Grenzgängerin zwischen Erinnerung und wahrer Fiktion

Michèle Faller

Gabrielle Alioth wurde mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen 2019 geehrt. Die Autorin ist in Irland zu Hause, kehrt aber schreibend immer wieder in ihre Heimat Riehen zurück.

Sie kommt von Irland, ist unterwegs nach Salzburg und macht in Zürich halt. Sie hat bereits zehn Romane veröffentlicht, der elfte ist in Arbeit, aber auch Reiseführer, Kinderbücher, Theaterstücke und einen Lyrikband auf Englisch. Sie war auf Lesereise in Kanada oder im Iran und ‹Writer in Residence› an der University of Southern California in Los Angeles. Und nun strahlt sie mit der Sommersonne, die durchs Caféfenster scheint, um die Wette. Der Grund ist ein Preis, der aus Riehen kommt.

EIN PREIS, DER VOM HIMMEL FÄLLT
«Das ist ein sehr spezieller Preis für mich», sagt Gabrielle Alioth, Kulturpreisträgerin der Gemeinde Riehen für das Jahr 2019. Zum einen, da man sich nicht – wie sonst oft im literarischen Bereich – darum bewerbe. «Er fällt ein bisschen vom Himmel.» Verstärkt habe den totalen Überraschungseffekt die Corona-Situation. Seit drei Monaten sass sie quasi in ihrem Haus in Irland fest und als sie gerade am Unkrautjäten war, klingelte das Telefon. Sie nahm den Anruf an, das dreckige Schäufelchen noch in der Hand, und erhielt die gute Nachricht von Herbert Matthys, dem Präsidenten der Jury für den Kulturpreis. Doch besonders schätzt die Geehrte an der schönen Überraschung, dass die Auszeichnung aus Riehen kommt. «Dort anerkannt und wahrgenommen zu werden, wo man herkommt, ist etwas sehr Spezielles.» Gabrielle Alioth wurde 1955 in Basel geboren, wuchs im Niederholzquartier in Riehen auf und wurde bereits 1991 für ihren ersten Roman ‹Der Narr› mit dem Mara- Cassens-Preis ausgezeichnet. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Basel und Salzburg zog sie 1984 nach Irland, wo sie als Journalistin und Übersetzerin tätig war und seit 1990 als freie Schriftstellerin arbeitet. Seit zehn Jahren lebt sie in Termonfeckin nördlich von Dublin, unterrichtet aber auch im Institut Design & Kunst der Hochschule Luzern und gibt Schreibkurse am Literaturhaus Basel und der Volkshochschule beider Basel. Ausserdem war sie von 2017 bis 2020 Mitglied der Programmkommission der Solothurner Literaturtage. Ende Juni 2020 wurde sie mit dem mit 15 000 Franken dotierten Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. Die feierliche Preisverleihung ist pandemiebedingt auf den Herbst verschoben. «Gabrielle Alioth zeichnet sich durch ein reiches Schaffen in sehr unterschiedlichen Bereichen innerhalb der Literatur aus und hat auch über die Region hinaus Bedeutung erlangt», sagt Herbert Matthys, Präsident der Jury für den Kulturpreis Riehen. Ausserdem habe sie einen ganz besonderen Schreibstil, der die reale und die persönlich wahrgenommene Welt miteinander verflechte. Alioth erhalte die Auszeichnung für ihre bemerkenswerten kulturellen Leistungen insgesamt, was angesichts des bisherigen Werkes der Autorin naheliegt. Voller Freude berichtet die freundliche Frau mit dem aufmerksamen Blick von Lesereisen, Gastreferaten und Schreibaufenthalten an verschiedenen Orten in Europa und der ganzen Welt sowie ihrer Wahlheimat Irland – und von der Arena Literaturinitiative in Riehen, wo sie immer wieder lesen und mit dem Publikum diskutieren durfte. Sie betont die Wichtigkeit von Riehen als Heimat für sich als Person und als Schriftstellerin – was im Prinzip ein und dasselbe ist. In Riehen habe sie schliesslich die ersten 24 Jahre ihres Lebens verbracht, wenn auch als «Randriehenerin». Als sie ihren späteren Mann kennenlernte, habe sie Einblick in den Basler ‹Daig› erhalten und sei immer mal wieder gefragt worden, woher sie komme. «Oh, aus Riehen!», war dann die entzückte Reaktion. «Sie dachten wohl eher an die Umgebung des Wenkenhofs als an den Bluttrainweg.» Alioth schmunzelt und lässt doch keinen Zweifel darüber aufkommen, wie wichtig das Zuhause in Riehen für die ganze Familie war. Das Einfamilienhäuschen konnte ihr Vater, Buchhalter bei der Firma Geigy, dank des Engagements des Unternehmens für seine Angestellten kaufen und es sei stets eine grosse Sache geblieben. Während die älteren Schwestern noch an der Vogesenstrasse in Basel aufwuchsen, hatte das Nesthäkchen den Luxus eines eigenen Gartens. Ihre Kindheit am Bluttrainweg schilderte Gabrielle Alioth bereits im ‹Jahrbuch z’Rieche 2016›, wobei sie den Wohnort der Vergangenheit rundheraus als Paradies bezeichnete. Natürlich mit Vorbehalten, die jedem Paradies aus Kindertagen innewohnen und mit der gefährlichen Kiesgrube und unheilvollen Geburtstagsfesten zusammenhängen. «Mit 20 wollte ich dann Riehenerin werden», berichtet die heute 65-Jährige, die von ihren Schaffhauser Eltern das Zürcher Bürgerrecht geerbt hatte. Sie war die einzige der Familie, die das wollte, und sie bekam es auch. «Ich dachte, Riehen hat auf mich gewartet», erinnert sich Alioth amüsiert. Mit jugendlichem Selbstbewusstsein sei sie gänzlich unvorbereitet beim Einbürgerungsgespräch erschienen. «Ich hatte politisch null Ahnung und auf keine der Fragen eine Antwort, doch der Bürgerrat drückte ein Auge zu. Ich wurde also Riehenerin und fand es sehr toll.» Wenigstens für ein paar Jahre, bis sie einen Basler heiratete und Baslerin wurde.

SUCHE NACH DEM FREMDEN
Nach Irland kam Gabrielle Alioth eher zufällig. «Es hat sich ergeben», erklärt sie. Geplant war damals ein zweijähriger Auslandaufenthalt. Sie und ihr Mann hatten sich für Irland entschieden, da es sich von allen europäischen Ländern am meisten von der Schweiz unterschied. «Die Erfahrung war zu 100 Prozent positiv», stellt sie aufgeräumt fest. «Es war leicht, schön und ich habe viel gelernt. Über das Land, aber noch mehr über mich selber. » Insbesondere darüber, was man als selbstverständlich betrachte – etwa ein Bus, der pünktlich fahre. Diese positive Konfrontation mit dem Fremden habe sie dazu ermuntert, weiterzugehen. Der nächste Sprung waren die drei Monate Los Angeles 1997, wo sie mit 42 Jahren zum ersten Mal allein lebte. Noch heute schüttelt sie darüber ungläubig den Kopf und fasst die guten Erfahrungen zusammen: «Woanders kann man sich neu definieren. Da weiss niemand, wo man herkommt, wo der Bluttrainweg ist, dass die Kiesgrube grad nebenan lag und dass man die Frau von Alioth ist.» Als die Ehe auseinanderging, reiste sie noch mehr, wollte aber nicht für den Rest ihres Lebens in einer Wohnung in Zürich leben, die vor allem als Stützpunkt diente. Da tauchte Irland wieder auf und dank der Baukrise im Herbst 2010 konnte sie sich dort ein Haus kaufen. Ihr Partner und der Job sind aber in der Schweiz. Besonders geniesse sie ihre Arbeit an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Sie habe selber keine Kinder und empfinde es als riesige Bereicherung, sich mit jungen Leuten auseinanderzusetzen. Das journalistische Schreiben möge sie auch sehr, weil man da immer wieder Leute kennenlerne, die man sonst nicht kennenlernen würde. Gabrielle Alioth ist also weiterhin unterwegs, stellt aber klar: «Natürlich begreift man anderswo besser, wer man selber ist. Man ist aber immer noch das, was man meint, dass es andere in einem sehen.» Doch was, wenn man allein sei, wenn der Empfänger und damit der Spiegel wegfalle? Sie hält kurz inne und lächelt dann beinahe entschuldigend. «Ich habe keine Antwort darauf!» Ansonsten hält die Autorin massenhaft Antworten bereit, auch auf noch unausgesprochene Fragen. Auf der Website von Gabrielle Alioth blickt man als erstes auf eine Passage aus ‹Der Narr›, in der es darum geht, wie sich Geschichten beim Erzählen immer wieder verändern: «Nicht das, was wahr ist und richtig, überdauert die Zeit, sondern das, was sich in unserer Erinnerung eingeprägt hat von unseren Träumen und Wünschen und von dem, was geschah.» Erst eine ganze Weile nachdem die Autorin die Zeilen geschrieben hatte, sei ihr bewusst geworden, dass es ihr genau darum gehe: Man erklärt sich die Gegenwart, indem man die Vergangenheit neu interpretiert. Deshalb ihre Vorliebe für das, was unter dem Genre ‹historischer Roman› läuft. Es gehe nicht wirklich darum, die historische Zeit zu beschreiben, auch wenn die Kleider und die ganze Ästhetik des Mittelalters toll seien. «Es ist nicht so wichtig, ob die Geschichte wahr ist – die Erinnerung ist sowieso eine Täuschung –, sondern es geht um die Wahrnehmung: Man nimmt sich eine Wahrheit und weiss, dass es nicht nur eine gibt.»

ERINNERUNGEN WIE GEMALT
Geschichten nahmen im Leben von Gabrielle Alioth schon immer einen wichtigen Stellenwert ein. Von den unzähligen Büchern, die ihr die Mutter vorlas, bis zu den Aufsätzen, die sie dann am Gymnasium schrieb, wo sie das Glück hatte, von der Deutschlehrerin gefördert zu werden. «Wenn ich im Lotto gewinne, schreibe ich ein Buch», habe sie damals als Schülerin gesagt. Im Lotto hat sie zwar nicht gewonnen, doch irgendwann habe sie begriffen, dass Schreiben das sei, was sie am liebsten mache. Aber es sei auch eine Sucht. Sie lebe, um zu schreiben – und umgekehrt. «Es ist das, was ich bin. Und ich würde genauso verbissen schreiben, wenn meine Bücher nicht publiziert würden.» Da ist keinerlei Koketterie dabei und tatsächlich fügt die Schriftstellerin sogleich an, dass sie es toll finde, wenn es andere auch interessiere. Aber es sei nicht wesentlich. Was sie immer wieder an den Schreibtisch ziehe, sei die etwa fünf Prozent der ganzen Schreibarbeit ausmachende Gewissheit, eine Erinnerung so formuliert zu haben, dass sie im Herzen stimme, festgehalten wie ein Bild. «Das ist das beste Gefühl der Welt!» Um Erinnerungen geht es auch im Roman mit dem Arbeitstitel ‹Die Überlebenden›, der nächstes Jahr erscheint. In ‹Die entwendete Handschrift› habe sie ja ihre Erfahrungen mit dem Basler ‹Daig› und insofern die Familie ihres Ex-Mannes behandelt und nun sei – nach einem Abstecher ins 7. Jahrhundert zum Namensstifter St. Gallens mit ‹Gallus, der Fremde› – fairerweise ihre eigene Familie dran. Wo auch nicht alles immer in bester Ordnung gewesen sei, fügt Gabrielle Alioth an. Was trägt man weiter aus der eigenen Familie, abgesehen von den Genen? Welche Prägungen und Verhaltensweisen? Mit welchen Möglichkeiten und Perspektiven wächst man auf? Diese Fragen hätten sie bei der Arbeit am aktuellen Buch beschäftigt. Es geht um die Familie der Mutter: um eine ihrer Schwestern, die in Schaffhausen den Zweiten Weltkrieg erlebte, um einen Cousin, der – in die USA ausgewandert – am Vietnamkrieg teilnahm. Das Ende der Geschichte ist in Riehen angesiedelt und behandelt das Thema Kindsein, Aufwachsen im Häuschen bis zum Verkauf desselben, als die demente Mutter ins Heim umzieht. Also die eigene Geschichte der Autorin – auf die Riehen doch gewartet hat.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2020

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