Eine Schweizer Reise vor 80 Jahren

Oskar Bertschmann-Weissenberger

Vom 15. bis 18. Juli 1898 unternahm der Musikverein Riehen eine Schweizerreise ins Welschland, organisiert vom damaligen Vereinspräsidenten Louis Löliger-Plattner, der in jungen Jahren als Küfergeselle in Rolle tätig und später in Riehen Inhaber einer Küferei und Weinhandlung war. Verfasser des interessanten und amüsanten Berichts, den wir in etwas gekürzter Form, aber mit der damaligen Orthographie wiedergeben, war Oskar Bertschmann-Weissenberger. Johannes Wenk-Madoery hat uns das Manuskript freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Mit Mißstimmung nahmen wir Mitglieder des Musik-Vereins Riehen in der Sitzung vom 12. Juli 98 die Worte unseres Vereins-Präsidenten entgegen, die uns verkündeten, daß unsere auf 15. Juli angesetzte Schweizerreise Basel, Genf, Lausanne, Neuenburg infolge ungünstiger Witterung voraussichtlich nicht stattfinden werde. Welche Freude daher, als folgenden Tags der Himmel ein freundlicheres Gesicht annahm, der lästig gewordene Regen aufhörte und uns der letzte Tag vor unserer Abreise ein so schönes Wetter brachte, dass wir mit ziemlicher Gewißheit voraussehen konnten, daß uns der Wettergott für die so regensreiche Sommerzeit äußerst günstig gestimmt war. Mit bangem Erwarten kam der 15. Juli heran . . . Endlich war die achte Abendstunde herangerückt ... Im bewährten Gasthause Zum Rössli kamen wir auch pünktlich zusammen und nicht mehr allzulange durften wir säumen, um rechtzeitig auf den 8 Uhr 35 Zug zu gelangen. Mit Hast wurden die letzten gespendeten Humpen geleert, und fort gieng es unter klingendem Spiel dem Bahnhof zu, vorbei an unserer Bewohnerschaft, die in dichten Reihen längs der Schmiedtgasse bis zum Bahnhof Spalier bildete, eine Sympathiekundgebung, die uns nicht wenig mit Stolz erfüllte. Die letzten Abschiedsgrüsse wurden noch gewechselt, als sich der Zug in Bewegung setzte, um uns Basel zuzuführen. Auf dem Centraibahnhof mußten wir noch eine schöne Zeit zubringen, bis uns schliesslich der fahrplanmäßige Nachtzug 10 Uhr 30 aus unserer Vaterstadt herausbrachte. — Ein jedes Reisemitglied hatte sich so gut als möglich verproviantiert, um während der langen Eisenbahnfahrt ja nicht etwa Hunger oder gar Durst leiden zu müßen. Die passendsten Plätze hatte sich Jedermann in dem für uns eigens reservirten Wagen bald auserlesen und suchten sich die ruhigem Bürger auf den sonst so süßen Nachtschlummer vorzubereiten. Aber oh weh! Die hatten die Rechnung ohne den Wirth gemacht, denn obschon unsere Reisevorschriften einem jeden Mitgliede möglichst ruhiges Verhalten während der Nachtfahrt vorschrieb, zeigten die wenigsten Lust dazu, diesem Gebote nachzukommen. Auch waren das unbarmherzige Hin- und Herschütteln uns. Wagens sowie das ohrenbetäubende Gerassel des Zuges auch nicht gut zum Schlafen geeignet .. . Auch an ungeduldigen Gemütern hatte es keinen Mangel, denn da hörte man fortwährend ein Mitglied jammern, daß es vergessen habe, ein Brett mitzunehmen, um mittelst solchem ein bequemeres Lager herrichten zu können; ein sehr beleibter Wirth stöhnte wieder, unterlassen zu haben, sich mit Decken zu versehen, denn sein Leib, sagte er, schmerze ihn derart, dass er kein Ripplein mehr verspüre ... — Von Bern aus nahm unser Dampfroß einen schnellern Gang an und seltener hielt der Zug an. — Es war gegen 3 Uhr, wir hatten Fribourg bereits hinter uns, als das Dunkel der Nacht zu lichten begann und die Morgendämmerung nach und nach Platz fand. Ein leichter Nebel umhüllte die Gegend, doch auch dieser musste bald weichen. Mit allgemeinem Jubel wurde der heranbrechende wunderschöne Tag begrüßt; ein Jeder von uns hatte bereits seinen Posten am Eisenbahnfenster eingenommen. — Welch' wundervoller Anblick bot sich unsern Augen, als wir bei der Ortschaft Palezieux plötzlich den Genfersee vor uns hatten. Es ist dies ein so überraschendes Bild, dessen Schönheiten sich nicht beschreiben laßen. Doch nicht nur der See allein, sondern die ganze, mit schönen Ortschaften besäte Gegend, wo links und rechts nichts als Rebberge sich unsern Blicken öffnen, bietet ein fesselndes Panorama ... Es war 4 Uhr 25 als unser Zug in Lausanne einfuhr, wo wir einen Aufenthalt von 20 Minuten zu erwarten hatten. Eine Wohltat für unsere während der langen Fahrt halb steif gewordenen Glieder . . . Wir hatten nur noch eine einstündige Eisenbahnfahrt zu überwinden, die bei uns, angesichts der denkbar schönsten Witterung in freudiger Stimmung verlief, uns bei den schönen Ortschaften Morges, Rolle, Nyon, Coppet vorbeiführte, um uns endlich an unser längst ersehntes Ziel, nach Genf zu bringen. Der dortige Bahnhof selbst enttäuschte uns einigermaßen, denn solcher steht puncto Schönheit in gar keinem Verhältniße zu der sonst so schönen Stadt; doch was kümmerte uns der Bahnhof, war es uns viel lieber bald frühstücken zu können. Es hatten sich bereits einige Bekannte eingefunden. Nach kurzen Begrüßungen gieng es in der 6ten Morgenstunde unter Trompetengeschmetter direct dem Café zur neuen Post zu. Mit gewaltigem Appetite wurde das hier reichlich aufgetragene Frühstück verzehrt, sodaß die Genfer Wirthsleute gewiß einen gebührenden Respect von der Leistungsfähigkeit unserer Magen erhalten haben werden. — Um 7 Uhr wurden wir auf freien Fuß gesetzt, d.h. wir erhielten die Erlaubniß, daß sich Jedermann nach Belieben die Stadt besichtigen könne, jedoch dafür zu sorgen habe, um 10 Uhr wieder bei uns. Wirthe zur Versammlung einzutreffen. Diese Verordnung wurde vielerseits mit großem Jubel entgegengenommen, hatten sich doch einige geäußert, die Stadt von innen und außen kennen lernen zu wollen. Es folgt nun eine längere Beschreibung Genfs und seiner Sehenswürdigkeiten aus der Sicht des Berichterstatters.

So ziemlich pünktlich kamen wir Alle zusammen und unser Wirth war so zuvorkommend, uns zum Abschiede einen kräftigen Malaga zu servieren. — Leider nur zu rasch gieng es 11 Uhr zu, der Stunde unseres Scheidens von Genf . . . Unter dem Klang uns. Instrumente, betrachtet von der neugierigen Bevölkerung, marschierten wir dem See zu und nicht mehr lange dauerte es, so schaukelten wir bereits in einem stattlichen Dampfer, der Helvetia, auf den Wogen des Genfer See's. Es folgt eine Beschreibung der Eindrücke während der Schifffahrt bis Rolle.

Im Städtchen Rolle gelandet, waren bereits einige Freunde uns. Präsidenten zu uns. Empfange eingetroffen. Es waren dies, der Roller Musikpräsident Mr. Baron . . . und der dortige Löwen Wirth, bei welch' letzterm uns. Mittagessen eingenommen werden sollte. Eine ziemliche Strecke mußten wir gehen und manchen Schweißtropfen preßte uns die heiße Juli Sonne hervor, bis wir an Ort und Stelle waren. Es folgt Beschreibung des Mittagessens. Der Roller Musikpräsident war so zuvorkommend, uns zu einem Trünke Waadtländer einzuladen und es bedurfte unsererseits keine Abstimmung, darüber einig zu werden, ob wir das freundliche Anerbieten annehmen sollten oder nicht. So führte uns der Gönner Baron direct einem großen Keller zu, wo wir uns von drei holden Waadtländerinnen bewirthen ließen. Eine jede frische Flasche dieses edlen Getränkes brachte neue Lebenskraft in unsere Adern und nahmen wir schliesslich die Stellung ein, als wäre der Keller mit sammt den Weinen unser rechtsmäßiges Eigenthum. Es war daher gut, daß der schwarze Kaffee noch auf uns wartete, welcher die schon vielerseits aufgeregten Gemüter wieder beruhigen sollte. Dies wäre alles gut und schön gewesen, wenn nur die verflixte Zeit nicht so schnell herumgegangen wäre. Bereits war 4 Uhr vorbei und unser Reiseprogramm enthielt noch die Besichtigung des dortigen Rebberges und der großen Kellereien, währenddem das Schiff, das uns von Rolle weiterbefördern sollte, 4 Uhr 55 abgieng. Beigefügt sei noch, daß wir unserm in ehrendem Andenken stehenden Herrn Pfarrer Linder1 in Lausanne ein Ständchen zu bringen beabsichtigten und daher spätestens mit dem 4 Uhr 55 Schiff abreisen mußten. Unser Projekt in jeder Hinsicht auszuführen war daher unmöglich. Alsbald entspann sich unter uns eine . . . lebhafte Diskussion. Reden auf Reden wurden abgewickelt, unser Präsident schilderte in bewegter Weise den fesselnden Anblick des größten Kellers der Schweiz und riet zum Besuche desselben und nachheriger Eisenbahnfahrt nach Lausanne, damit wir noch rechtzeitig bei unserm Herrn Pfarrer eintreffen könnten. Natürlich hatte er bald seine treuen Anhänger gefunden, die mit Leib und Gut für seine Idee einstanden. Jedoch eine andere Gefahr drohte und nicht ungerecht zweifelte unser Dirigent bei weiterem Weingenuße für das Erhalten einer richtigen Musik. Es kam daher nochmals zu einer Abstimmung die damit endigte, daß wir die Kellereien bei Seite lassen und die Seefahrt benützen sollten. Aber oh weh, das Verlassen auf Schiffsverspätung, wie wir es an das Zuspätkommen der Wiesenthalbahn Züge gewohnt sind, ließ uns im Stich, denn kaum mochten wir 2/3 Weges zum See zurückgelegt haben, als das gute Schiff schon weit fort war. Was war nun zu machen? Das Räthsel war bald gelöst, die Sehnsucht nach den Grandes Caves war zu groß und so beschlossen wir, denselben einen Besuch abzustatten, das projektive Ständchen jedoch aufzugeben.

Nach einem 10 Minuten langen Marsche hatten wir die ziemlich hoch über Rolle gelegenen Stadt Kellereien erreicht. Es ist erstaunlich, in welcher Menge und Größe Fäßer dort gelagert sind. So sind z.B. über 200 Exemplare vorhanden, deren kleinstes 100 Hectoliter zu bergen vermag; man kann sich auch einen Begriff machen, wie das größte Faß aussehen mag, wenn ich sage, daß wir sämtliche Musikanten uns in dessen Räumlichkeiten aufhielten und einige Musikstücke spielten. Dieses Faß ist seit einiger Zeit nämlich leer und ein Flaschenweinkeller hat darin seine Einrichtung gefunden. Es wurde auch mancher dieser Flaschen anläßlich uns. Besuches zu Ader gelaßen und kostete es für viele von uns eine große überwindung, sich von dem schöne Orte, wo köstlicher Wein in Menge gratis floß, loszutrennen. Mit knapper Noth erreichten wir das 6.40 Schiff, um uns von solchem weiter see aufwärts befördern zu lassen. Fast untröstlich über das schnelle Scheiden von Rolle war unser Flügelhornist, denn er hatte aus lauter Eile vergessen die Adreße seiner Angebetenen zu verlangen. — In fideler, über Erwarten nicht etwa schläfriger Stimmung befand sich uns. Gesellschaft während der Seefahrt. Bei jeder Haltestation wurde eins gespielt. Schöner denn je kam uns die prachtvolle von der Abendsonne vergoldete Gegend vor. Es war gegen Vi9 Uhr als wir Vevey, den Ort unseres Nachtquartiers erreichten. Direct marschierten wir über den am See Quai gelegenen großen Marktplatz dem Hotel 3 Königen zu. Es ist dies ein besteingerichtetes, geräumiges Etablissement. — So wenig sich der Schlaf trotz der vorausgegangenen schlaflosen Nacht während der Reise bei uns fühlbar machte, um so größer war jetzt das Verlangen nach dem Nachtquartier. Kaum hatte unser Präsident die Zimmer vertheilt, als sich die meisten anschickten, dem gebührenden Schlafe nachzukommen. Doch auch dieser sollte Einigen nicht ohne Hindernisse zu Theil werden. In ungeahnter Weise wollte der Actuar sich seines Bettes bemächtigen, als er nicht wenig erschrack in seiner Lagerstätte einen Gegenstand zu erblicken. In der Meinung es könnte sich etwa ein lebendes Wesen in seinem Zimmer eingeschlichen haben, war er um so enttäuschter, als ein großer, vierbeiniger Polsterstuhl zum Vorschein kam. Doch auch der Mißethäter hat te das Schicksal erreicht. Seine Schadenfreude hatte sich in Schmerz umgewandelt, denn es muß kein angenehmes Gefühl sein, die Borsten eines Bodenteppichs in Form einer Bettunterlage verspüren zu müssen. Daß das Hotel 3 Königen in Vivis keinen Aufzug hat, davon konnte sich unser fast zweizentriger B-Bassist überzeugen, der zugegen war, wie der Hotelier sowie seine zwei Portiers einen durch die mitgemachten Strapazen derart abgeschwächten Bürger, daß demselben die Beine den Dienst versagten, zwei Treppen hinauf transportieren mußten. — So könnte man noch viele an den Pranger stellen, doch nun genug für dieses Mal.

Der vielversprechende, schöne Sonntag des 17. Juli war herangerückt. Nach eingenommenem Frühstück wurde der Stadt Vevey ein kleiner Besuch abgestattet, der sich auch wirklich der Mühe lohnte. — Mit dem 8 Uhr Schiff begaben wir uns nach dem weltberühmten Montreux. Alles bisher gesehene wurde durch den fesselnden Anblick dieser Gegend übertroffen . . . Nachdem wir uns im Hotel z. Torhalle unserer Instrumente entledigt hatten, zögerten wir nicht, unsere verfügbare Zeit nach Möglichkeit ausnützend, nun sofort nach dem Schlosse Chillon aufzubrechen. Theils per Straßenbahn oder zu Fuß waren wir in ca 20—25 Minuten bei dem historischen, bis in die Neuzeit gut erhaltenen Schlosse angelangt. Es folgt nun eine Beschreibung des Schlosses.

Mittags wieder in Montreux angekommen, war bereits für unsere leiblichen Bedürfnisse gesorgt. Ein prächtig dekorirter, ringsum mit Spiegelwänden versehener Salon diente uns als Speisezimmer. Nach dem Essen wurde der Beschluß gefaßt, daß sich uns. Gesellschaft zur Erinnerung an den schönen Ort, photographiren lasse. Die diesbez. Schritte wurden gethan und nicht lange gieng es, so erklärte sich der dortige Photograph Jenny bereit, unsere Gesellschaft verewigen zu wollen. Ein Jeder wollte der Schönste sein und so gieng es an ein Frisiren, Bartstreichen, Schnurrbartdrehen, sodaß es den Anschein hatte, als wäre unser Speisesalon in eine Coiffeurstube umgewandelt worden.

Schade daher, dass unsere Photographie in's Wasser fiel und wir uns nachträglich noch darüber ärgern mußten, so geduldig zwei Stunden bei dem Photographieren unnütz verbracht zu haben. — Wiederum konnte ein Jeder seinem eigenen Gutdünken nach die freie Zeit verwenden. Einige huldigten dem Spiel, wieder andere dem Tramfahren, dritte Parthien begaben sich auf den Berg Glion und weitere Gruppen befuhren den Genfer See mittelst Gondeli. Zu einer dieser Gruppen gesellte sich auch Schreiber dies . . . Wieder in Vivis, wo wir die zweite Nacht zubringen sollten, angelangt, sollte uns etwas Unerwartetes überraschen. Nämlich die stattliche, aus 40 Mann bestehende Musikkapelle La Lyre hatte sich zu unserem Empfange eingefunden. Sogar deren Vereinsfahne fehlte nicht. Natürlich durften wir uns diesen Act zur hohen Ehre anrechnen und folgten der Einladung der welschen Collegen mit Freuden. In deren geräumigen Vereinslokalitäten wurden wir auf's zuvorkommendste bewirthet und sogar mit deren Vereins-Photographie beschenkt. Recht fidel gieng es während diesem Vorgange zu. Das Zünglein war uns gelöst und viele unter uns hatten sich so in das Französische hineingelebt, daß sie auf deutsche Fragen gar keine Antwort ertheilten . . .

In welcher Weise die väterlichen und mütterlichen Mahnungen, dem Bacchus nicht allzu sehr zu huldigen, beherzigt wurden, läßt sich leicht denken. Namentlich zeigte sich in dieser Beziehung eine Gruppe sehr standhaft, die des Morgens um die erste Stunde einem Keller entstieg, wohin sie einer Einladung folge geleistet und von dem 1893er Yvorne derart gekostet hatte, daß sie nur mit Mühe die Lagerstätte wieder aufgefunden hatte. — Montag der 18. Juli 98, der letzte Tag uns. Vergnügungsreise war herangekommen. Es mußte, wenn auch ungern, geschieden sein. Mit dem 7 Uhr 18 Zug verließen wir Vivis. In Lausanne angelangt, wo wir eine '/istündige Rast hatten, wurden wir im dortigen Bahnhofe von Herrn Pfarrer Linder auf's freundlichste begrüsst und sogar bewirthet. Lausanne 7.55 verlaßend, führte uns der Schnellzug über Renans, Cossonay, Chavornay, Yverdon, Grandson, St Aubin, Boudry, Auvernier nach Neuchâtel. Was das Landschaftsbild dieser Gegend anbetrifft, so steht solches trotz seiner Schönheit in keinem Vergleich zu den prächtigen Gegenden des Waadtlandes.

Neuenburg hatten wir 10 Uhr 10 erreicht. Beim Verlaßen des Bahnhofs und eben im Begriffe stehend, dieser Stadt während ihres eidgenössischen Schützenfestes einen Besuch abzustatten, waren wir nicht wenig überrascht, als einige weißbehandschuhte Mitglieder des Festcomités auf uns zustürzten. In der Meinung, mit irgend einer Festmusik in Verwechslung gerathen zu sein, wurden wir vom richtigen Sachverhalt bald aufgeklärt. Da es sich um den Dienst handelte, eine nicht erschienene Musik zu ersetzen und somit dem Neuenburger Empfangs Comité aus einer großen Verlegenheit zu helfen, willigten wir gerne ein, die zum Besuche des Eidg. Schützenfestes eingetroffenen St. Galler Schützen zum Schützenplatze zu begleiten. — Was man auf einer Reise nicht alles erleben kann; zwei Tage zuvor Musikkapelle in einem Faße und jetzt engagirte Festmusik. — So zogen wir denn an der Spitze eines stattlichen Schützencorps durch die Strassen des im schönsten Festkleide prangenden Neuenbürgs. Ziemlich ungewohnt kam uns der ca istündige Marsch vor, der schließlich noch mit dem Erklimmen einer steilen Anhöhe endigte, bis wir den Ort des geschmackvoll angelegten Schützenplatzes erreicht hatten. Doch für all die überwundenen Mühseligkeiten wurden wir entschädigt; erstens kam uns ein reichlicher Trunk aus den silbernen Ehrenbechern zu Theil und zweitens hatten wir Musikanten freien Eintritt zu den Schießständen. — Nachdem wir unser Mittagessen im Gasthaus zur Heimath eingenommen, lief ein Jeder wieder seinem Vergnügen nach, d.h. Jedermann wußte, daß er um 4 Uhr wieder zur Versammlung resp. Abfahrt einzutreffen habe. Wie es schien hatte der Neuenburger auch bei uns seine Wirkung nicht verfehlt, waren doch die guten Alten wieder jung geworden. Lorgnetten, Kokarden, Chinesenschirme und sogar Affen zierten unsere Reisegesellschaft und recht amüsant war es anzusehen, wie sich dieses bunte Durcheinander dem Bahnhofe zuwälzte, um mit dem 4 Uhr 15 Zug das Festleben zu verlassen. Auf unserer Heimreise hatten wir es ebenfalls gut getroffen, indem wir mit den Billets III. Classe die 2te Wagenklasse benützen durften. So war es dann auch gemütlich, von den weichen Kissen aus die interessante Jura Gegend zu betrachten . . . Viele kleinere und grössere Tunnels weist die Jura Strecke auf, und schnell vergieng uns die abwechslungsreiche 4stündige Eisenbahnfahrt über Delsberg, Laufen, Grellingen bis wir das vor 3 Tagen verlassene alte Basel wieder erreicht hatten. In der Oetlingerschen Wirthschaft wurde nun noch der Versuch angestellt zwischen den genossenen Waadtländer und Neuenburger Weinen und dem einheimischen Rebensafte (zu vergleichen), denn heimzugehen auf des Schusters Rappen brauchten wir nicht, hatten sich ja bereits einige Fuhrwerke zu uns. Abholen eingefunden. Es musste 10 Uhr sein, als wir in uns. heimatlichen Gestaden Riehens Einkehr hielten, und die Grüße der zu unserem Empfange zahlreich erschienenen Bewohnerschaft entgegen nehmen konnten. Auf echt französische Weise beendigten wir die letzten Augenblicke unserer unvergeßlichen Waadtländer Reise, und trotzdem der eine oder andere eine von zu vielem «Reden» schwer gewordene Zunge hatte, bemühte er sich dennoch, seinem gelernten Französisch einen richtigen Accent beizufügen. — Nicht vergessen wollen wir, zum Schlüsse unserem Vereins-Präsidenten sowie Dirigenten, ersterem für die flotte Arrangierung der Reise, letzterm für das Erhalten einer guten Musik, wodurch wir uns das Ansehen bei tüchtigen, welschen Nebenvereinen erworben, unsern innigsten Dank abzustatten.

1 Pfr. Dr. h. c. Johann Gottlieb Linder (1842—1912), Pfarrer in Riehen von 1876— 1887, anschliessend Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde von Lausanne; Verfasser der «Geschichte der Kirchgemeinde Riehen-Bettingen» (1884).

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1978

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