Family Viewing - die etwas andere Euro 08

Rolf Spriessler-Brander

Vom 7. bis 29. Juni fand in österreich und der Schweiz die Fussball-EM-Endrunde statt. In Riehen war das Ereignis Anlass zum kollektiven Fussballtreff in betont familiärem Rahmen.

 

«Family Viewing». Unter diesem Titel wurden in den 1970erJahren amerikanische Fernsehsender darauf verpflichtet, zu Beginn der «Prime Time» um 20 Uhr nur Sendungen mit «familientauglichem» Inhalt zu senden. Um Familientauglichkeit ging es auch, als man in Riehen überlegte, wie man sich am ganzen Rummel um die Fussball-Europameisterschafts-Endrunde vom Juni 2008 beteiligen sollte. «Public Viewing» hiess das Schlagwort, um das sich vieles drehte. Ein Phänomen, das in Südkorea, Kogastgeber der vorletzten WM, im Rahmen der Fussball-Weltmeisterschaft 2002 erstmals in grossem Stil zu beobachten war: das kollektive Fussballschauen in einer Fanzone mit grossen Bildschirmen. Inszenierte Fankultur ausserhalb der Stadien, für die sich ein Normalsterblicher sowieso kaum ein Ticket hätte erwerben können, war in dieser Form und Dimension etwas völlig Neues.

Die Welle schwappte mit der Fussball-WM 2006 in Deutschland nach Europa über. Das «Public Viewing» war ein wesentlicher Teil des deutschen Fussball-Sommermärchens und da spielte es nicht einmal mehr eine Rolle, dass die Gastgeber nicht im WM-Final standen. «Die Welt zu Gast bei Freunden» lautete das WM-Motto und die Botschaft kam an.

 

Dass diese Dimensionen in der Schweiz wohl kaum erreicht würden, war klar, und doch stellte man sich auf einen rechten Ansturm ausländischer Fans ein, die auch ohne Ticket an den Spielort ihrer Lieblinge reisen würden. Zum Glück, denn ohne eine gewisse Vorbereitung hätten Bern und Basel die fröhlichen Massen der fussballverrückten «Oranjes» während der Spiele der Holländer wohl kaum so problemlos aufnehmen können, auch wenn die holländischen Fans in grossem Mass organisiert waren und vieles selber in die Wege geleitet hatten.

Vom «Public Viewing» zum «Family Viewing»

Was aber war nun zu tun? Eine Fanmeile in Riehen? Nein. Dazu war man zu weit weg vom Zentrum der Aktivitäten in der Stadt. Ein «Public Viewing» wie in den gross angelegten UBS-Arenen quer durchs Land? Nein. Das hätte nicht zum Charakter der Gemeinde Riehen gepasst. Und doch hatte Franz C. Widmer, Präsident des kurz zuvor gegründeten Vereins «Pro Riehen», mit Recht bemerkt, in Riehen müsse man zur Euro 08 «etwas machen» - und stiess damit bei der Gemeinde sofort auf offene Ohren, wie Urs Denzler bestätigt, der als Abteilungsleiter bei der Gemeinde Riehen unter anderem für das Gemeindemarketing zuständig ist und bei «Pro Riehen» als Sekretär amtet.

Die Fussball-EM als Familienereignis - das war die Lösung. Aus «Public Viewing» wurde folgerichtig «Family Viewing». Mamis und Papis mit kleinen Kindern sowie Jugendliche sollten die Möglichkeit haben, die Fussballspiele in ganz speziellem Rahmen miterleben zu können, ohne sich - womöglich mit Kinderwagen und Tragtuch - ins Getümmel der Stadt stürzen zu müssen. Damit trat Riehen bewusst nicht als Gemeinde auf, die auch etwas vom EM-Kuchen abbekommen wollte, sondern fand eine Nische, die sich mitten im grossen EM-Trubel anbot. Für die grossen Massen war gesorgt, gefragt war der etwas andere Umgang mit dem Grossereignis. Die Gemeinde stellte die Infrastruktur - ein Festzelt und die ganze Technik zum Betrieb eines Grossbildschirms - zur Verfügung, mit der Wettsteinanlage stand mitten im Dorf ein bestens geeignetes Gelände mit genügend Platz und vielen Spielmöglichkeiten bereit und mit dem benachbarten Restaurant «Zum Schlipf» bot sich ein Caterer an, der die Festwirtschaft ohne grossen Zusatzaufwand übernehmen konnte.

Freizeittreff auf der Wettsteinanlage

Zunächst wurde die Riehener Idee da und dort belächelt. Das Lachen verging einigen, als die grossen «Public Viewings» in der Stadt und im Baselbiet an vielen Spieltagen floppten, während in Riehen gute Stimmung herrschte, und zwar auch bei den Anbietern. Das Konzept vertrug es eben, wenn beim einen oder anderen Spiel kaum eine Handvoll Leute im Zelt sass. Die Spielwiese und der Spielplatz waren unabhängig vom EM-Spielplan stets belebt. Viele Junge kamen nicht zum Fernsehschauen ins Dorf, sondern um zu spielen oder um ihre Kolleginnen und Kollegen zu treffen. Oder sie vertrieben sich im Park die Zeit, während Papi, Marni oder beide sich ein Spiel anschauten. Viele, die im Dorfkern arbeiten, begannen ihren Feierabend mit einem Imbiss im EM-Zelt. Es gab auch jene, die sich nicht wirklich für Fussball interessierten, aber die Stimmung im Zelt genossen und teils schon lange vor dem Schlusspfiff zufrieden wieder nach Hause gingen, im Bewusstsein, auch Teil der Fussball-EM gewesen zu sein. So lebte Riehen im Juni 2008 mit der und nicht für die Euro 08 und nahm das Grossereignis als Gelegenheit wahr, damit einen ganz speziellen Sommer erleben zu dürfen.

«Schlipf»-Wirtin Sandra Kövi zog nach der EM ein positives Fazit. Weil sie das Zelt direkt vom Restaurant aus mit wenig Zusatzaufwand hätten führen können und die Infrastruktur zur Verfügung stand, waren für sie Aufwand und Ertrag in einem guten Verhältnis mit Gerichten, die etwas hergaben, und mit Preisen, die das Prädikat «familienfreundlich» wirklich verdienten. Es habe ganz einfach grossen Spass gemacht, sagt Sandra Kövi ausser dass eine - zum Glück leere - Kasse wegkam, ist nichts passiert.

«Die Stimmung war ganz speziell», bilanziert die Wirtin, «es gab viele Stammgäste, die man immer wieder sah.» Einige Familien hatten während Wochen im Park sozusagen eine zweite Heimat gefunden. Da erübrigte sich jeder Babysitter...

Zufrieden war auch die «Racletteria», die mit einem Stand vor Ort war. Von dort war zu hören, dass der Riehener Verpflegungsstand wesentlich besser laufe als jener in der Basler Fanzone, von dem man sich eigentlich viel mehr erhofft hatte.

Höhepunkte waren natürlich die Schweizer Spiele und der Final. Als die Schweiz im zweiten Spiel gegen die Türkei im strömenden Regen in Führung ging, war der Jubel im prall gefüllten Festzelt gross - während sich gleich nebenan einige Jugendliche auf dem eigens aufgestellten Mini-Fussballfeld mit sichtlichem Spass eine fussballerische Schlammschlacht sondergleichen lieferten. Die Stimmung ebbte ab, als die Türken ausglichen, und Fiel in den Keller, als kurz vor Schluss das 1:2 fiel, das das endültige Aus des Gastgeberteams besiegelte. Aber der Abend war der Härtetest für das Zelt, das sich mit seiner soliden Bauweise und dem leicht erhöht gelegenen Holzboden als wasserdicht und wetterfest erwies.

Riehen erlebte eine Fussball-EM der leisen Töne. Während in der Stadt die Fans zumindest bei einigen Spielen in Scharen jubelten und auf dem Kasernenareal mit seiner Tribüne vor dem Bildschirm zuweilen Stadionstimmung aufkam, präsentierte sich das Riehener Festzelt eher wie ein überdimensioniertes Wohnzimmer. Fernsehen unter Kolleginnen und Kollegen, so wie es früher gewesen sein muss, als noch nicht jeder Haushalt mit einem Fernseher ausgerüstet war und man zu Nachbarn, Bekannten oder ins Wirtshaus ging, um fernzusehen.

Euro im Landi und auf der Grendelmatte Fernsehen unter Freunden - das funktionierte nicht nur in manch guten Riehener Stube und auf der Wettsteinanlage, auch im Freizeitzentrum Landauer hatte man einen Freizeitraum zum Fussball-EM-Treff umfunktioniert. In Kinoatmosphäre wurden hier die Spiele verfolgt, analysiert und besprochen. Etwas Schadenfreude war durchaus zu spüren, als der grosse Favorit Deutschland gegen die Türkei in Rücklage geriet. Nicht nur, weil man dem «grossen Bruder» eine unerwartete Pleite gegönnt hätte, sondern weil man anerkennend feststellte, der Aussenseiter spiele atttraktiven Fussball und führe nicht unverdient. Auch das Landi-Team nahm das Thema auf und die Fussball-EM mit all ihren Facetten war Thema des Freizeitangebotes, in dem Fanartikel gebastelt, Gesichter bemalt, Panini-Bildchen getauscht wurden und vieles mehr.

Auch auf der Grendelmatte hatte man sich etwas überlegt. Just am Eröffnungstag der Euro, als die Schweiz in Basel gegen Tschechien spielte, fand auf dem Riehener Sportplatz eine kantonale Leichtathletikmeisterschaft statt. Athleten, Betreuern und Publikum wollte man den abendlichen Match nicht vorenthalten und so wurde im Festzelt der Grendelmatte Fussball geschaut, und zwar nicht nur am Auftakttag. Auch hier stand längst nicht nur der jeweilige Match im Mittelpunkt.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2008

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