Geschichten aus Riehen

Inge von der Crone

Im Frühjahr 1976 schrieb die Redaktion des Riehener Jahrbuches einen Kurzgeschichten-Wettbewerb aus mit dem Zweck, literarische Talente zu fördern und neue, noch unveröffentlichte Geschichten zu finden, die in irgend einer Weise mit Riehen verbunden sind.

Wir freuen uns, heute das Resultat dieses Wettbewerbs bekanntgeben zu können. Als Gewinner des 1. Preises von Fr. 200.— bestimmte die Jury einstimmig Herrn Otto Laurin, Thalwil, für seine Erzählung «Der Gross Elmer». Weitere Preisträger sind: Inge von der Grone, Riehen (Das Bild); Fritz Weissenberger, Bramhall, England (Der falsche Blickwinkel); Hans Rageth, Riehen (Riehener Originale). Alle diese Erzählungen werden im Riehener Jahrbuch veröffentlicht.

Aus Platzgründen ist es uns leider nicht möglich, die erstprämierte, ziemlich umfangreiche Erzählung von Otto Laurin bereits in diesem Buch abzudrucken; sie wird aber im Jahrbuch 1977 erscheinen. Wir beginnen deshalb den Abdruck der Wettbewerbsarbeiten mit der Erzählung « Das Bild» von Inge von der Crone.

Das Bild von Inge von der Crone Wenn man von der Basler Pfalz über den Rhein und die Dächer und Giebel des Kleinbasels hinweg nach Norden schaut, so erblickt man am Horizont den Tüllinger-Hügel und St. Chrischona. Am Fusse dieser beiden Anhöhen liegt, in einer breiten Mulde eingebettet, das wohlhabende Dorf Riehen. Heute beleben keine Kühe mehr das Dorfbild, nur der Verkehr braust lärmig durch die enge Hauptstrasse. Das geruhsame Landleben ist vom geschäftigen Treiben verdrängt worden. Man findet in Riehen mehr Villen als Bauernhäuser, und nur vereinzelte Höfe erinnern uns daran, dass es früher ein schlichtes Bauerndorf war. Und kaum einer entsinnt sich der Geschichte, die sich hier vor vielen, vielen Jahren zugetragen hat.

In Riehen lebte einmal ein Bauer, der besass den grössten Hof im ganzen Dorf. Von wohlbestellten Feldern umgeben lag das behäbige Bauernhaus im Schatten uralter Bäume. Unter diesen sass der Grossbauer gerne abends, nachdem er seinTagewerk beendet hatte. Voll Stolz dankte er dem Lieben Gott, dass er ihm nicht nur den prächtigen Hof, sondern überdies zehn muntere, gesunde Kinder geschenkt hatte.

In letzter Zeit plagten ihn jedoch die Sorgen. Seine liebe Frau, die schon lange ein wenig kränklich war, fühlte sich seit der Geburt der jüngsten Tochter noch schwächer. Sie lag fast den ganzen Tag auf dem Sofa in der Stube und mochte kaum aufstehen.

«Komm hinaus an die Sonne!» pflegte der Bauer sie aufzufordern.

«Ach, guter Mann, ich mag nicht», wehrte sie ab. «Ich schau das Bild an, dann spüre ich den Sonnenschein.» Dabei zeigte sie auf das Bild, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Vor langer Zeit war es von einem Urahn gemalt worden. Es stellte den Hof dar, wie er inmitten seiner Felder und Weiden im strahlenden Sonnenglanz dalag.

«Wenn ich hier liege und das Bild betrachte», fuhr die Frau leise fort, «glaube ich, ich könne dich da draussen arbeiten sehen. Und manchmal meine ich sogar, die Stalltür ginge auf und unser ältester komme heraus.»

«Oh», lachte da der Bauer. «Was hast du für wunderliche Gedanken. Mir wäre viel lieber, du würdest bald gesund und könntest wirklich mit mir draussen sein.»

Nach ein paar Monaten war die Frau noch schwächer geworden. Je mehr die Krankheit sie ans Bett fesselte, um so stiller und schweigsamer wurde der Mann. Eines Tages als er von der Feldarbeit nach Hause kam, war sie für immer entschlafen. Den Bauern überfiel eine grosse Traurigkeit, denn er hatte seine Frau über alle Massen geliebt. Als er in seinen Schmerz versunken dastand, streckte das Jüngste den Kopf zur Tür herein. Böse fuhr er es an: «Mach dass du hinaus kommst und komm mir nicht so schnell wieder unter die Augen! Denn indem sie dir das Leben gab, ist das Leben aus ihr entwichen.» «Ach», stöhnte er. «Meine liebe, gute Frau, warum hast du uns verlassen?»

Nun änderte sich das Leben auf dem grossen Hof. Es gab keine gemütlichen Stunden unter den alten Bäumen mehr. Der Bauer, der früher so gerne mit den Knechten und Mägden gescherzt hatte, wurde im mer mürrischer und wortkarger. Auch mit seinen Kindern war er unwirsch und richtete kaum ein Wort an sie. Jedermann ging ihm aus dem Weg, besonders aber das Jüngste. Denn kaum erblickte er es, so drohte der Bauer ihm mit der Faust und schlug zu, wenn er es erwischte. Wusste es sich allein zuhause, so schlich es heimlich in die Stube, setzte sich aufs Sofa und weinte bitterlich.

«Mutter, liebe Mutter», jammerte das Kind. «Warum bist du fortgegangen? Ach, wenn ich doch nur zu dir kommen könnte!» Tränenüberströmt schaute es auf das Bild, das die Mutter so gerne betrachtet hatte. Doch, was war das? Stand da nicht die Mutter hinter dem Fenster und winkte ihm zu? Schnell trat das Mädchen ganz nahe an das Bild heran, um besser zu sehen. Es achtete nicht auf die Schritte im Flur. Der Vater polterte herein.

«Raus mit dir, du ...», schrie er, die Faust erhoben. Das Mädchen war viel zu aufgeregt, um zu gehorchen.

«Da», rief es. «Da, auf dem Bild, oh Vater, so schau doch!»

«Was soll mit dem Bild los sein?» Widerwillig sah er hin und hielt mitten im Satz inne. Auf dem Bild war der Sonnenschein verschwunden. Aus dem Fenster blickte vorwurfsvoll seine Frau. Hoffnungsvoll wandte seine Jüngste sich ihm zu, aber im nächsten Augenblick brüllte der Bauer noch lauter als sonst: «Raus mit dir! Raus sage ich! Du bist schuld an meinem Unglück, wie oft muss ich das noch wiederholen?»

Eingeschüchtert verliess das Kind das Zimmer. Aber nur solange der Vater drinnen war. Kaum hatte er sich auf die Felder begeben, so schlüpfte es schnell wieder hinein, rief die Mutter und klagte ihr seinen Kummer.

Mochte der Grossbauer nun toben und schreien so viel er wollte, die Kleine überhörte es. Wie im Traum ging das Kind umher und sah alle Leute mit fieberglänzenden Augen an. Es ass kaum mehr. Dass die Mutter im Fenster auf dem Bild erscheine, glaubte ihm niemand.

«Du bist krank!» stellten die Geschwister fest und waren besonders lieb zu ihm. Aber eines Tages im Herbst rief die Jüngste alle in die Stube, um ihnen das Bild zu zeigen. Die saftig grünen Matten hatten ihre Farbe verloren, das leuchtend gelbe Kornfeld war einem Stoppelfeld gewichen, das Laub der Bäume prangte in wundervollen Herbstfarben. Gebannt starrten sie alle auf das Bild, als der Vater eintrat. Verbittert schaute er auf seine Kinderschar, dann stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht. Wutentbrannt schüttelte er seine jüngste Tochter.

«Reicht es noch nicht, dass die Mutter gestorben ist und du dahinsiechst? Willst du mir auch noch die anderen nehmen?» rief er ausser sich.

«Mutter, Mutter, hilf mir!» Schreiend stürzte sich das verängstigte Kind auf das Bild. Totenstill schauten die Geschwister und der Vater zu, wie sich auf dem Bild die Tür öffnete. Traurig sah die Mutter von einem zum andern, fasste ihre Jüngste, die immer kleiner und winziger wurde, bei der Hand, dann schloss sich die Tür wieder und beide waren verschwunden. Entsetzt beobachteten die Kinder den Vater, der sich aufschluchzend abwandte.

«Was hab ich getan! Oh, was hab ich getan!» murmelte er immer und immer wieder Die Geschwister wagten sich kaum zu rühren und flüsterten aufgeregt miteinander. Noch immer konnten sie nicht begreifen, was da geschehen war. Scheu schauten sie zum Bild hin.

Und wieder änderte sich das Leben auf dem Bauernhof. Der Grossbauer wurde noch wortkarger. Aber wenn er jetzt sprach, so klangen seine Worte nicht mehr böse, nur unsäglich traurig. Wenn seine Kinder um den Tisch versammelt waren, so spürten sie seinen liebevollen Blick auf ihnen ruhen. Selten jedoch redete er sie an. Abends schloss er sich in der Stube ein, und niemand wagte es, ihn zu stören. Oft hörten sie ihn sprechen, doch keines fand den Mut, ihn zu fragen, mit wem er sich unterhalte.

Der Herbst ging vorbei, der Winter brach an. Als eines morgens der erste Schnee die Erde bedeckte, war auch das Haus auf dem Bild eingeschneit.Weihnachten rückte näher und der Bauer forderte seine Kinder auf, ein besonders schönes Fest vorzubereiten. Er selbst fällte die prächtigste Tanne im Wald und suchte mit viel Liebe ein hübsches Geschenk für jeden aus. Allmählich verschwand die Trauer, die über dem Haus lastete und verwandelte sich in eine stille Freude.

Am Weihnachtsabend, als die Kinderschar, Knechte und Mägde in der von Kerzen erhellten Stube vereint waren, wandte sich der Bauer dem Bild zu und fragte : «Hab' ich es nun recht gemacht?» Im selben Moment öffnete sich die Haustür, seine Jüngste sprang heraus, eilte den Weg entlang, trat aus dem Bild heraus und warf sich dem Vater in die weitgeöffneten Arme.

«Vater, lieber Vater!» jubelte das Mädchen. Der drückte es zärtlich an sich. Die Geschwister umdrängten die beiden und wussten kaum, worüber sie sich mehr freuen sollten; ob über den Lichterbaum oder die Rückkehr ihrer Schwester.

Im Frühjahr schmolz der Schnee, auch auf dem Bild. Die Kirschbäume blühten, dann zog der Sommer ins Land. Das Bild sah jetzt wieder aus wie die vielen, vielen Jahren zuvor, genau so wie der Urahn es gemalt hatte. Und so blieb es auch bis auf den heutigen Tag.

Das Bild hat sich nicht mehr verändert, aber Riehen ist inzwischen anders geworden. Den Bauernhof findet man nicht mehr, und kaum einer entsinnt sich der Geschichte, die sich hier vor vielen, vielen Jahren zugetragen hat.

Wir möchten allen Teilnehmern am Kurzgeschichten-Wettbewerb recht herzlich danken, vor allem auch den «Heimweh-Riehenern», die sich in recht grosser Zahl beteiligten. Wenn der eine oder andere Leser sich ermuntert fühlt, nun selbst zur Feder zu greifen und eine erfundene oder erlebte Riehener Geschichte aufzuschreiben, so ist der Zweck dieses Wettbewerbes vollauf erfüllt. Die Redaktion 67

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1976

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