Es geschah in Riehen...

Robert Thommen

Es war vor über hundert Jahren, genau genommen im Jahre 1873. Und es war Frühling; ein Frühling, wie er im Buche steht! Riehen war noch ein richtiges Dorf, etwa in der Grösse des heutigen Dorfkerns. Seine Häuser scharten sich um die Dorfkirche herum, so als ob sie bei ihr Schutz suchten; ein Bild, wie man es auch noch in unserer Zeit, von den Langen Erlen kommend, geniessen kann. Grüne Wiesen, garniert mit blühenden Kirschbäumen, bieten uns heute, so wie damals, einen paradiesischen Anblick, und eingebettet in dieser Pracht liegt das Dorf mit seiner spätgotischen St. Martinskirche. Ob die Menschen, die früher diesen schönen Flecken Erde bewohnten: die Bertschmann, die Löliger, die Schultheiss, die Stump, die Unholz, die Weissenberger, die Wenk und wie sie alle hiessen, wohl zufriedener und glücklicher waren als wir heutzutage? Die Voraussetzungen dazu waren freilich vorhanden, denn sie lebten noch nicht in einer Schlafstadt; vielleicht machten sie gelegentlich einen Sonntagsausflug nach Basel; die Bauern, damals noch der Hauptteil der Bevölkerung, besuchten vielleicht den Markt in der nahen Stadt, doch sonst wickelte sich das Leben im Dorfe selber ab; ein Zustand, von dem wir heute nur noch träumen können.

Wie gesagt, es war Frühling, und zu jener Zeit gab es vermutlich noch echte Frühlinge; nicht zu kalte und nicht zu heisse; solche, die die Herzen der Menschen höher schlagen Hessen und ihnen die entsprechenden Sehnsüchte und Wünsche eingaben! Ein solches Herz schlug damals auch in einem frischen, gesunden und lebhaften Mädchen; es war noch keine zwanzig Jahre alt, das Luisli, von dem unsere Geschichte hier erzählt. Als die Zweitjüngste von fünf Kindern des Bauern Jakob Eger - die älteste, die Anni, hatte bereits ihren eigenen Hausstand gegründet, während drei Buben und sie selbst noch unter den Fittichen ihrer Eltern standen - war sie als einzige bisher in der «Fremde» gewesen, nämlich in einer Haushaltstelle in Basel. Ein Jahr lang hatte sie es dort ausgehalten; es waren sehr nette Leute, bei denen sie diente und doch. . ., sie hatte sich eben nicht abfinden können mit ihrer steinernen Umgebung. Wenn es auch noch keine Abgase gab und das Wort «Umweltverschmutzung» noch nicht existierte, so war sie doch von einem Häusermeer umgeben gewesen, das ihren Horizont eingeengt und ihre Seele betrübt hatte. Wie gerne verrichtete sie da wieder ihre Hausarbeit am heimischen Herde, wie gerne verzichtete sie auf eine bessere Entlohnung, begnügte sie sich mit einem Sackgeld, wenn sie nur wieder die gesunde Luft einatmen und ihren Blick auf dem frischen, saftigen Grün der Wiesen ruhen lassen konnte. Es war ein Quell der Freude und Zufriedenheit, der sie beglückte, seit sie wieder daheim in ihrem geliebten Riehen war.

Doch stetige Zufriedenheit im Leben eines Menschen ist ja meistens schon ein Grund zur Unzufriedenheit. So wie es in der Meteorologie nicht nur Hochs geben kann - wie langweilig für die Menschen und schädlich für die Kultur wäre das - so kann es gottlob auch im Leben eines Menschenkindes nicht immer nur eitel Freude geben. Wen wundert's da, wenn das Schicksal auch für unser Luisli etwas Kummer vorbereitet hatte? Tagsüber war ihr Leben ausgefüllt. Ihre Arbeit in Feld und Stall liebte sie sehr; doch war sie zu jung, um sich abends die wohlverdiente Ruhe zu gönnen. Ihre drei Brüder Hessen sie nach dem Nachtessen meistens im Stich; sie verbrachten ihre Abende jassend und diskutierend im «Ochsen», im «Drei Könige», im «Rössli» oder «Lindenstübli». Dass es dabei nicht immer besonders friedfertig zuging, war kein Wun der. Wo viel «Schlipfer» floss und junge, kraftstrotzende Burschen verständlicherweise nicht immer einer Meinung waren, entstanden vielfach, nicht gerade zur Erbauung des Wirtes, nebst lautstarken Grölereien auch grössere Schlägereien, verbunden mit entsprechenden Sachbeschädigungen, und manch einer musste mit blutigem Kopf ins Diakonissenspital oder hinauf in den Wenken zu Doktor Burckhardt gebracht werden. - Es war daher ein wahrer Segen, dass schon zu jener Zeit, um genau zu sein seit dem Jahre 1856, im Dorfe ein Männergesangverein existierte, der diesen Streitereien wenigstens für einen Tag in der Woche Einhalt gebot und die Grölereien in geordnete Bahnen (lies Gesang) lenkte. Sportvereine gab es nämlich noch keine, wo die Jungen ihre Aggressionen hätten abbauen können.

Leider dachte man zu jener Zeit nur an die Herren der Schöpfung, selbst wenn es sich um Musik und Gesang handelte, wozu doch das feinfühligere weibliche Geschlecht eher prädestiniert war. Es gehörte auch noch nicht zu den Gepflogenheiten der Backfische, abends ohne männliche Begleitung auszugehen; wohin sollten sie auch? Gab es doch weder Cafés, so wie wir sie heute kennen, noch Kinos, wo sich das damals noch «schwache Geschlecht» hätte vergnügen können. Für ein initiatives und unternehmungslustiges Ding wie das Luisli waren das Fesseln, die es früher oder später zu sprengen galt. Freilich wäre auch abends genügend Arbeit vorhanden gewesen, mit der sie ihren Unternehmungsgeist hätte befriedigen können; doch das Stricken, Nähen und Bügeln waren keine ideale Ergänzung für ihre tägliche strenge, körperliche Arbeit. War es da verwunderlich, dass ihr sonst so frohes Gemüt manchmal ins Gegenteil umschlug und einer grossen Unzufriedenheit Platz machte? Sie wusste, dass etwas geschehen müsste, etwas, womit auch ihr reger Geist auf seine Rechnung kam; aber eben, wie konnte sie diese Lücke in ihrem Leben ausfüllen?

Der Frühling ging vorbei; er hatte unser Luisli mit ihren Sehnsüchten und Wünschen allein gelassen. Auch der Sommer neigte sich langsam seinem Ende zu; die ersten Blätter fingen an, sich zu verfärben und gerade, als eine grosse Traurigkeit und Resignation sich unseres Luislis bemächtigen wollte, kam eines schönen Tages einer ihrer Brüder auf sie zu, mit einer Mitteilung, die sie aufhorchen liess! Eine Mitgliederversammlung des Männerchors «Liederkranz» habe beschlossen, mangels genügender Männerstimmen, Sängerinnen zu werben und den Männergesangverein in einen gemischten Chor umzuwandeln. Luisli war sofort Feuer und Flamme und meldete sich als erste bei einem Vorstandsmitglied des Vereins an. Nach kurzer Zeit waren es insgesamt 15 Jungfrauen (so nannte man eben damals die jungen Damen), die sich bereit erklärten, sich der holden Kunst des Gesanges zu widmen. An einem Mittwoch im Herbst war es dann soweit: Die erste gemeinsame Gesangsstunde sollte Wirklichkeit werden. Zusammen mit ihren drei Brüdern begab sich unser Luisli erwartungsvoll und klopfenden Herzens zum Probelokal. Es waren Mädchen und Burschen vom Unter- und Oberdorf, die sich zum ersten Mal zusammenfanden. Die anfängliche Reserviertheit zwischen den Geschlechtern konnte der damalige Präsident des Liederkranzes, Heinrich Weissenberger, durch seine unkomplizierte und fröhliche Art allmählich zum Verschwinden bringen. Nach ein paar Wochen war es dann soweit, dass männiglich sich auf den Mittwoch freute, sei es nun des Gesanges wegen oder gar deshalb, weil es Besitzern von Bass- oder Tenorstimmen passierte, dass ihnen ein gewisses Antlitz in den Reihen der Sopran- oder Altstimmen einfach nicht aus dem Sinne ging - oder war es etwa gar umgekehrt? Wie dem auch sei; anfänglich begaben sich die «eine Oktav höher Singenden» nach der Gesangs stunde, einen regen Gedankenaustausch pflegend (worüber verschweigt des Sängers Höflichkeit!), gemeinsam auf den Heimweg und überliessen es den Burschen, das «Rössli» oder vielleicht den «Ochsen» aufzusuchen, um den Abend, so wie es sich für einen rechten Sänger geziemt, bei einem guten Tropfen zu beenden. - So blieben die Kontakte zwischen den beiden obern und den beiden untern Stimmlagen lange Zeit auf die Gesangsstunden beschränkt. . . bis eines schönen Tages der Vorstand des Liederkranzes beschloss, im Frühjahr 1874 zum ersten Mal einen Familienabend durchzuführen. Und wie das damals so Sitte war, als man noch nichts von Kino, Radio oder gar Fernsehen wusste: Ein Familienabend ohne Theater war undenkbar! Es gab immer wieder theaterfreudige Mitglieder weiblichen und männlichen Geschlechts, die zeigen wollten, was für ungeahnte Fähigkeiten in ihnen schlummerten, Fähigkeiten, die nur darauf warteten, geweckt zu werden, um später einmal auf den «Brettern der Welt» vor einem grossen Publikum zur Entfaltung zu kommen.

Eines Tages war es dann soweit: Theaterstück und Schauspieler waren bestimmt. «E gerissene Köbi» lautete der Titel des zukünftigen «Erfolgsstückes», und keine Geringere wurde für das Dorli, die weibliche Haupt- und Liebhaberinnenrolle, auserkoren als unser Luisli, hübsch und kokett wie sie war! Die Titelrolle aber, den «gerissenen Köbi», spielte, nach der Ansicht Luislis, ausgerechnet dieser «geschleckte Kerl» aus der Stadt; er war Commis in einer Seidenbandfabrik, und Luisli, als bodenständige Jungfrau, hatte eben etwas gegen alles Fremde; Vorurteile, eingeimpft von Eltern, Grosseltern, ja von Generationen! Der Dirigent Ernst König hatte diesen Peter aus der Stadt mitgebracht. Sein schöner Tenor sei ihm anlässlich eines Gesangsfestes aufgefallen und so habe er ihn eben für den Riehener Liederkranz gewinnen können, den Gysin Peter. In der Verkaufsabteilung dieser grossen Firma tätig, war er es eben gewöhnt, wie «aus dem Schächteli» daherzukommen, weshalb er anfänglich alle Schwierigkeiten hatte, bei den Bauern im Dorf Anschluss zu finden und als einer der Ihren aufgenommen zu werden. Sechs «Akteure» waren es schliesslich, die sich wöchentlich, ausser den Gesangsstunden trafen: das Luisli, das Miggeli, das Lineli, der Peter, der Hans und der Ernst.

Im Saale des «Rösslis» hatten sie jeweils Probe, und wie das nun einmal so ist bei einem öftern Wiedersehen: Es entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl; und sicher ist es auch für einen Verein von gutem, wenn ein Kern von Sängern vorhanden ist, der den nötigen «Kitt» liefert. Und so wurde eben geprobt und geprobt. . . und üb rigens: Auch Liebesszenen wollen geprobt sein, damit sie echt aussehen; besonders wenn - laut Aussagen der Trägerin der weiblichen Hauptrolle - die nötige Sympathie zum Partner fehlt! Der neutrale Beobachter hingegen konnte verfolgen, wie diese bewussten Szenen von Mal zu Mal besser wurden, und man sah sie wie Butter zerlaufen - die Vorurteile nämlich, die Luisli gegenüber dem Peter hatte. Luisli fragte sich auch des öftern: «Ist der Peter wohl so ein guter Schauspieler? Diese Umarmungen, diese Küsse, die doch eigentlich in den Proben nur markiert werden sollten. . .», und mehr als einmal passierte es, dass ihr nach einer solchen «theatralischen Umarmung» der Text vollkommen abhanden kam! Und aus lauter Angst vor einem neuen Versagen, übte sie diese Texte immer intensiver; sie übte auf dem Feld, beim Stricken, vor dem Einschlafen, morgens beim Aufwachen. . . und immer musste sie zu ihrem «gerissenen Köbi», so wie es der Text nun einmal vorschrieb, liebe Worte sagen. . . und ohne dass sie es wollte, verschmolzen allmählich der Köbi und der Peter zu einer einzigen Person. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass bei dieser Lernerei nicht nur ihr Gehirn in Funktion war, sondern dass auch immer mehr ihr Herz mitzuspielen beliebte. War es da ein Wunder, wenn sie die weiteren Proben mit sehr gemischten Gefühlen besuchte? Es war eine Mischung von Freude, Angst, Neugierde, Erwartung und Sehnsucht; kurzum, eine bislang noch gänzlich unbekannte Empfindung, die sie beunruhigte und immer mehr von ihr Besitz ergriff!

Es war in Riehen, am 11. März 1874 im Rösslisaal. Dem ersten Familienabend des Liederkranzes war ein voller Erfolg beschieden. Die Krönung des Abends aber war: «E gerissene Köbi»! Hätte damals schon eine «RiehenerZeitung» existiert, man hätte in der Kritik zweifelsohne lesen können: «Noch nie wurde eine Liebesszene so lebensecht gespielt, wie diejenige zwischen dem Luisli und dem Köbi, im Rösslisaal in Riehen. . .»

Und wieder einmal wurde es Frühling. Ein echter, milder Frühling, der sich auch im Jahre 1874 seine Opfer unter den jungen Menschenherzen suchte. Dazu gehörten auch das Luisli und der Peter! Denn nach der so erfolgreichen Theateraufführung konnten die beiden Hauptdarsteller das Proben nimmer lassen; sie probten und probten und probten. . . und überflüssigerweise immer das, was sie sowieso schon am besten konnten. . . doch ein Jahr später wurde aus dem Spiel Ernst, und die Bauerntochter Luisli Eger heiratete den «geschleckten» Commis Peter Gysin; sie lebten glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben sind. . . Man hat aus den Protokollen des Liederkranzes nie entnehmen können, wie viele Pärchen sich seit Bestehen des gemischten Chores dort gefunden haben, doch wer weiss, ob nicht der Liederkranz, als ältester Dorfverein, seinen Teil dazu beigetragen hat, dass die eingangs erwähnten, alten Riehener Geschlechter bis heute noch nicht ausgestorben sind!

Und eigentlich wäre es doch jammerschade, wenn ein Verein mit einer 125 Jahre alten Tradition, nur weil heutzutage zu viele Männer zu wenig Aktivitäten entwickeln, eines schönen Tages ganz einfach nicht mehr sein würde!

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1981

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