Hans Krattiger zum Gedenken
Michael Raith
Eine grosse Trauergemeinde nahm am 22. Februar 1993 in der Riehener Dorfkirche Abschied vom fünf Tage zuvor in seinem Heim am Talweg in seinem 79. Lebensjahr sanft entschlafenen Hans Krattiger, der als Pfarrer und Redaktor, als Maler und Dichter, als Chronist und Biograph eine vielseitige kulturelle Tätigkeit entfaltet hatte.
Von seiner Herkunft her war er ein echter Baselbieter: als Sohn des Hans Krattiger, Bürger von Oberdorf, und der Marie, geborenen Schaub, wurde er am 30. April 1914 in Binningen geboren und wuchs mit zwei älteren Schwestern auf. Doch schon zu Beginn der zwanziger Jahre zog die Familie ins Basler Gundeldingerquartier. Zwei Ereignisse überschatteten Hans Krattigers Jugendzeit: der frühe Tod der Mutter und die damalige Wirtschaftskrise, die nach sorgenvollen Jahren den Vater zwang, das eigene Geschäft aufzugeben und eine Stelle als Vertreter in einer neuen Branche anzutreten. Der Sohn besuchte während dieser Zeit die Schulen und bestand im Frühjahr 1935 an der Evangelischen Lehranstalt in Schiers die Eidgenössische Maturitätsprüfung.
Die Glaubensgesinnung des Vaters, der Konfirmandenunterricht bei Münsterpfarrer Eduard Thurneysen und die Lektüre der Bücher des religiös-sozialen Theologen Hermann Kutter senior bewogen Hans Krattiger Theologie zu studieren, was er an der Universität Basel tat. Das Sommersemester 1937 verbrachte er in Berlin, allerdings nicht an der von der Ideologie des Nationalsozialismus geprägten Universität, sondern an der Ausbildungsstätte der Bekennenden Kirche.
Das Studium fand seinen Abschluss mit dem Lernvikariat bei Pfarrer Fritz La Roche in Bennwil und der Ordination in der Stadtkirche Liestal im Frühjahr 1940 . Nach einem halbjährigen Vikariat in Pratteln trat Hans Krattiger Mitte Januar 1941 sein erstes Pfarramt in der weitläufigen Toggenburger Gemeinde Lütisburg an. Fünf Jahre später erfolgte seine Wahl nach Rheinfelden.
Hans Krattiger gab dann das Pfarramt auf und wurde Journalist. Was hier nach tiefer Zäsur aussieht, täuscht: er blieb der Welt des Wortes und sozialem Engagement verhaftet. Aber es gab auch schicksalbedingtes Leiden: es lässt Widersprüche wie konsequente überzeugung und verstehende Grosszügigkeit in seinem Leben erklärbar werden. In die Rheinfelder Zeit fällt die Geburt der Tochter Ursula Krattiger: als promovierte Historikerin und Journalistin folgte sie - wenn auch auf durchaus eigenen Wegen - in einigen Bereichen ihrem Vater nach.
Hans Krattiger trat 1953 in die Redaktion der Basler «National-Zeitung» und betreute dort unter anderem die mit verschiedenen sinnvollen Hilfsaktionen verbundene Samstagsbeilage «Ratsstübli». Schon 1954 übernahm er unter dem Pseudonym «Bebbi» die Verantwortung für die Kolumne «Zwischen Wiese und Birs» in der «RiehenerZeitung». Der spätere Gemeindepräsident Gerhard Kaufmann, damals auf Lehr- und Wanderjahren im Ausland, schreibt über diese Beiträge: sie «fanden jeweils mein besonderes Interesse, weil sich diese durch einen ganz neuen, lockeren Stil und eine eigene Plastizität auszeichneten und mir Kunde davon gaben, dass bei der Lokalzeitung im fernen Riehen ein neues journalistisches Zeitalter angebrochen war.» Als es 1976 zur Fusion der «NationalZeitung» mit den «Basler Nachrichten» kam, wurde auch Hans Krattiger - damals 62jährig - vorzeitig pensioniert, von Albert Schudel, dem Herausgeber der «Riehener-Zeitung», nun vollzeitlich in die Redaktion dieses Blattes berufen, eine Aufgabe, der er sich bis 1984 widmete. Daneben schrieb er fast zwanzig Jahre lang für das «Oberbadische Volksblatt» als «Vetter Jörg» einmal pro Woche einen «Brief aus Basel».
In der zweiten Lebenshälfte fand er in seiner Frau Trudi, geborenen Enzler, die Gefährtin, welche es verstand, seine musischen Gaben zu wecken und zu fördern. Das Heim in Riehen, dessen Bürgerrecht das Paar 1975 erwarb, wurde zum gastfreundlichen Haus. In dieser Atmosphäre entstanden die Bändchen mit alemannischen Mundartgedichten «Numme-n-e Spatz» (1976), «Bauchlötzli» (1981) und «Luege-n-und loose» (1986). Die Gemeinde Hausen im Wiesental zeichnete Hans Krattiger 1983 mit ihrer Hebel-Gedenkplakette aus. Einer ersten Ausstellung mit einer Anzahl von Aquarellen anno 1974 in der Galerie «Zur Alten Kanzlei» in Zofingen folgten solche in Basel, Riehen, Zug, Schloss Jegenstorf und in Ortschaften der ihm besonders verbundenen badischen Nachbarschaft.
Als Poet stand Hans Krattiger bewusst in der Nachfolge grosser Vorbilder wie Johann Peter Hebel und Matthias Claudius. Als darstellender Künstler schuf er Linol- und Holzschnitte sowie Terrakotten, vor allem aber Aquarelle mit Stilleben: seine äpfel-, Beeren-, Trauben- und Kirschenbilder sind kleine Predigten, sie wollen die «grosse Schöpfung in den kleinen Dingen» verkündigen.
Aber auch Landschaften und Riehener Bilder fanden sein Interesse; zudem illustrierte er Gedichte Hebels, Briefe, Berichte aus den Ferien im Berner Oberland und Reportagen seiner vielen Reisen.
Hans Krattiger stellte seine enorme Schaffenskraft auch der neuen Heimatgemeinde Riehen zur Verfügung. über ein Jahrzehnt lang (bis 1987) organisierte er die «Autorenabende», an denen gegen 80 Schriftsteller lasen: der erste war Albin Fringeli, der letzte der frühere Urner Regierungsrat Hansheiri Dahinden. Seiner Initiative ist auch die Gründung (1970) der Kommission für bildende Kunst zu verdanken; er gehörte ihr viele Jahre an. Last but not least prägte er als Redaktionsmitglied und Autor unser heimatliches Jahrbuch «z'Rieche». Er beherrschte vor allem das Genre der Künstlerbiographie. Für das Kulturressort der Gemeinde stellte er beispielsweise die Lebensläufe von 65 Frauen und Männern zusammen, die malend und dichtend in Riehen gelebt hatten. Hans Krattiger ganz für Riehen zu vereinnahmen, ginge jedoch an der Wirklichkeit vorbei: in seinem Denken und Tun war er ein typischer und grenzüberschreitender Vertreter der Stadt und Regio Basel.
Der Reichtum dieser Lebensernte setzt Phantasie, Können und Disziplin voraus. Obwohl es Hans Krattiger letztlich um Schönheit und Harmonie ging, wich er den Diskussionen des Alltags nicht aus: er konnte kämpfen und auch dann zu seiner Meinung stehen, wenn das für ihn nicht nur angenehm war. Dabei drehte sich keineswegs alles um seine eigene Person: er nahm teil am Leben seiner Mitmenschen, förderte und beriet, nichts weniger war er als eigennützig. Seine verlässliche und liebenswürdig-menschliche Freundschaft kam besonders im Mitfreuen und -feiern zum Tragen: seine launigen Verse gaben manchem Anlass die willkommene Pointe.
In seinen letzten Jahren durfte er zwar an der Seite seiner Gattin noch viel Schönes erleben, doch machte sich Krankheit, der er erliegen sollte, mehr und mehr bemerkbar. Er nahm Abschied von der Welt, von uns, mit den kurz vor seinem Tod gedichteten Versen:
De meinsch, der Wald und 's Dorfsinn ivie verschwunde,
Vo graue Näbelschwade wie verschluckt,
Und scho so lang, sit vyle triiebe Stunde
Und 's Gmüet isch wie bedruckt.
Und wo grad meinsch, es dät jetz däwäg blybe,
Und trotzdäm hoffsch, dass 's niimm so wyter miecht,
Taucht us em Nabel uff e hälli Schybe
Und d'Sunne bringt is Liecht.