieser konnte als Präsidenten der geplanten «Anstalt» — dieses Wort hatte damals noch einen guten Klang! — den Stadtratspräsidenten Hieronymus Bischoff-Respinger gewinnen, dessen Sommerwohnung ja in nächster Nähe an der Rößligasse lag. Als künftigen Hausarzt engagierte er in einem kurzen Gespräch auf der Riehener Dorfstraße Dr. Martin Burckhardt-His vom Wenkenhof. Auch der Dorfpfarrer Christoph Stähelin und verschiedene Basler Herren, die zum Teil der Herrenhuter Brüdersozietät angehörten, waren gerne bereit, dem Komitee der zu gründenden Diakonissenanstalt anzugehören. Als künftige Oberschwester des Werkes ließ sich die erst 27 Jahre alte «Jungfer» Trinette Bindschedler, Tochter eines aus dem Kanton Zürich stammenden Fabrikdirektors in Haagen im Wiesental, gewinnen. Sie wurde zur Ausbildung in die Diakonissenhäuser von Straßburg, Kaiserswerth am Rhein und Karlsruhe gesandt. Nach ihrer Heimkehr zog sie anfangs Oktober in das für das neue Werk bestimmte Haus — Spittler nannte es «Pilgerasyl» — ein. Bald kamen die ersten Schwestern — sie stammten fast alle aus Baden und Württemberg! — und auch die ersten Patientinnen aus Grenzach, Kleinhüningen, dann auch aus Riehen und Basel. Pfarrer Hoch hielt die täglichen Hausandachten und gab den Schwestern Bibelunterricht, seine Frau führte den Haushalt, Schwester Trinette hatte die Apotheke zu besorgen und leitete zusammen mit Dr. Burckhardt die jungen Schwestern zur Krankenpflege an. An Martini wurde das Haus feierlich eingeweiht. Wie sich auch hier um das «Stammhaus» im Laufe der Jahre ein ganzer Kranz von zum Teil stattlichen Häusern angeschlossen hat, wie sich die Schwesternschaft entwickelt und hin und her in der Schweiz und auch im Ausland Aufgaben übernommen und damit den Namen Riehens bekanntgemacht hat, das ist im Jahrbuch «z'Rieche» 1963, S. 81—93 eingehend dargestellt worden und mag dort nachgelesen werden.

Das Klösterli

Im März 1853 wurde Spittler unerwartet veranlaßt, das «Klösterli» bei der Dorfkirche, das einstmals zum Kirchengut und als solches dem Kloster Wettingen gehört hatte, um den billigen Preis von 4000 Franken alter Währung zu kaufen. Er stellte es sofort dem Missionar Isenberg zur Verfügung, der dort die älteste Klasse der Chrischonabrüder in die amharische Sprache Abessiniens einführte. 1859 wohnte Missionar Dr. Krapf im Klösterli, übte von dort aus seelsorgerlichen Dienst im Diakonissenhaus aus, gab den Chrischonabrüdern Unterricht und half Spittler auch sonst in seiner Arbeit. Aber auch für sich selbst richtete der älter werdende «Vater Spittler» im Klösterli eine Sommerwohnung ein. «Dort befand er sich inmitten einer schönen Natur in stiller Zurückgezogenheit, fern von dem Geräusch der Stadt und den täglichen Anläufen, denen er in Basel ausgesetzt war, und doch in unmittelbarer Nähe der lieben Anstalten, deren Gedeihen sein Herz erfreute und mit kindlichem Dank erfüllte.» Im Klösterli fanden später alte Frauen eine heimelige Unterkunft. 1893 ging es in den Besitz der Diakonissenanstalt über, die es 1966 an Dr. N. Jaquet verkaufte. Er hat es gründlich renoviert (s. auch «Das ,Klösterli' in Riehen» von Fritz Lehmann, S. 32—41).

Die «Freiwillige Zwangsarbeitsanstalt» im Maienbühl

Wie der Magnet Eisen anzieht, so zog Spittler immer wieder Notleidende aller Art an, die bei ihm Hilfe suchten. Je und je waren Männer, die der Trunksucht verfallen waren und davon loskommen wollten, mit der Bitte um Hilfe zu ihm gekommen. Er hatte sie gelegentlich nach St. Chrischona geschickt, und manchen konnte dort geholfen werden. Spittler aber kam zur überzeugung, daß für diese Hilfesuchenden ein besonderes Haus nötig sei. Er fand es im Bauerngut Maienbühl bei Riehen, das ihm 1858 zum Kauf angeboten wurde. Dort, fern von allen Wirtshäusern, in ländlicher Einsamkeit und Stille, mit reicher Gelegenheit zur Arbeit in Feld und Wald, gründete Spittler seine «freiwillige Zwangsarbeitsanstalt». Es sollten hier «nur solche Jünglinge Aufnahme finden, welche in aufrichtiger Erkenntnis ihrer Verirrung darnach trachteten, auf den rechten Weg zu kommen und sich deswegen freiwillig einstellten, um an der Hand einer christlichen Hausordnung unter Gebet und anhaltender Arbeit sich mit Liebe und Ernst wieder auf den rechten Weg weisen zu lassen und mit Gottes Hilfe wieder ein nützliches Glied der Familie und der menschlichen Gesellschaft zu werden. Es kamen Handwerker und Künstler, Beamte, Lehrer, katholische und evangelische Geistliche, Professoren, ärzte, Apotheker, Männer aus dem Bauernstand und vom Adel zusammen und fanden liebevolle Aufnahme.» So war C. F. Spittler auch ein Pionier auf dem Gebiet der Trinkerrettung, lange bevor es Blaukreuzvereine gab, und Riehen wohl der erste Ort der Schweiz, der eine Trinkerheilstätte beherbergte. Später wurde auch diese Anstalt nach St. Chrischona verlegt in die sogenannte «Pilgerhütte», die dann 1925 zum Mutterhaus der Chrischonaschwestern umgebaut wurde. Für die Trinkerrettung waren unterdessen andere Häuser in der Schweiz eröffnet worden.

Alter und Heimgang

In all dieser überreichen Arbeit war Spittler ein alter Mann geworden. Er verdankte es wohl seiner überaus einfachen, bescheidenen Lebensweise, daß er sich lange einer guten Gesundheit erfreuen durfte. Mit den Jahren nahm aber das Gehör ab, die Füße wollten ihren Dienst nicht mehr tun. Man traf ihn, der sonst stets unermüdlich am Schreibtisch gesessen hatte, meist auf seinem alten Kanapee sitzend, mit gefalteten Händen, im Gebet derer gedenkend, die die von ihm gegründeten Werke nun weiterzuführen hatten. Der Tod so vieler seiner Freunde und Mitarbeiter, Sorgen um seine Anstalten, besonders auch das Schicksal der Missionare in Palästina und Abessinien, setzten ihm seelisch zu. Aber noch in seinem letzten Lebensjahr mietete er nochmals das Inzlinger Schlößchen für drei Jahre: es sollte Jünglinge aus Afrika aufnehmen, die hier zu Missionaren ausgebildet werden sollten, und eine Herberge sein für Missionare, die in der Heimat Erholung suchten. Noch im Sommer 1867 ließ er sich im Fahrstuhl vom Klösterli nach Inzlingen fahren und freute sich herzlich darüber, wie die Hauseltern Frei das Schlößchen eingerichtet hatten für seine kommenden Gäste.

Im Herbst 1867 aber nahmen seine Kräfte zusehends ab. Sein origineller Hausarzt, Dr. Stückelberger, sagte ihm nach einem Schwindelanfall: «Halten Sie Ihren Ranzen geschnallt» für die letzte Reise! Am frühen Morgen des zweiten Advents, am 8. Dezember 1867, durfte der müde Pilger eingehen zur Ruhe der Kinder Gottes.

Christian Friedrich Spittler war kein studierter Theologe und ordinierter Pfarrer, sondern ein «Laie», der aber seine Bibel durch und durch kannte und nach ihr lebte. Er war kein Redner, sondern ein Mann der Tat; kein Prediger, aber ein Beter und begnadeter Seelsorger; auch kein Schriftsteller, aber ein ungemein fleißiger Briefschreiber. (Seine Tochter hat nahezu 25 000 Briefe von ihm gesammelt!) «Löwenmut und Lammesart waren zeitlebens seine Zierde», sagte man von ihm. Er hatte einen geradezu «kosmopolitischen Beruf» — als Sekretär der Christentumsgesellschaft. An seinem Tisch im «Fälkli», so bezeugt seine Tochter — «speiste er zusammen mit Schweizern, Deutschen aus allen Gauen, österreichern, Franzosen, Italienern, Griechen, Armeniern, Juden, Russen, Engländern, Holländern, Schweden, Amerikanern, Afrikanern, Professoren, Missionaren, Rechtsgelehrten, ärzten, Diakonissen, Grafen, Baronen, Kaufleuten, Ratsherren, Bauern aus aller Herren Ländern, katholischen Priestern, Chrischonabrüdern, Studenten, armen Kindern, Handwerksburschen, Gaunern und verkommenen Leuten aller Art und den verschiedensten Ständen angehörend; eine solche Tischgesellschaft liebte er, und die Gastfreundschaft und Beherbergung gehörte zu seiner innersten Lebenswurzel. Schon durch diese allein gingen durch dessen patriarchalischen Besitzer von seinem Haus am Stapfelberg nach allen Himmelsrichtungen manche Segnungen aus.»

Im Riehener Dorfzentrum erinnern eherne Gedenktafeln an Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein und an den im Pfarrhaus in Riehen aufgewachsenen, berühmten Mathematiker Leonhard Euler. Es würde dem Geist C. F. Spittlers nicht entsprechen, ihn mit einer solchen Tafel zu ehren. Sein Denkmal sind die heute noch in Riehen und Bettingen bestehenden, von ihm gegründeten Werke: die Taubstummenanstalt, die Pilgermission St. Chrischona und das Diakonissenhaus. Von ihnen sagt er in seinem Testament: «Ich wünsche, daß nach meinem Ableben die Anstalten, welche der Herr durch mich ins Leben gerufen hat, ihr gesegnetes Fortbestehen haben mögen. Dies erbitte ich vom Herrn, welcher allein es geben kann und es auch geben wird, solange und soweit es seine Weisheit für gut findet.»

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1970

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