Einmal Orchestermusik und zurück

Michèle Faller

1861 von einer Handvoll Blasmusiker als Tanzkapelle gegründet und schon bald zu einem Ensemble mit öffentlicher Aufgabe geworden, feiert der Musikverein Riehen heute stolz sein 150-Jahr-Jubiläum.

«Wenn man ihn braucht, ist er da.» Das so schlichte wie ehrenvolle Lob äusserte Gemeindepräsident Willi Fischer anlässlich des Jubiläumsapéros des Musikvereins Riehen. Dessen Ansehen musste aber erst wachsen – und dem natürlichen Wachstum musste ein wenig nachgeholfen werden, was das zähe Ringen um die ab 1906 erfolgte Gemeindesubvention zeigt. Angefangen hatte das Ganze nämlich klein, inoffiziell, ohne Fahne und Statuten, ohne steife Hüte und ohne Vereinskasse. Man trat als kleine Tanzkapelle auf, und das erwirtschaftete Geld wurde oft noch am selben Abend aufgeteilt.

Zu den fünf Blechbläsern und zwei Klarinettisten, die 1861 zum ersten Mal auftraten, stiess nach neun Jahren der erste Dirigent. Herr Müri räumte sogleich mit den Klarinetten auf und übte mit der nun reinen Blechmusik nebst Tanzstücken auch Konzertmusik ein. Aus der Reihe der nachfolgenden Dirigenten sticht Johannes Schultheiss heraus. Von den 1890ern bis in die 1930er gab der ‹Musighans› vier Mal seinen Austritt, nur um anschlies-send wieder beim Musikverein Riehen anzuheuern. Die Protokollbücher, laut denen der Dirigent sich immer wieder loszusagen versuchte und der Verein nach «Zureden» und «eindringlichem Bitten» seinen Erfolg jeweils mit «Hochrufen» kommentierte, lesen sich wie eine leidenschaftliche Liebesgeschichte.1

Die ersten Uniformen des Musikvereins wurden am 1. Januar 1893 geliefert. Es folgten Statuten und 1921 waren mit der Fahne die Musikvereinsattribute militärischer Tradition endlich komplett. Wollte man nun, wo schwarz auf weiss verlangt wurde, es sei «in allem auf Disziplin zu halten», dem letzten Rest Tanzkapellen-Nonchalance den Garaus machen?

Werner Masero, der zwar nicht seit den 1920ern, aber immerhin seit 53 Jahren im Musikverein die Trompete bläst, widerspricht dem. Es sei immer lustig gewesen. Er bestätigt aber eine grössere Förmlichkeit: «Früher sagte man allen zuerst ‹Sie›. Erst wenn man 20 war, stiessen auf dem Herrenbummel im Herbst die älteren Kollegen mit einem an und sagten: ‹Ich bin der Hans – oder der Fritz.›» Noch höher in der Hierarchie seien die Herren des Vorstands und erst recht der Dirigent gestanden, den fast niemand duzte. Heute sei das selbstverständlich. «Ich bin Ben», habe Bence Tóth gleich gesagt, als er 2004 die musikalische Leitung übernahm.

Ebenfalls gewandelt hat sich das Repertoire. «Früher spielten wir schwierigere Sachen wie die Ouvertüre 1812 von Tschaikowski oder Dichter und Bauer von Franz von Suppé», erinnert sich Werner Masero. Heute ist der Musikverein mit Queen-Medley und Gloria- Gaynor-Sound eigentlich wieder bei der Tanzmusik angelangt. «Die Unterhaltungsmusik ist nicht nur einfacher zum Spielen, sondern offenbar auch zum Zuhören», schmunzelt der Dienstälteste des Musikvereins mit leise anklingendem Bedauern. Auch habe man auf den Ausflügen nicht mehr immer die Instrumente dabei. «Und früher reisten wir sogar noch in Uniform!»

Heute nicht mehr wegzudenken, aber verhältnismässig neu sind die Frauen im Verein. Das erste Mädchen spielte zwar bereits in den 1970er-Jahren mit, doch statutarisch sind die Frauen erst seit 1982 dabei. Schon bald waren sie auch im Vorstand aktiv, und seit 2002 amtet die erste Präsidentin Brigitta Koller.

Geblieben sind in der 150-jährigen Geschichte des Musikvereins Riehen natürlich die zahlreichen Auftritte. Angefangen beim 1880 in Riehen veranstalteten Musikfest über die Durchführung der Kantonalen Musiktage im Jubiläumsjahr 1961 bis zum aktuellen ‹Riechemer Summernachtsfescht›. Ein ebenso bleibender Wert sind aber auch die Schreckgespenster Mitgliederschwund und Überalterung: «Weil der Verein zum grössten Teil aus älteren Mitgliedern besteht und jüngere Leute keine Lust zeigen, dem Verein beizutreten», diskutierte man bereits vor 125 Jahren die Auflösung. Doch der Antrag wurde abgelehnt und das Protokoll von 1886 schliesst mit den versöhnlichen Worten: «Samuel Löliger übergibt die Kasse mit einem Saldo von Fr. 3.95, welche nach Schlusse der Sitzung zu einem Trunke vertilgt wurden.» Wenn das keine guten Vorzeichen für die Zukunft sind!

Remo Schweigler schielt kurz auf seinen Spickzettel: «Am 15. August 2000 – mit zehn Jahren – hatte ich meine erste Klarinettenstunde.» Das hatte der Grossvater des heute 21-Jährigen initiiert, der fand, seine Enkel sollten ein Instrument lernen. Heute ist Remo Schweigler das jüngste Mitglied des Musikvereins Riehen – doch der Reihe nach: Der Zehnjährige besuchte in Riehen die Musikschule, spielte am Dorffest 2005 zum ersten Mal mit der Jugendmusik und war nach etwa einem halben Jahr bereits bei den ‹Grossen›. «Ich wollte grössere Stücke und auch öfter spielen. Und das Vereinsleben interessierte mich.»

Und es gefällt ihm. Das merkt man auch an seinem Engagement unter anderem im Organisationskomitee ‹150 Joor Musikverein Riehen›. Am Jubiläum fasziniere ihn vor allem der Einblick in die Vergangenheit des Vereins. «Und vielleicht kann ich das Gelernte ja für das 175- oder das 200-Jahr-Jubiläum gebrauchen», sagt der junge Mann schmunzelnd. Ausserdem vertritt er gemeinsam mit einem Kollegen den Musikverein im Musikverband beider Basel, wo der Ruf nach einem jungen Delegierten laut geworden war. Er betreut das Notenarchiv der Jugendmusik und schleichend sei er zum Stellvertreter des Musikverein-Notenarchivars geworden. Sonst noch ein Amt im Verein? «Ich bin ein bisschen der ‹Bringmer-Holmer-Längmer›», sagt Remo Schweigler lachend, und zwar so selbstbewusst, dass etwaiges Mitleid, Sorge oder Empörung bereits im Keim erstickt werden.

Remo Schweigler wollte seine Klarinette noch nie gegen ein anderes Instrument eintauschen – ausser vielleicht am Jubiläumskonzert im Mai, als er in der historischen Tanzkapelle aus den Anfängen des Musikvereins die Pauke schlug. «Man kann die Klarinette in allen Stilrichtungen einsetzen; in Volksmusik, Klassik, Jazz, Rock. Wenn ich wollte, könnte ich morgen in eine Dixieband wechseln.» Das sei kein konkreter Plan, könnte ihm aber gefallen. Und in der Rekrutenschule lernte er sogar ein wenig, den Taktstock zu schwingen. Dank des Musikvereins habe er sich überhaupt getraut, die Aufnahmeprüfung für das Rekrutenspiel der Schweizer Militärmusik zu machen. Und war entsprechend glücklich, als es klappte. «So konnte ich die RS sinnvoll verbringen und viel profitieren», sagt er diplomatisch.

Ist der junge Mann in der heutigen Zeit, wo alle Vereine über Nachwuchsmangel klagen, nicht ein wenig ein Exot? Remo Schweigler verweist zuerst auf die anderen jungen Vereinsmitglieder, räumt aber ein, dass ein paar mehr nicht schaden könnten. Dann grinst er kurz und meint: «Nachdem ich 21 Wochen lang nur mit 20-Jährigen Musik gemacht hatte, bekam ich im Musikverein, wo die meisten zwischen 40 und 80 sind, schon einen kleinen Generationenschock!» Doch der war nur von kurzer Dauer, denn Berührungsängste mit älteren Generationen findet Remo Schweigler, dem das Gesellige genauso wichtig wie das Musikalische ist, völlig unbegründet. «Ich freue mich jeden Montag, auch wenn es nur eine hundsgewöhnliche Probe ist!»

Die Zinnbecher auf dem Buffet glänzen. Es sind vornehmlich Fleissbecher, bei denen die eingravierte Zahl Auskunft über die Jahre gibt, in denen ihr Besitzer nie gefehlt hat. Dieser heisst Hans Spinas und ist mit 85 Jahren das älteste Mitglied des Musikvereins Riehen. Und hätte man dort die Fleissbecher in jüngerer Zeit nicht durch Blumengutscheine und Weinflaschen ersetzt, müsste wohl noch ein zweites Buffet her.

Seit 38 Jahren spielt Hans Spinas im Musikverein Riehen die Klarinette. Letztes Jahr erhielt er die goldene Verdienstmedaille der ‹Confédération Internationale des Sociétés Musicales› für 60 Jahre aktive Blasmusik. Zur Musik gekommen war er aber noch früher: Er ging mit seinem Vater einen trinken und in der Beiz spielte eine Ländlermusik. «Wie der die Klarinette spielte, das hat mich begeistert», erinnert sich Hans Spinas. Und um auch so spielen zu lernen, trat der 18-Jährige 1944 in den Musikverein ‹Concordia Allschwil› ein.

Nach vier Jahren zog er – frisch verheiratet – von Allschwil in die Stadt, wo er sich zunächst keinem Musikverein anschloss, aber schon bald mit einem Handörgeler zusammen eine Tanzkapelle gründete. Die ‹Kapelle Cordina›, das waren Handorgeln, Klavier, Schlagzeug – und Hans Spinas am Saxofon. Was spielte so eine Tanzkapelle Anfang der 1950er-Jahre? Der Blick des älteren Herrn wandert kurz nach oben, dann fängt er lächelnd an zu singen: «Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versiiinkt …» Die blauen Augen blitzen vor Vergnügen. «Oder das: Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein … laden dich ein …»

Wenn man den 85-Jährigen mit dem schelmischen Blick so singen hört, wird nicht nur klar, dass sein Gedächtnis noch bestens funktioniert – auch den jugendlichen Geist hat er sich bewahrt, ganz zu schweigen vom Elan: Immer wieder steht er auf, um ein Mineralwasser anzubieten, ein Erinnerungsstück oder ein Foto seines Urenkels zu zeigen.

Eine Ländlerkapelle – die ‹Kapelle Hans Spinas› notabene – und 18 Jahre Musikverein Oberwil später stiess der umtriebige Klarinettist, der seit 1970 in Riehen wohnt, zum hiesigen Musikverein, wo das Wichtigste seit 38 Jahren dasselbe sei, nämlich die Kameradschaft. Deshalb ist Hans Spinas immer als erster dabei, wenn es irgendwo Hand anzulegen gilt.

Eine Änderung führte der ehemalige Vizepräsident anfangs der 1970er-Jahre gleich selbst ein, nämlich das ‹Du›. Und erst kürzlich erwirkte er eine weitere Neuerung, die seinen jüngsten Vereinskollegen betrifft: «Remo hat in der Rekrutenschule 21 Wochen lang jeden Tag Klarinette gespielt. Deshalb ging ich zu unserem Dirigenten und sagte: ‹Ben, jetzt soll Remo die erste Klarinette spielen.›»

Musik ist für Hans Spinas etwas vom Wichtigsten. «Als meine Frau letztes Jahr starb, hatte ich manche schwere Stunde. Da nahm ich die Klarinette und spielte ein paar Töne, und die traurigen Gedanken verflogen wieder.» Und mit Nachdruck fügt er an: «Darum will ich Musik machen, bis sie mich im Kistchen hier raustragen!»
 

1 Dieser Artikel stützt sich auf die Publikation 125 Jahre Musikverein Riehen. 1861–1986, Riehen 1986, sowie auf die Statuten des Musikvereins Riehen, Fassung vom 21. März 1922, Dokumentationsstelle Riehen.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2011

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