Gestutzte Hecken und hohe Toleranz


Michèle Faller

 

Ohne die Wohngenossenschaften wäre das Niederholzquartier nicht das, was es ist. Zwei Paare sprechen über den Alltag zwischen Fussballverbot und Kinderparadies, Gartenarbeit und Generalversammlung.


 

 

 

Im Niederholzquartier wohnt man. Aber erst seit rund einem Jahrhundert. In den 1920er-Jahren wurde Riehens Viertel mit der heute höchsten Bevölkerungsdichte allmählich zur Wohngegend – dank den Wohngenossenschaften. Die erste war die ‹Heimstätte-Genossenschaft Niederholz›, deren 46 Häuser entlang der Schäferstrasse und der Römerfeldstrasse 1922 bezogen wurden. Bereits 1933 wurde die Genossenschaft aber aufgelöst und die Häuser gingen in den Besitz der Bewohnerinnen und Bewohner über.1


 

Seinen Höhepunkt hatte das genossenschaftliche Bauen zwischen 1943 und 1950. Im Niederholzquartier entstanden damals über sechshundert neue Genossenschaftswohnungen.2 10 der heute noch existierenden 16 Wohngenossenschaften stammen aus dieser Zeit, etwa ‹Niederholz› und ‹Rieba› von 1945 oder ‹Hirshalm› von 1948. Bereits seit 1944 gibt es die ‹Bau- und Wohngenossenschaft im Landauer›. Diese hat ihren Sitz aber seit 1950 nicht mehr im Niederholz, sondern in Basel.3


 

Weitblick bewies die 1973 gegründete ‹Wohnstadt Bau- und Verwaltungsgenossenschaft› mit der 1994 gebauten Siedlung ‹Niederholzboden›. Die Niedrigenergie-Siedlung kombiniert 4 Reiheneinfamilienhäuser und 30 Mietwohnungen mit 11 rollstuhlgängigen Wohnungen des Vereins ‹Wohnen für Körperbehinderte›.4 1995 verwirklichte die ‹Wohngenossenschaft Rieba› mit 12 neuen Zweizimmerwohnungen eine moderne Form von ‹Stöckli›-Wohnungen für ältere und alleinstehende Menschen und 2013 kamen 14 Einfamilienhäuser auf einem neu hinzugekauften Landstück dazu. Seit dem 1. Juli 2014 wird das genossenschaftliche Bauen auch offiziell wieder gefördert laut baselstädtischem Wohnraumfördergesetz.


 

Heute gibt es im Niederholz 16 Bau- und Wohngenossenschaften mit rund neunhundert Wohneinheiten. Fast 30 Prozent der Wohnungen im Quartier sind Genossenschaftswohnungen, das ist im Verhältnis beinahe dreimal mehr als im gesamten Kantonsgebiet.5 Und die Zahl steigt: Der ‹Wohnbau Genossenschaftsverband Nordwest› errichtet momentan 98 Wohnungen am Kohlistieg und Rüchligweg, während die ‹Bau- und Wohngenossenschaft Höflirain› im geplanten Zentrum Niederholz auf Ende 2018 24 Wohnungen bauen wird.


 

So unterschiedlich wie Standorte, Grundrisse und Entstehungsgeschichte sind auch die Strategien der Genossenschaften: Das Spektrum reicht von bedächtig bis innovativ. Dabei geht es nicht nur um Neubauten, sondern auch um Anbauten bis hin zu Hausordnungen und Statuten. Ihr Charakter wird massgeblich von den Genossenschafterinnen und Genossenschaftern geprägt. Um dem Leben im Mikrokosmos ‹Wohngenossenschaft› auf die Spur zu kommen, gehen wir etwas näher an die Häuschen und Gärten ran und lassen eine alteingesessene und eine neu zugezogene Familie erzählen. Beide sind in der während des Booms gegründeten Wohngenossenschaft ‹Rainallee› von 1945 mit ihren 40 Einfamilienhäusern mehrheitlich auf der einen und den 2 Mehrfamilienhäusern auf der anderen Strassenseite zu Hause.


 

 

 

«Man ist nicht allein in einer Genossenschaft» – Verena und Rolf Burkhard


 

Das Häuschen ist über einen kleinen Weg parallel zur Rainallee zu erreichen. «Hier wohnen Burkhards», bestätigen die aufmerksamen Nachbarinnen, die in der Nähe plaudern. Noch während der Suche nach der Klingel, die wegen eines Umbaus fehlt, öffnet Rolf Burkhard die Tür und bittet in die elegante Stube. «Ich kenne fast nichts anderes», antwortet er auf die Frage, wodurch sich das Leben in einer Wohngenossenschaft auszeichne. Nur drei Jahre habe er in Bottmingen in einem Mehrfamilienhaus gewohnt, ansonsten immer hier im kleinen Haus mit dem grossen Garten an der Rainallee, in dem er aufgewachsen ist und das ihm seine Eltern vor 23 Jahren überliessen. «In einer Genossenschaft ist man Mitbesitzer des Ganzen. Man trägt etwas bei, hilft mit und kommt nicht abends in der Meinung nach Hause, dass schon alles getan sei.»


 

«Für mich war das völlig neu», erzählt seine Frau Verena, die nun auch am Tisch sitzt. Sie ist im Berner Oberland in einem grossen Bauernhaus aufgewachsen. So nah aufeinander zu wohnen – daran habe sie sich erst gewöhnen müssen. «Doch der Ort ist schön, für die Kinder ist es toll und insgesamt fühle ich mich wohl – das hat auch mit Toleranz zu tun.» Sie habe zwei Jahre in einem Kibbuz in Israel gelebt, das sei gar nicht so unähnlich, nicht nur wegen den kleinen Häuschen: «Alle bestimmen Gemeinsames mit, das ist das Gute. Wie hier in der Genossenschaft.»


 

Natürlich sei die Toleranz nicht immer gleich hoch, sagt ihr Mann. Von Laut und Leise hätten nicht alle dieselbe Vorstellung und beim Unkrautjäten oder Heckenschneiden gebe es schon mal Unstimmigkeiten. «Man schaut aufeinander. Aber man schaut auch immer, was die anderen machen.» Die beiden blicken einander an, lachen und sie stellt klar: «Man ist nicht allein in einer Genossenschaft!»


 

Der Maschinenbautechniker und die gelernte Kleinkindererzieherin, die auch Tageskinder betreut und Mittagstische organisiert hat, haben drei Töchter zwischen 20 und 27 Jahren. Die jüngste, Marilyn, wohnt noch bei den Eltern, die älteste, Géraldine, ebenfalls in der Rainallee, die 24-jährige Joséphine in einer anderen Genossenschaft im Quartier. Wie schon sein Vater vor ihm engagiert sich Rolf Burkhard im Vorstand der Wohngenossenschaft. Seit neun Jahren, im siebten als Präsident. Ein junger Präsident, denkt man unwillkürlich. Einer, der so gar nichts mit dem altehrwürdigen Herrn gemein hat, den man sich als Oberhaupt einer Wohngenossenschaft vorstellt. Das ist natürlich ein Klischee, doch Verena Burkhard bestätigt, dass viele Leute erstaunt seien, wenn sie ihnen tagsüber am Telefon mitteile, dass ihr Mann arbeite und erst abends zu Hause sei.


 

 

 

Von der Nutz- zur Streicheltierhaltung


 

Als die junge Familie Burkhard an der Rainallee einzog, beherrschten die älteren Herren den Vorstand. Am Sonntag Wäscheaufhängen war tabu, ebenso Kinderspiel im Garten zwischen 12 und 14 Uhr und sonntägliche Spielplatzgänge – oder eine Mutter, die rauchte. Als Rolf Burkhard noch ein Kind war, verbot die Hausordnung sogar das Fussballspiel. Heute hätten auch mehr Leute Haustiere wie Katzen, Hunde oder Hasen, sagt Verena Burkhard. «Ganz früher hielt man zwar auch Kleintiere, aber aus einem anderen Grund», ergänzt er. Die Hasenställe im Garten seien zwischenzeitlich verboten worden und sind seit neuerer Zeit als ‹Streichelzoo› wieder erlaubt. Schmunzelnd berichtet er, wie jemand, der beim Vorbeigehen die grossen Hasen im Garten sah, einen der Lieblinge seiner Töchter als Weihnachtsbraten vorbestellen wollte.


 

Verändert habe sich auch das Profil der Bewohnerinnen und Bewohner: «Als wir einzogen, musste man verheiratet sein und entweder Kinder haben oder sichtbar schwanger sein», erinnert sich Verena Burkhard. Heute gebe es auch Alleinerziehende oder Unverheiratete. Solche Veränderungen würden mit dem Gesellschaftswandel zusammenhängen, meint ihr Mann, aber es stehe und falle auch mit dem Vorstand, ist sie überzeugt. Was innovativ klingt, aber schon früher so war: «Wenn die Kinder ausziehen oder der Partner stirbt oder sich trennt, muss man nicht gehen», erklärt der Präsident.


 

Das bestätigt Gotti Burkhard, der Vater des heutigen Präsidenten, der 1965 mit seiner Frau Sonja und dem ersten Sohn das Haus an der Rainallee bezog und knapp zwanzig Jahre später für neun Jahre als Präsident amtete. «Es herrschte noch mehr Zucht und Ordnung damals», berichtet er. Man durfte nicht ‹schutte› und den Spielplatz bei den Mehrfamilienhäusern habe er den Bewohnern, hauptsächlich älteren Herrschaften, mit vielen Versprechen abgerungen. Der Vorstand habe kontrolliert, ob die Hecke geschnitten war, und man sei mit allen per ‹Sie› gewesen. «Es ist gut, dass alles ein bisschen lockerer geworden ist», sagt er nun nachdenklich, doch Rücksichtnahme und eine gewisse Ordnung fehlten ihm heute. «Wir vom Vorstand maulten ab und zu: ‹Verräumen Sie doch die Sachen!› Und halfen dann, den Rasenmäher in den Keller zu tragen.»


 

 

 

Zucht, Ordnung und Hausbesuche


 

Die Generalversammlungen seien heute allerdings gesitteter, stellt der ehemalige Präsident fest, der immer noch Genossenschafter ist. Früher habe es Leute gegeben, die sich wegen der damit verbundenen Mietzinserhöhung bei jeder Investition querstellten. Auch die Zentralheizung sei nur gegen grossen Widerstand durchgekommen. Damals hätten sie ein ganzes Buch mit Anmeldungen gehabt, erinnert sich Gotti Burkhard weiter. «Wir besuchten alle zu Hause – um zu schauen, ob sie Sorge zur Wohnung trugen.» Ansonsten sei der soziale Gedanke wichtig gewesen. «Es musste schon ein ‹Biezer› oder ein Angestellter sein.» Entsprechend stellten die Anteilscheine oft eine Hürde dar. «Auch für uns – mir hat das Geld damals eine Verwandte vorgestreckt. Abstottern war aber auch möglich.»


 

Das gehe immer noch, sagt sein Sohn. Wählerisch seien heute allerdings eher die Interessenten als die Vorstandsmitglieder. «Viele sind erstaunt, wenn sie die Grösse der Häuser sehen. Es sagte schon jemand ab, weil er seine Möbel nicht hätte stellen können. Das Problem, dass ein Firmendirektor hier einziehen möchte, stellt sich also nicht.»


 

Könnten die Burkhards woanders als in einer Genossenschaft leben? «Ich könnte überall wohnen», sagt Verena Burkhard ohne zu zögern, «es muss auch nicht Basel sein.» Auch ihrem Mann ist etwas anderes wichtiger: «Ich könnte mir vorstellen, in ein paar Jahren das Häuschen zu verlassen und den Jungen Platz zu machen.» Nun blicken plötzlich beide ernst. Und erzählen vom Zusammenhalt, dem jährlichen Strassenfest und vom Adventsapéro. Einig sind sie sich darin, dass die Genossenschaften kinderfreundlich bleiben sollten und man keine Luxuswohnungen daraus machen sollte. Kopfschüttelnd erzählen sie von einer Studie zum Thema ‹Verdichtetes Bauen›, die für die ‹Genossenschaft Rainallee› erstellt wurde. «Der Bauunternehmer sagte, es sei am besten, hier alles abzureissen», berichtet Rolf Burkhard. «Dabei ist das doch ein Stück Kultur, das zu Riehen gehört.»


 

 

 

«Man hilft einander und ist gut vernetzt» – Barbara und Patrick Gschwind


 

Über die Strasse geht es zu den Mehrfamilienhäusern. Im Vorgarten spielt eine Mutter mit ihrem Sohn. Auf die Frage, wo Gschwinds wohnen, lacht die Nachbarin entschuldigend: «Ich weiss doch nicht, wie die Leute mit Nachnamen heissen!» Die Tür im oberen Stock geht auf und da stehen sie. Nach der Begrüssung geht es an Wänden mit Kinderzeichnungen vorbei in die gemütliche Küche mit Blick in die Gärten. Seit knapp anderthalb Jahren wohnen Barbara und Patrick Gschwind mit ihren Töchtern, der 7-jährigen Gini und der 4-jährigen Ciara, an der Rainallee. Barbara Gschwind, die beruflich immer mit dem Velo in der Gegend unterwegs ist, hatte schon seit einer Weile gesehen, dass die Wohnung leer stand, und so bewarben sie sich.


 

«Ich wohnte früher im Hirzbrunnen und ging im Niederholz in die Realschule», sagt die junge Frau. «Mir hat Riehen immer gefallen. Dir ja nicht so.» Ihr Mann lächelt verlegen: Ja, er habe immer gedacht, da gebe es nur alte Leute. Trotzdem musste sie ihm nicht lange zureden. Die Wohnung mit dem separaten Bastelraum, den er als Büro nutzt, hat ihn überzeugt. Der Motion Designer, der computergenerierte Werbespots produziert, kreiert in seiner Freizeit seit vier Jahren jeden Tag – oder vielmehr jede Nacht – ein Computerbild oder eine Skulptur. Auch seine Frau, die gelernte Gärtnerin, die bei der Spitex arbeitet, pflegt mit der Fotografie ein kreatives Hobby, das sie gerne zum beruflichen Standbein ausbauen würde. Aber im Moment winkt sie noch ab. «Vielleicht, wenn die Kinder etwas grösser sind.»


 

Diese seien der eigentliche Grund für den Umzug gewesen, sagt der Vater, wegen der nahegelegenen Schule. Und weil sie hier alleine draussen spielen könnten, ergänzt seine Frau. «‹Wir gehen auf die Schaukel!›, heisst es jetzt», erzählt sie belustigt. Nicht nur die Töchter hätten die neuen Freiheiten erst entdecken müssen. «Auch ich musste lernen, loszulassen, als meine Verrenkungen nicht mehr ausreichten, um die Mädchen durchs Fenster im Auge zu behalten.»


 

 

 

Ferienstimmung im ‹Dörfli›


 

Das Leben in der Wohngenossenschaft ist für Barbara Gschwind nichts Neues. Sie ist in einer aufgewachsen, in derselben Wohnung an der Paracelsusstrasse wie ihr Vater vor ihr. Patrick Gschwind hingegen ist in Rodersdorf grossgeworden. «Da hat es sowieso fast nur Einfami-lienhäuser. Schon Wohnungen sind ungewohnt!» Über den neuen Wohnort sind die beiden des Lobes voll. «Wir geniessen die Ruhe sehr», sagt sie. Und auch er, immer noch staunend: «Zuerst dachten wir: Das kann nicht sein. Wir sind in den Ferien!» Nicht, dass sie der Lärm vorher gestört hätte – sie wohnten in Basel beim Wettsteinplatz –, aber die Ruhe falle einfach auf. Ausserdem sei die Miete nicht hoch und sie hätten nun weniger Nachbarn im Haus, die sie aber alle kennen würden. «Man hilft einander, arbeitet zusammen im Garten, schneidet die Hecken», berichten die beiden. Und man sei gut vernetzt – die Tochter besuche zum Beispiel die Spielgruppe der Nachbarin. Die Anonymität des früheren Wohnorts vermisse sie eigentlich nur, wenn sie ‹Mais› mit den Kindern habe, gesteht die Mutter stirnrunzelnd.


 

Die erste Generalversammlung sei für ihn komisch gewesen, sagt Patrick Gschwind. Seine Frau kannte das von früher und auch von der Fasnachtsclique. «Für mich war alles sehr neu», stellt er fest. Sie ergänzt schmunzelnd: «Das ‹Dörfli› im ‹Dörfli›!» Nun muss er zugeben, auf gewisse Weise doch wieder im Dorf angekommen zu sein. Obwohl er früher statt wie die Kollegen für ein ‹Töffli› für einen ‹Töff› sparte, um schneller in der Stadt zu sein. Sie sind sich jedenfalls einig, dass Riehen ein guter Mix zwischen Stadt und Land sei.


 

«Und nun dürfen wir bald in ein Häuschen umziehen», strahlt sie plötzlich, und er stellt lächelnd und beinahe überrascht fest: «Jetzt sind wir dort angekommen, wo wir hinwollten.» Nach diesem Umzug innerhalb der Genossenschaft sei das Zügeln für die nächsten zwanzig bis dreissig Jahre dann wohl kein Thema mehr. Für beide ist die Wohngenossenschaft an sich keine Voraussetzung des Wohnglücks, doch hier an der Rainallee fühlen sie sich wohl. Und er ergänzt: «Ich fühle mich dort wohl, wo meine Familie ist.»


 

1 Gerhard Kaufmann: Die Heimstätte-Genossenschaft Niederholz 1921–1933, in: Jahrbuch z’Rieche 1980, S. 94.


 

2 Peter Würmli: Wohngenossenschaften in der Region Basel von den Anfängen bis 1994, Basel 1994, S. 29.


 

3 Arlette Schnyder et al. (Hg.): Riehen – ein Portrait, Basel 2010, S. 28.


 

4 Guido Köhler: Als Minergie noch ein Fremdwort war, in: Regionalverband Wohnbaugenossenschaften Nordwestschweiz (Hg.): Wohngenossenschaften der Region Basel 1992–2012, Basel 2012, S. 45.


 

5 Eric Ohnemus: Fusion als Zukunftsperspektive? Unveröffentlichte Bachelor Thesis an der   Hochschule für Wirtschaft FHNW, Basel 2013, S. 18.


 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2016

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