Eine Forschungsreise nach Papua-Neuguinea

Brigitta Hauser-Schäublin

«Was müssen Sie alles mitnehmen, wenn Sie für ein ganzes Jahr nach Papua-Neuguinea fahren?» - Diese Frage wurde mir oft gestellt, als ich meinen Bekannten erzählte, dass ich im Auftrag des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des Basler Völkerkundemuseums bereits zum zweiten Mal eine längere ethnologische Forschungsreise nach dem jungen Inselstaat nördlich von Australien unternehmen sollte. Und in solchen Fragen schwang auch immer der Unterton mit: Wie denn? Ein ganzes Jahr unter «Primitiven» leben ohne elektrisches Licht, ohne Waschmaschine, Kühlschrank und ohne Badezimmer? Nun, ich will nicht aufzählen, was ich auf meinen Neuguinea-Reisen - bis jetzt sind es drei gewesen und dauerten insgesamt fast zwei Jahre - alles von der Schweiz aus mitnahm, respektive in einer Kiste vorausschickte. Im Verhältnis zu dem, was wir im schweizerischen Alltag als unentbehrliche Dinge betrachteten, nahmen wir herzlich wenig mit. Verglichen mit den Maßstäben der einheimischen Bevölkerung aber besassen wir nahezu unermessliche Schätze.

Doch alles der Reihe nach: über Manila flogen mein Mann und ich nach Port Moresby, der Hauptstadt PapuaNeuguineas. Dort stiegen wir in eine kleinere Maschine um, die uns nach Wewak, einem kleinen Städtchen an der Nordküste Neuguineas (der nach Grönland grössten Insel unseres Planeten), brachte. Heiss und schwül ist es dort für einen Mitteleuropäer, der mit klammen Fingern aus dem klimatisierten Flugzeug steigt und dann in die Tropensonne blinzelt. Kokospalmen säumen den Sandstrand, an den mit immer gleichbleibender Freundlichkeit der Pazifik züngelt. Dort auch kann man etwas von der landschaftlichen Romantik der Südsee spüren, von der die Ferienprospekte schwärmen. Das Strassenbild ist geprägt von dunkelbraunen Menschen mit vorwiegend schwarzem, gekraustem Haar und oft lachenden Gesichtern. Und nur selten sieht man noch Australier in hellem Hemd und Shorts und mit weissen Kniestrümpfen. Gelegentlich trifft man auf chinesische Händler, die sich vor vielen Jahrzehnten dort niedergelassen haben und seither Verkaufsläden besitzen, in denen, auf engstem Raum zusammengedrängt, das umfassende Sortiment eines Warenhauses angeboten wird.

Dort, in Wewak, das zur deutschen Kolonialzeit Dallmannhafen geheissen hatte, nahmen wir unsere Ausrüstungskiste in Empfang und verstauten deren Inhalt in und auf unserem Geländefahrzeug. Dann ging's auf den «highway», wie die einzige, von Wewak aus landeinwärts führende Strasse stolz genannt wird. Kurz nach Wewak endete der Teerbelag, und wir fuhren auf einer mit Schlaglöchern und Bodenwellen übersäten belaglosen Erdstrasse weiter. Sie führte Hügel hinauf und hinunter, bis endlich das PrinzAlexander-Gebirge durchquert war und sich vor uns die Ebene des Sepikflusses ausbreitete. Am südlichen Rand des Gebirgszuges, der Spitzen bis zu 1 200 m Höhe aufweist, fuhren wir nach Maprik, dem kleinen Verwaltungsort des Gebietes, in welchem wir Feldforschung betreiben wollten. Dort gibt es eine winzige Post, ein aus der Kolonialzeit stammendes, nun langsam zerfallendes Hotel, ein Gefängnis und Niederlassungen verschiedener Missionen. Auch ist dort ein aus mehreren Einzeltrakten bestehendes Spital vorhanden, das 1969-1970 vom Riehener Kinder- und Tropenarzt Dr. Werner Stöcklin geleitet wurde. Seit 1979 ist der leitende Arzt ein Einheimischer.

Ziel der ethnologischen Feldforschung war es, die Wirtschaftsweise, Sozialorganisation und Religion der Abelam, einer Bevölkerungsgruppe mit rund 36 000 Menschen, zu untersuchen. Im speziellen war uns die Aufgabe gestellt, die Konstruktion der mächtigen, bis zu 25 m hohen Kulthäuser der Abelam zu studieren. Denn seit langem bestand im Basler Völkerkundemuseum die Absicht, ein solches zu bauen, um den Besuchern einmal an einem konkreten Beispiel die grossartige architektonische und künstlerische Leistung, die ein Naturvolk mit einfachstem Werkzeug und ohne Verwendung von Metall zu erbringen in der Lage ist, zu verdeutlichen. Die Vorderseite solcher Kulthäuser ist mit einer 12 bis 18 m langen, dreieckförmigen, an der Basis 6 bis 9 m breiten Malerei geschmückt. Die Bedeutung dieser mit Erdfarben und Vogelfedern gemalten Kunstwerke war unbekannt. Sie ikonographisch zu erfassen, war ebenfalls ein wichtiger Punkt in unserem Forschungsprogramm. Fürs Basler Museum sollten wir darüber hinaus eine solche Giebelfassade nach Mass anfertigen lassen und dann nach Hause transportieren.

In einem einheimischen Dorf leben

Ethnologische Feldforschung bedingt, dass man mit den Menschen, deren Lebens- und Denkweise man studieren will, zusammen lebt und sich ihrem Lebensrhythmus anpasst. Das bedeutete, dass wir uns ein Dorf aussuchen mussten, wo wir gerne wohnen wollten, und wo die Leute mit unserer Anwesenheit einverstanden waren. Während zwei Wochen besuchten wir deshalb etwa 30 Dörfer. Da wir nicht mit ewig-knipsenden Touristen verwechselt werden wollten, nahmen wir auf diesen Exkursionen nie unsere Photoapparate mit, sprachen die Leute auf Pidgin (einer Verkehrssprache Papua-Neuguineas), durchsetzt mit Ausdrücken der Abelam-Sprache, an. Sobald wir in die Nähe eines Dorfes kamen, wurden wir umringt von einer Kinderschar, die uns auf Schritt und Tritt folgte. Die Buben und Mädchen mit ihren grossen, vor Schalk blitzenden Augen führten uns durch ihr Dorf: die mutigsten stellten uns auch Fragen, woher und weshalb wir gekommen seien. Manche blickten verschämt zur Seite, wenn wir eines der Kinder direkt ansprachen, und Mädchen stürmten kreischend davon. Die Gesichter der Erwachsenen begannen meist zu strahlen, wenn sie hörten, dass wir einige Brocken ihrer Sprache redeten. Und das, was wir auf Abelam gesagt hatten, ging von Mund zu Mund. - Schliesslich wählten wir ein Dorf aus, in welchem noch elf Kulthäuser standen und dessen Einwohner uns als besonders freundlich erschienen. Wir gingen deshalb zum «Dorfchef» und fragten ihn, ob er und die übrigen Dorfbewohner damit einverstanden wären, wenn wir während eines Jahres bei ihnen lebten. Auf dem Dorfplatz, wo bei unserem Eintreffen viele Leute zusammengeströmt waren, entspann sich eine kurze, lebhafte Diskussion. Niemand hätte etwas gegen unser Begehren einzuwenden, sagte uns dann der Dorfchef. Sie würden uns gleich ein paar Hütten zeigen, und wir sollten eine davon als unser Zuhause aussuchen. Die Wahl fiel uns leicht; denn wir benötigten für unsere Ausrüstung, die uns plötzlich riesig erschien, ein relativ grosses Haus. Es stand, im Unterschied zu den meisten übrigen Hütten, die praktisch aus einem Dach auf nackter Erde bestanden, auf Pfählen und wies eine Grundfläche von etwa 3,5 x 4,5 Metern auf. Unser geländegängiges Fahrzeug mit Vierradantrieb schaffte den Feldweg, der durch Bach- und Flussläufe und über Hügel geführt hatte, bis zum Dorfeingang. - Wie aber sollte unser Gepäck ins Dorf selbst, das sich über mehrere Hügel erstreckte, gebracht werden?

Kein Problem! Frauen kamen herbei mit grossen Netzta sehen. Schwere Schachteln packten sie dort hinein, legten das Tragband um die Stime, so dass die Last auf den Rükken zu liegen kam - und schon marschierten sie los. Männer luden sich Metallkoffer und Petroleumfass auf die Schultern; Buben und Mädchen ergriffen all die vielen kleinen Dinge wie Kochtöpfe, zusammengerollte Schaumgummimatratzen und Wasserkanister. Innert kürzester Zeit war unser ganzes Gepäck auf dem Hügelzug, wo «unser» Haus stand, angelangt. Staunend standen die Leute - zuvorderst die Kinder, die Erwachsenen in einigem Abstand dabei, als wir unser grosses Moskitonetz aufhängten, mein Mann einen behelfsmässigen Tisch zu zimmern begann und wir all die Dinge, die wir als unentbehrlich betrachteten, auspackten. Zwei junge Mädchen anerboten sich, für uns Wasser zu holen. Und eine halbe Stunde später kehrten sie, jedes mit einem gefüllten Plastikeimer auf dem Kopf, von der Quelle am Fuss des Hügels zurück. Ein paar Männer begannen am Rande des Urwalds, der sich bis zum Dorf erstreckte, ein tiefes Loch auszuheben und darüber ein kleines Hüttchen zu errichten: unsere Toilette.

Vom Alltagsleben

Die ersten Tage und Wochen blieben wir, als bleiche Exoten, im Mittelpunkt des Interesses unserer dunkelhäutigen Freunde, und wohin wir uns auch begaben, begleitete uns ein Mann des Weilers, in dem wir lebten. Erst als wir mit den vielen Wegen, die die Siedlungen verbinden, die hinaus zu den Feldern und hinunter zu den Bächen und Quellen führen, vertraut waren, nahm er wieder seinen gewohnten Tagesrhythmus auf.

Bei Tagesanbruch, nachdem die Hähne, die die Nacht auf Bäumen verbringen, gekräht haben, und wenn die Vögel ihren Morgengesang anstimmen, stehen die Menschen auf. Fast jeder Mann besitzt eine Hütte für sich allein, oft in unmittelbarer Nähe des Wohn- und Schlafhauses seiner Frau und ihrer gemeinsamen Kinder.

Meist vor der Hütte der Frau zünden die Eltern ein Feuer an, an dem sie sich nach den für tropische Verhältnisse kühlen Nächten wärmen. Schon bald hört man die Rufe von Kindern, die, kaum aufgestanden, spielend um die Hütten hüpfen. Im Feuer röstet die Mutter ein paar Kochbananen oder kleine Klumpen vom stärkehaltigen Mehl der Sagopalme, die zusammen mit geraspelter Kokosnuss vorzüglich munden. Manchmal sind es aber auch Resten des Nachtessens, die der Familie als Frühstück dienen.

Mit einem Buschmesser in der Hand oder einer Axt auf der Schulter verlässt dann ein Mann nach dem andern, manchmal auch zwei oder drei gemeinsam, wenn sie eine Gemeinschaftsarbeit vorhaben, den Weiler in Richtung Felder. Unterwegs, in anderen Weilern, legen sie bei Verwandten eine kurze Rast ein, reden über die Arbeit in den Gärten, über ein Fest, das sie abzuhalten gedenken, oder über einen Streitfall, der vor kurzem die Gemüter der Dorfbewohner erhitzt hat und der noch mit Schweineopfern aus der Welt geschafft werden muss. Meistens brechen die Ein Dorf erwacht Frauen später auf. Jeder Mann und jede Frau entscheidet erst am Morgen, was genau er oder sie an diesem Tag unternehmen wird. Oft waren die Leute unwillig, wenn wir sie abends fragten, was sie am folgenden Tag zu unternehmen vorhatten. Immer antworteten sie, dass sie zuerst einmal die Nacht vorbeigehen lassen wollten; erst am Morgen würden sie sich dann entscheiden, welcher Arbeit sie nachgehen wollten. - Es gibt keine Siebenschläfer bei den Abelam und auch niemanden, der sich auf Kosten anderer vor der Arbeit drücken will. Denn jede Familie ist verantwortlich für den Zustand ihrer Hütten und die Versorgung der Angehörigen mit Nahrung.

Im Oktober roden die Männer Wald, um anfangs Dezember, bei Einsetzen heftiger Regenfälle, ihre Feldfrüchte pflanzen zu können. Einmal pro Jahr, im Juli und August, findet die Ernte statt. Dann muss der Ertrag so hoch sein, dass nicht nur die ganze Familie ein Jahr lang genügend zu essen hat, sondern dass auch eine ausreichende Zahl Setzlinge für die nächste Pflanzzeit auf die Seite gelegt werden kann. - Die Souveränität, mit der die Menschen von Tag zu Tag entscheiden, was sie gerade unternehmen wollen, ohne dabei die Sicherung der Ernährungsgrundlage aus den Augen zu verlieren, hat mich immer wieder beeindruckt.

Oft kommt es vor, dass eine Frau mit ihren kleineren Kindern und der halbwüchsigen Tochter auf ein Feld geht, und ihr Mann mit seinem Sohn auf ein anderes. Aber am frühen Nachmittag, wenn die Frau auf einer improvisierten Feuerstelle im Garten das Mittagessen gekocht hat, trifft der Familienvater dort ein, um an dem kurzen Mahl teilzunehmen. Später, nach einer Siesta, kehrt er an seine Arbeit, die er am Morgen begonnen hat, zurück.

Besonders gern denke ich an die Abende zurück: Erst bei Einbruch der Dämmerung, wenn wir uns bereits nicht mehr auf die Zuverlässigkeit unserer Augen beim Erkennen von Hindernissen oder Schlangen auf dem Weg verlassen konnten, kehren die Menschen in ihre Weiler zurück. Zuerst meist die Frauen und Mädchen, beladen mit Feuerholz und riesigen Netztaschen voller Feldfrüchte, Kokosnüsse oder Blattgemüse; später dann die Männer. Während Fledermäuse lautlos an den Hütten vorbeipfeilen, die Schweine grunzend, da sie hungrig von ihren Streifzügen durch den Wald sind, zur allabendlich stattfindenden Fütterung ins Dorf zurückkehren, beginnen die ersten Feuerchen vor den Hütten zu flackern.

Der grösste Teil dessen, was wir als Familienleben bezeichnen, findet vor der Hütte statt. Leute, die zufällig zu einem kurzen Besuch kommen, werden zum Mitessen aufgefordert, man tauscht Betelnüsse und Tabakblätter mit Nachbarn aus, ruft Freunden Scherze zu. Oft schlafen kleinere Kinder ein, während die Erwachsenen noch neben der immer schwächer werdenden Glut der Feuer und unter dem funkelnden Sternenhimmel sitzen, in die belebte Nacht hinauslauschen und ihren Gedanken nachhängen, bevor sie sich dann, jeder nach seinem Gutdünken, still in ihre Hütten zurückziehen.

Fragen und beobachten Liebenswert sind die Menschen dort, hilfsbereit, aber nicht unterwürfig, sondern stolz und selbstbewusst. Sie gingen frühmorgens auf ihre Felder, um (kartoffelähnliche) Feldfrüchte wie Yams und Taro anzupflanzen, Unkraut zu jäten oder den Gartenzaun auszubessern, ungeachtet dessen, ob die Ethnologin eigentlich vorgehabt hatte, ihnen wieder einige ihrer unzähligen Fragen zu stellen. - So verbrachten auch wir, wie die Abelam, die meisten Tage ausserhalb des Dorfes auf Feldern, die auf anderen Hügelzügen lagen, und kehrten erst bei Einbruch der Abenddämmerung zurück.

Dann gab es - zwar für fragehungrige Weisse selten genug! - Tage, an denen sich die Dorfbewohner zuhause aufhielten und sich auch Zeit für Gespräche nahmen. Wenn wir einmal im Dorf zurückblieben, so arbeiteten wir am Erstellen eines Dorfplanes («unser » Dorf war etwa 7 Kilometer lang), wobei wir jede Wohn-, Schlaf- und Vorratshütte einzeichneten und aufnahmen, wem sie gehörte und auf welchem Clanboden sie steht etc. Auch vermassen wir mehrere Kulthäuser und zeichneten ihre Konstruktion auf. Aber manches Detail blieb während Monaten unklar, da bei fertiggestellten Bauten gewisse Elemente, vor allem in der Nähe des Firstbaumes, nicht mehr sichtbar sind. Und Konstruktionsfragen, besonders wenn es sich um Einzelheiten handelt, sind schwer nur theoretisch zu diskutieren. Deshalb kletterte dann mein Mann eines Tages zusammen mit einem Abelam an der Innenseite der Kulthausfront bis unter die Giebelspitze (über 20 m hoch über dem Erdboden) hinauf, um dort an Ort und Stelle Klarheit über bestimmte Bauelemente zu erlangen. Belustigt standen Frauen und Männer um mich herum, als sie sahen, wie ängstlich ich jede Bewegung meines Mannes verfolgte...

Ethnologische Feldforschung besteht sowohl aus teilnehmender Beobachtung wie aus der fotografischen, filmischen und akustischen Aufzeichnung von Alltagshandlungen und Abläufen von Zeremonien und Festen. Aber auch Befragungen gehören dazu. Was später einmal in einer ethnologischen Publikation als eine fast lakonische Feststellung, in einem oder zwei Sätzen zusammengefasst ist, basiert sehr oft auf Angaben und Beobachtungen, die im Lauf vieler Wochen und Monate, wie ein Mosaiksteinchen zum andern, zusammengekommen sind. Sehr oft lassen sich Dinge nicht direkt erfragen, weil sie für die Betroffenen als selbstverständlich und richtig gelten. Oftmals ergeben sich sinnvolle Antworten auf Fragen nur aus Beobachtungen, die in verschiedenen Zusammenhängen gemacht wurden, oder lassen sich indirekt, aus fast beiläufig gemachten Bemerkungen, ableiten. Käme ein Abelam zu uns, um uns zu studieren, so könnten wir wahrscheinlich oft nur verblüfft, aber ohne eine befriedigende Antwort zu geben, reagieren. Würde er beispielsweise fragen, warum denn Männer sich einen Strick ( = Krawatte) um den Hals binden und sich damit einengen, oder die Frauen unsicher auf Bleistiftabsätzen durch die Strassen tänzeln, - wüssten Sie zu antworten, warum und wozu?

Leben wir besser?

Nun, es war nicht so, dass ich nur die Abelam mit Fragen bestürmt habe. Auch meine dunkelhäutigen Freunde wollten vieles über unsere Lebensweise im fernen Europa, von der sie meinten, sie sei so viel besser als ihre eigene, wissen. Vorsorglich hatte ich ein Fotobuch über die Schweiz, Postkarten mit Ansichten von Basel und Riehen mitgenommen, um ihnen zeigen zu können, wo und wie wir leben. Die Abelam besassen, so wie viele andere Naturvölker vor dem Kontakt mit den Weissen, keine Geldwährung in unserem Sinn. Sie besassen (und besitzen noch heute) zwar wunderbare, aus grossen Meeresmuscheln herausgesägte und -gebohrte Ringe, die zwar als Zahlungsmittel, aber nur für ganz bestimmte soziale Zwecke, wie Wiedergutmachungen nach Streitigkeiten, Abfindungen u.a.m. dienten. Der Gedanke aber, dass alles, Nahrungsmittel, Kleider, aber auch Boden, Häuser und menschliche Arbeitskraft mit Geld käuflich ist, war ihnen fremd. Sie kannten das Prinzip des Tausches und der gegenseitigen Hilfeleistung, die einen einzelnen verpflichtete, einem anderen Menschen etwa beim Bau eines Hauses oder beim Roden eines Stück Landes zu helfen, wenn er selber einmal dessen Unterstützung in Anspruch nehmen wollte. Viele Abelam glaubten, dass Weisse, deren Schöpfung das moderne Geld ist, immer im Besitz von genügend Geld sind. Tatsächlich sahen sie ja auch meist nur Touristen, die viel Geld für einen so weiten Flug ausgegeben hatten - um dann bloss herumzureisen, zu schauen und zu fotografieren. Dass die gleichen Leute aber während 49 Wochen im Jahr dafür hart gearbeitet hatten, davon konnten die Abelam ja nichts wissen. Wir erzählten ihnen, die alle auf dem eigenen Land und in einem eigenen Haus lebten, und in Gärten, die ihnen selbst gehörten, Feldfrüchte anbauten, dass bei uns ein Grossteil der Menschen kein eigenes Haus besitzt. Dass die meisten Leute in Wohnungen leben, die ihnen nicht gehören, dass im gleichen Wohnblock fremde Menschen leben, mit denen man nicht verwandt ist, und mit denen man in der Regel nichts weiter zu tun haben möchte. Dass es nur noch wenige Menschen gibt, die ihr eigenes Land bebauen und davon auch leben. Dass man seine Arbeitskraft verkaufen muss, um dafür lebensnotwendige Güter (und auch Luxusartikel) kaufen und die Miete der Wohnung bezahlen zu können. Dass junge Menschen nicht mehr selbst für das Wohl ihrer eigenen Eltern sorgen, sondern dass dies Institutionen tun. Und dass Geld, müsste man dafür nicht arbeiten, und hätte jedermann einfach genug davon, wertlos wäre. - Sie hörten uns wortlos zu und blickten sich nur an. Es war für sie schwer verständlich, dass man dauernd unter solchen Bedingungen leben konnte. Auch uns erschienen die westlichen Lebensverhältnisse aus der Distanz Neuguineas in fast erbarmungsloser Schärfe.

«Warum bleibt ihr denn nicht für immer bei uns?», fragten sie uns. Die Antwort fiel uns schwer: «Weil wir nicht in der Lage wären, Felder an steilen Hügeln mit einfachstem Werkzeug anzulegen und zu bebauen. Und weil wir eigentlich dorthin gehören, woher wir kommen.»

Was wir nicht sagten, uns aber eingestanden: Weil wir ein Teil jener Gesellschaft sind, in der wir gross geworden sind, und weil man Werte wie medizinische Versorgung im Krankheitsfall, Annehmlichkeiten wie ein Badezimmer, oder wie einen heissen Kaffee mit Milch, und den Anspruch auf intellektuelle Betätigung in einem Feld, mit dem wir vertraut sind (sei es das Lesen von Büchern oder das Diskutieren mit gleich- oder ähnlichgesinnten Menschen), wohl temporär, aber nicht für immer über Bord werfen kann.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1982

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