Erinnerungen an Adolf Busch
Paul Gessler
Man hat mich gebeten, für das Riehener Jahrbuch etwas zur Erinnerung an Adolf Busch zu schreiben. Dieser Aufforderung komme ich gerne nach, aber nur unter der Voraussetzung, daß man nicht eine «Würdigung» des Künstlers Busch, des Geigers und Komponisten, von mir erwartet. Dazu wäre ich in keiner Weise berufen; und es gibt Fachleute genug, die einen solchen Auftrag ausführen können. Ich vermag nur, anspruchslos und ganz persönlich, einiges zu erzählen aus den Jahren, da wir Nachbarn und Freunde wurden, und kann nur hoffen, es möge mir gelingen, den Lesern etwas von der schönen schlichten Menschlichkeit dieses weltberühmten Mannes zu vermitteln.
Als wir 1931/32 unser Haus am Mohrhaldenweg in Riehen bauten, wurde fast gleichzeitig gegenüber am Schnitterweg - der damals freilich erst im Entstehen aus dem Ackerland heraus war — ein wesentlich größeres Bauunternehmen ins Werk gesetzt: ein großes und ein damit verbundenes kleineres Haus, das Adolf Busch und Rudolf Serkin — der damals noch Junggeselle war — von einem befreundeten schwäbischen Architekten erstellen ließen. Es war uns keine angenehme Nachricht, daß in die «Wildnis», die wir uns da oben ausgesucht hatten, zwei internationale Musikstars — «Bonzen» sagten wir unfreundlicherweise — mit dem ganzen dazugehörigen gesellschaftlichen Betrieb einziehen sollten. Aber wie schössen wir mit dieser eigennützigen Befürchtung daneben! Wie angenehm wurden wir davon befreit!
Ich hatte Adolf Busch ein erstes Mal gesehen als junger Student, wohl im Jahre 1918, als er mit dem berühmten Schauspieler Alexander Moïssi zusammen im Großen Musiksaal einen musikalisch-poetischen Abend gab, an dem er die Chaconne von J.S.Bach spielte. Ich war damals nicht wenig erstaunt gewesen, als der schon berühmte Mann mit seinem struppigen blonden Haarwisch fast jünglingshaft bescheiden — und doch war er damals fünfundzwanzig Jahre alt und hatte schon Frau und Kind — auf das Podium trat und, ohne alle Künstlerallüren und völlig an das Werk hingegeben, das schwere Stück spielte. Aber seither war mehr als ein Jahrzehnt verstrichen, während dessen Busch in den ersten Rang der Weltberühmtheiten aufgestiegen war. Aber zu unserer Freude hatte das nichts an ihm verändert, als daß er etwas älter und korpulenter geworden war. Wir lernten ihn jetzt persönlich kennen, weil er, während sein Haus noch im Bau war, gelegentlich bei uns telephonieren kam. Immer noch stand ihm das blonde Strohdach über der fast bäurisch breiten Stirn und schauten seine hellblauen Augen freundlich und gütig, ja fast kindlich, darunter hervor. Von irgendeinem Künstlerstolz keine Spur!
Bald erfolgte auch die erste Einladung in sein schönes neues Haus mit dem riesigen, fast völlig in Weiß gehaltenen Musikzimmér im Erdgeschoß, wo Türen und Fenster in den herrlichen grünen, von großen Bäumen umstandenen Garten hinausgingen. Und der gefürchtete gesellschaftliche Betrieb? Er war Geselligkeit im schönsten Sinne des Wortes: Freundschaft, die freigebig und weitherzig an einen großen Kreis der verschiedensten Menschen aus verschiedenen Ländern verschenkt wurde: berühmte und unberühmte, freie Künstler, Orchestermusiker, Kritiker, Dilettanten, Professoren, Pfarrer, ärzte, aber auch Lehrer und Lehrerinnen seiner Tochter, die dankbar in Ehren gehalten wurden — alle immer festlich heiter gestimmt und wohltuend gelöst in der gastfreien Luft dieses Hauses und durch die schöne Musik, die immer so selbstverständlich geboten wurde, bald von Busch und Serkin — gelegentlich auch noch von Frau Busch — bald vom Buschquartett, bald von einem etwas erweiterten Ensemble. Strahlend heiter gingen der Hausherr und seine Frau und der wesentlich jüngere Rudolf Serkin — allgemein «Rudi» genannt — von einem zum andern, glücklich die Entspannung genießend nach der unvorstellbar harten Tätigkeit der Konzertreisen in aller Welt und ihrer Vorbereitung durch gewissenhaftestes, ausdauerndes und konzentriertes üben und Proben.
Zu dieser Entspannung gehörte auch die große Spieleisenbahn, die in den Ferien gelegentlich auf dem riesigen Estrich aufgestellt wurde, die großen Aquarien mit Zierfischen aller Art, die «Rudi» einem stolz zeigte und die mit dem gebührenden Ernst bewundert sein wollten, oder, wenn zur Seltenheit einmal um die Weihnachtszeit in Riehen Schnee lag, ein herrlich dilettantisches Skifahren um die Chrischona herum oder ein ebenso unbekümmertes Aquarellmalen. Nichts von Distanz zwischen den Berühmtheiten und den gewöhnlichen Sterblichen: man umarmte und küßte sich, wenn man nach längerem Getrenntsein sich wieder sah. Das einzige, dessen man sich sanft erwehren mußte, war, daß man unsinnig überschätzt wurde, da die Großen immer geneigt waren, auch ihre Freunde in den Maßen zu sehen, die doch nur ihnen selbst zukamen.
Zu dieser unkomplizierten, im schönsten Sinne leut-seligen — aber niemals gönnerhaften! — Menschlichkeit gehörte es auch, daß Busch und Serkin sich gerne bereit fanden, in Konzerten des Riehener Männerchors mit solistischen Einlagen aufzutreten und sich zu dessen Ehrenmitgliedern ernennen zu lassen. Sie bezeugten damit ihre Dankbarkeit gegenüber der Schweizer Gemeinde, die sie freudig in ihr Bürgerrecht aufgenommen hatte, nachdem sie durch den unmenschlichen Wahnsinn des Nazismus aus ihren Vaterländern vertrieben worden waren.
Die Höhepunkte der Gastfreundschaft stellten die großen Hausfeste dar: Hausräuke, die Hochzeit von Büschs noch sehr jugendlicher Tochter mit Rudolf Serkin, der längst wie ein Sohn in die Hausgemeinschaft aufgenommen worden war, die Silberne Hochzeit der — damals auch noch sehr jugendlichen — Eltern Busch. Alle diese Feste fanden im Hause selbst statt. Daß die Räume die riesige Zahl von Freunden kaum zu fassen vermochten, störte weder die Gastgeber noch die Gäste. Man saß eng gedrängt bei Tische wie die Sardinen in der Büchse, und man scherzte, daß entweder alle im gleichen Takt essen müßten, wenn sie die Arme sollten bewegen können, oder daß die Geraden und die Ungeraden abwechselnd die Gabeln zum Munde führen müßten.
Für uns war es selbstverständlich, daß wir von der Zeit an, da wir Büschs Nachbarn waren, kein Konzert versäumten, das Busch oder Serkin oder beide miteinander oder das Buschquartett in Basel gaben. Aber wenn man solchen Künstlern benachbart oder befreundet ist, so kann man sich nicht mit der reichlich undifferenzierten Art des Beifalls begnügen, der in möglichst lärmigem Klatschen besteht; man hat das Bedürfnis, ihnen persönlich zu danken und zu gratulieren. Aber wie soll man das tun? Man hat es ja gerade wieder erlebt, daß die lieben Nachbarn einem wie in eine andere Welt entrückt waren, wenn sie mit oder an ihren Instrumenten auf dem Podium vor einem standen oder saßen und man kaum begreifen konnte, wie man so ungeniert von gleich zu gleich mit ihnen hatte umgehen können und es nachher wieder tun würde. Wie soll man mit einem mündlichen oder schriftlichen Wort aus unserer Alltagswelt in diese olympische Welt hinüberreichen? Wenn man die Ausführenden nach dem Konzert im Künstlerzimmer aufsuchte — was sie übrigens immer gerne sahen — so drängten sich die Freunde in dem winzigen Raum oder dem noch engeren Vorraum; Busch mußte vielleicht sogar, mit Verlaub zu sagen, das Hemd wechseln und sich abreiben, weil er von der Anstrengimg völlig durchnäßt war; oder er war von dem Spiele so aufgewühlt, daß ihm noch die hellen Tränen über die Backen liefen - jawohl! das stellt sich der Laie nicht vor, wenn er weiß, daß ein Geiger das Violinkonzert von Beethoven zum, sagen wir, fünfzigstenmal spielt! - und daß man kaum wagte, ihn mit banalem Gestammel anzusprechen. Ich erinnere mich, wie ich das erstemal nach einem herrlichen Konzert an einem Sonntagmorgen im Stadttheater - Streichquintett in g-moll von Mozart - am Nachmittag aus einer philosophisch-ästhetischen Abhandlung Schillers eine Stelle abschrieb, die mir in ihrer gewaltigen Höhe dem Komponisten und seinen Interpreten angemessen zu sein schien, und den Zettel mit einigen begleitenden Dankesworten schüchtern in Büschs Briefkasten warf, nicht wissend, ob ein Künstler von diesem Rang überhaupt wünsche, daß ein Hörer ihn damit bemühe. Als wir aber mit Busch und Serkin vertrauter geworden waren, wußten wir, daß man sich mit seinem Dank nicht in so hohe geistige Unkosten zu stürzen brauchte, sondern sich sehr viel einfacher und handfester ausdrücken konnte, indem man z. B. zum Dank für ihr himmlisches Spiel seinem Gemüsegarten oder -keller einen satten fünfkiloigen Kabiskopf oder einen besonders schön und gewaltig entwickelten Zucchetto entnahm und sie ihnen vor die Haustür legte, womöglich mit ein paar Knittelversen. So stellten wir einmal mit besonderem Stolz einen Topf mit selbstgemachtem Sauerkraut, das eben «reif» geworden war, hin und fügten die Verse bei: Von dem Spiele hoch erbaut, Spenden wir Euch Sauerkraut, Selber gezogen, gehobelt, gestampft: Guten Appetit nun dem, der's mampft!
Es war ein Schuß ins Schwarze: wir erfuhren nachher, sie hätten vom Konzert um 11 Uhr nachts zurückkehrend — sie fuhren immer sofort heim — das Töpfchen mit Freuden entdeckt, mit ins Haus genommen, sich auf die Tischkante gesetzt und zu viert das Kraut, mit den Fingern es herausfischend, ruppis und stuppis roh aufgegessen.
Das schönste aber war, wenn am Abend ein Telephonanruf von Frieda Busch erfolgte: «Kommt ihr nach dem Nachtessen herüber? Rudi und Adolf möchten gern etwas zusammen spielen, sozusagen als Hauptprobe, und wären ganz froh, ein kleines Publikum zu haben.» Mit tausend Freuden! Da saß man denn in der lieben großen Stube: Frau, Tochter und wir zwei Nachbarn, und lauschte ganz allein den beiden Künstlern, die sich vor der ganzen Welt hören lassen durften, und unterhielt sich vielleicht nachher noch mit ihnen darüber ganz laienhaft; oder man hörte erstaunt zu, wie «Vater und Sohn» sich darüber stritten, ob an der und der Stelle die Achtelsnote punktiert sei oder nicht, bis einer von den beiden in Büschs Studio hinaufeilte, in den Noten nachsah und, triumphierend oder kleinlaut, je nachdem, wieder herunterkam mit der unanfechtbaren Auskunft. — Gelegentlich gaben sie auch ihren Freunden ein Hauskonzert, zu dem diese von ihren Bekannten einladen durften, soviele sie wollten. Sie waren sich aber auch nicht zu gut, ihre erstklassige Musik niemand anderm als dem befreundeten Familienkreis in dessen eigenem Klavierzimmer vorzutragen oder, wenn sie in einem Riehener Männerchorkonzert auftraten, ein Stück zu wählen, von dem sie wußten, daß es ein alter Herzenswunsch eines ihrer Riehener Freunde war, und nachher strahlend und mit schelmischem Lächeln zu fragen: «Habt ihr's gemerkt?»
Diese schöne Zeit nahm leider ein jähes Ende: als es 1939 in Europa immer brenzliger wurde, als Hitlerdeutschland immer unverschämter auftrat und sich über alle Schranken hinwegsetzte, da wurde der Familie Busch der Boden unter den Füßen zu heiß. Die große, endgültige Umsiedlung nach den Vereinigten Staaten mußte vorgenommen werden: unermeßlicher Hausrat, eine riesige Bibliothek von Büchern und Noten, eine Menge von Gemälden — z. B. viele herrliche Bilder von ihrem Freund Alfred Heinrich Pellegrini — mußten verpackt werden. Das liebe Nachbarhaus entleerte sich und verödete. Der letzte Abend in Basel: ein Symphoniekonzert, in dem Adolf Busch als Solist das Violinkonzert von Mendelssohn vortrug — mit besonderem Stolz und Trotz das Werk eines jüdischen Komponisten! — wie immer versunken in das Werk, die übrige Welt völlig vergessend, herrlich, groß, aus tiefster Seele gestaltend. Aber wir Freunde wußten: während wir — mit sehr gemischten Gefühlen und sehr geteilter Aufmerksamkeit — dem weiteren Verlauf des Konzertes zuhörten, hatte Busch seine Stradivarigeige eingepackt, war im Taxi nach dem Bahnhof gefahren und rollte nun schon dem atlantischen Hafen zu, wo er von Europa abstoßen sollte.
Eine kurze Nachblüte nach dem Krieg: Frieda Busch war noch während des Krieges in Amerika aus der sehr innigen Ehegemeinschaft heraus gestorben. Busch hatte eine Basler Freundin seiner Tochter geheiratet. Während des Winters, der ihnen in Vermont zu rauh war, wohnten Büschs in Riehen, wo sie den schönen alten Wettsteinhof gemietet hatten, in dem so lange Jahre Büschs lieber Freund, der Kunstmaler Schangi Lüscher, gewohnt hatte. Auch dort war man gelegentlich bei Büschs zu Gaste und hörte schöne Musik. Aber es hat für uns in der Erinnerung etwas Schattenhaftes; die blut- und lebensvollen und zugleich so wehmütigen Erinnerungen ranken sich um das Haus auf der Mooshalde. Glücklicherweise wohnt wieder eine sehr musikliebende Familie darin, die ihre Freunde gelegentlich zu Hauskonzerten einlädt und pietätvoll und dankbar die Erinnerung an den Erbauer pflegt. Aber dieser selbst ist nicht mehr nur durch das Meer, sondern durch den Tod von uns getrennt, den er am 9. Juni 1952 sechzigjährig auf seinem Gut in Vermont im Norden von USA, infolge eines Herzschlages, erlitten hat. Aber seine Freunde und seine Hörergemeinde in der ganzen Welt werden dem Künstler und vielleicht noch mehr dem Menschen Adolf Busch ein dankbares Andenken bewahren.