Geheimnisvolle Welt der Insekten

Brigitte Braschler

Wenn wir an Tiere denken, dann oft zuerst an Haustiere, Nutztiere, an grosse Säugetiere und Vögel. Die meisten Tiere sind aber klein und unscheinbar. Insekten sind für das Funktionieren unserer Lebensräume von entscheidender Bedeutung. Deshalb ist es besorgniserregend, dass sie seltener werden. Doch wir alle können dem entgegenwirken.

Wir Menschen teilen unseren Lebensraum mit vielen Tieren. Manche davon leben mit uns als Haustiere oder Nutztiere in der Landwirtschaft. Obwohl auch die Honigbiene ein Nutztier ist, wissen viele wenig über die Rolle anderer Insekten. Diese sind für das Funktionieren unserer Umwelt aber unabdingbar. Für seinen Roman ‹Dust› von 1998 hat sich Charles Pellegrino ein Horrorszenario ausgedacht, in dem die Insekten plötzlich aussterben und die menschliche Zivilisation an den Folgen beinahe zugrunde geht. Diese Fiktion hat einen gewissen Wahrheitsgehalt. Tatsächlich erfüllen die Insekten sehr viele wichtige Funktionen. Leider sind aber viele Insektenarten bedroht. Im Herbst 2017 erschütterte eine Medienmitteilung die europäischen Naturfreunde. Untersuchungen der Entomologischen Gesellschaft von Krefeld zeigten einen enormen Rückgang von Insekten in deutschen Naturschutzgebieten. 1 Gemessen am Gewicht, verschwanden in 27 Jahren mehr als drei Viertel. Allerdings war dieser Befund nur vom Ausmass her überraschend. Der vorherrschende Trend war bekannt. Zahlreiche andere Studien belegten den Insektenschwund in Europa. Den Älteren unter uns wird das auch aufgefallen sein: Früher mussten wir nach einer Autofahrt die Windschutzscheibe von den getöteten Insekten befreien. Heute ist das kaum mehr nötig. Trotz diesem Rückgang finden wir Insekten immer noch überall. Ihr Artenreichtum ist erstaunlich. Sie haben alle Lebensräume erobert, auch vom Menschen geschaffene. Man schätzt, dass es weltweit ungefähr 200 Millionen Insekten gibt auf jeden einzelnen Menschen.2 Das ist nicht weiter verwunderlich: Schon ein einzelnes Nest der in Riehen verbreiteten Roten Gartenameise (Myrmica rubra) hat im Durchschnitt 1000 Einwohner – und in einem Garten hat es Platz für viele solche Nester. Obwohl Insekten klein sind, überwiegen sie uns gesamthaft klar. Man kann sich also leicht vorstellen, wie sie unsere Umwelt beeinflussen.

WICHTIGE ROLLE IN DER UMWELT
Insekten sind an vielen natürlichen Prozessen und Wechselwirkungen beteiligt. Die meisten Pflanzen sind auf Insekten angewiesen bei der Bestäubung. Andere Insekten sind Pflanzenfresser. Wiederum andere jagen die Pflanzenfresser und verhindern, dass sie sich zu stark vermehren. Weltweit dienen Insekten 60 Prozent der Vögel als Nahrung. Viele Insektenarten helfen auch beim Streu- und Totholzabbau und damit beim Nährstoff-Recycling. Manche Insektengruppen sind an besonders vielen Wechselwirkungen mit anderen Tieren, Pflanzen und ihrer Umgebung beteiligt. So verbreiten beispielsweise Ameisen Samen. Diese haben oft besonders nahrhafte Anhängsel, um die Ameisen anzulocken. Ausserdem hegen die Ameisen zum Ärger der Gärtner Blattläuse, um deren Honigtau melken zu können. Mehrere einheimische Schmetterlingsarten werden im Raupenstadium von bestimmten Ameisenarten betreut. Mit ihrem Nestbau lockern die Ameisen den Boden, lassen so das Regenwasser besser einsickern und durchmischen die Bodenschichten. Ameisennester dienen auch vielen anderen Tieren, die einen Trick gefunden haben, um nicht zur Beute der Ameisen zu gehören, als Heim. So leben manche Käfer, Spinnen und Grillen im Ameisennest. Weil die Ameisen durch ihren Nestbau den Lebensraum für sich und andere verändern, bezeichnet man sie als Ökosystem-Ingenieure.

INGENIEURE DER NATUR
Während viele Insekten versteckt leben, haben Waldameisen (mehrere Arten der Gattung Formica) eine auffälligere Lebensweise. Ihre Hügelnester sind mehr als nur ein Materialhaufen. Im Kern befindet sich oft ein Baumstumpf mit Kammern. Auch im Boden hat es Gänge mit weiteren Kammern. Der Hügel ist also nur ein Teil des Nestes. Die Form dient der Klimakontrolle. Die Ameisen platzieren die Jugendstadien je nach Saison in Kammern an jener Stelle des Nestes, wo die Temperatur für diese am geeignetsten ist. Im Wald bei Riehen gibt es viele relativ hohe Hügelnester. An sehr sonnigen und trockenen Standorten haben Waldameisennester dagegen manchmal fast keine Hügel und können sogar lediglich aus einer Mulde mit einer dünnen Materialschicht bestehen. Auch ausserhalb des Nestes sind die Ameisen als Ingenieure aktiv und unterhalten ein Strassennetz, auf dem Hindernisse wie Moos entfernt werden. Darauf transportieren sie grosse Mengen an Beutetieren und Honigtau. Eine einzelne Ameise kann das Zehnfache ihres eigenen Gewichts tragen und sogar das Neunzehnfache ziehen. In der Schweiz stehen mehrere Waldameisenarten unter Schutz. Es ist deshalb wichtig zu wissen, wie es diesen Arten geht. In einem regionalen Projekt, das sich auf Freiwillige aus der Bevölkerung abstützt, werden Waldameisennester kartiert, vermessen und ihr Zustand geprüft.4 Auch die Riehener Waldameisen wurden im Jahr 2016 vom freiwilligen Forscher Thomas Lanzewizki erfasst. Der ‹Ameisengötti› ist begeistert von seiner Aufgabe: «Ich war schon immer von den Waldameisen und ihren grossen Nesthügeln fasziniert. Tausende Ameisen rennen scheinbar ungeordnet und chaotisch durcheinander. Dennoch scheinen sie genau zu wissen, was zu tun ist. Selbst von grossen Angreifern lassen sie sich nicht einschüchtern. Diese tapferen Kerlchen haben es mir wirklich angetan.»

ÜBERRASCHENDE VIELFALT SOGAR IM SIEDLUNGSGEBIET
Obwohl direkt an Basel angrenzend und teilweise städtisch geprägt, hat Riehen doch auch viel Landwirtschaftsland und grössere zusammenhängende Waldflächen. Grosse Parkanlagen wie der Friedhof Hörnli und der Wenkenhof tragen ebenfalls zur landschaftlichen Vielfalt bei. Der Naturwert einiger Gebiete ist anerkannt und geschützt. Dort erwarten wir zu Recht einen grossen Artenreichtum. Viel weniger bewusst ist den meisten, dass auch das menschliche Siedlungsgebiet ein tierischer Lebensraum ist. Siedlungsbewohner sind oft häufig vorkommende Arten, die mit vielen verschiedenen Bedingungen zurechtkommen. Für andere Arten dienen vom Menschen geschaffene Lebensräume als Ersatz für ihre verschwundenen natürlichen Lebensräume. So besiedeln einige Arten, die einst in den Kiesbänken nicht begradigter Flüsse lebten, heute die Schottergebiete der Bahngeleise. Tatsächlich leben sogar mitten in Riehen gefährdete spezialisierte Arten, die auf der Roten Liste der Schweiz stehen. Manche allerdings vor unseren Blicken versteckt. So ist die Untergrundameise (Aphaenogaster subterranea) oberirdisch meist nur während der Nacht aktiv und wird deshalb wohl kaum von den vielen Besucherinnen und Besuchern des Sarasinparks bemerkt. Rote Listen sind wichtige Werkzeuge des Naturschutzes.5 Diese Fachgutachten zeigen, welche Arten vom Aussterben bedroht sind. Projektvorhaben müssen auf gefährdete Arten Rücksicht nehmen und deren Lebensräume schützen. Für viele kleine Tiere gibt es aber noch keine Rote Liste. Von den meisten Insekten ist leider zu wenig bekannt, um ihre Gefährdung abzuschätzen. Tiergruppen wie Ameisen mit ihren diversen Wechselwirkungen eignen sich als Indikatoren für die allgemeine Artenvielfalt. Bei einer Untersuchung der Ameisenvielfalt von Riehen und Bettingen fand ich 2014 erfreulicherweise viele Arten sogar in sehr kleinen Waldflecken und Wiesen. Eine besondere Überraschung war der Fund einer vor allem aus Südeuropa bekannten Ameisenart an zwei Standorten am Rande Riehens. Diese Art ohne deutschen Namen (Stenamma striatulum) war früher für die Schweiz nur aus dem Tessin bekannt. Wir stossen also gewissermassen direkt vor der Haustür auf eine schützenswerte Vielfalt.

UNERWÜNSCHTE VIELFALT
Während viele unserer einheimischen Insekten zurückgehen, wandern auch neue Mitbewohner ein. Durch den internationalen Handel verbreitet der Mensch meist unabsichtlich Arten. Manche Neuankömmlinge finden bei uns keine für sie geeigneten Bedingungen. Es gibt aber auch solche, die sich schnell ausbreiten und grossen Schaden anrichten. Die Bauern Riehens beispielsweise sind nicht erfreut über die aus Asien stammende Kirschessigfliege (Drosophila suzukii), die viele Früchte verdirbt. Die Rosskastanienminiermotte (Cameraria ohridella) aus dem Balkan lässt das Laub der Rosskastanien frühzeitig braun werden. Der aus Asien stammende Buchsbaumzünsler (Cydalima perspectalis) wurde 2007 erstmals in der Region nachgewiesen. Seine gefrässigen Larven fressen die Blätter und in Extremfällen sogar die Rinde des Buchsbaums. Wie andere eingewanderte Arten, hat er hierzulande kaum natürliche Feinde. Im Friedhof Hörnli wurden grosse Schäden angerichtet, aber auch private Gartenbesitzer sind betroffen.

BIENENHOTEL UND OHRWURMHAUS
Die Verstädterung nimmt weiter zu. Es ist deshalb wichtig, Siedlungen in die Naturschutzplanung einzubeziehen und für möglichst viele Tiere bewohnbar zu machen. Die zuständigen Stellen von Kanton und Gemeinde setzen sich dafür ein. So gibt es in den Riehener Parkanlagen beispielsweise selten gemähte Wiesenabschnitte, um die Artenvielfalt zu fördern. Oft steht die Pflanzenvielfalt im Vordergrund. Die fördert aber auch die Vielfalt der Insekten, die von den Pflanzen abhängig sind. Viele Gartenbesitzer und Gärtnerinnen in Riehen setzen sich gezielt für Insekten ein mit Nisthilfen oder dem Anbau von Wirtspflanzen. Sympathieträger wie die putzige, fleissige Biene haben eine grosse Lobby. Auch Nützlinge und die wunderschönen Schmetterlinge fördern einige. In den Gärten von Riehen kann man seit einigen Jahren viele Insektenhotels für Wildbienen (Apoidea) oder Ohrwürmer (Dermaptera) entdecken. Das allein genügt aber nicht: Es ist wichtig, auch an die anderen Bedürfnisse der Insekten zu denken. So brauchen Bienen genügend Blüten in der Nähe. Durch den Anbau von oft nicht besonders schönen Wirtspflanzen für die Raupen kann man Schmetterlinge fördern: Die oft unwillkommene Brennnessel zum Beispiel dient gleich mehreren Arten als Kinderkrippe, darunter so beliebten Schmetterlingen wie dem Tagpfauenauge (Inachis io), dem Kleinen Fuchs (Aglais urticae) und dem Admiral (Vanessa atalanta).

1 Vgl. Caspar A. Hallmann et al.: More than 75
percent decline over 27 years in total flying
insect biomass in protected areas, in: PLoS ONE,
12 (10): e0185809, 2017, doi.org/10.1371/journal.
pone.0185809, Zugriff: 30.06.2018.

2 Vgl. Smithsonian Institution (Hg.): BugInfo.
Numbers of Insects (Species and Individuals),
www.si.edu/spotlight/buginfo/bugnos, Zugriff:
30.06.2018.

3 Vgl. Bernhard Seifert: Die Ameisen Mittelund
Nordeuropas, Görlitz/Tauer 2007.

4 Die Arten Formica rufa (Rote Waldameise),
Formica polyctena (Kahlrückige Waldameise),
Formica pratensis (Wiesen-Waldameise), Formica
lugubris (Starkbeborstete Gebirgswaldameise),
Formica paralugubris (kein deutscher Name),
vgl. www.ameisenzeit.ch, Zugriff: 30.06.2018.

5 Vgl. Francis Cordillot, Gregor Klaus: Gefährdete
Arten in der Schweiz. Synthese Rote Listen,
Stand 2010, hg. vom Bundesamt für Umwelt,
Bern 2011.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2018

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