Heimat in Bewegung
René Schanz
Die politisch und konfessionell neutrale Bürgerkorporation Riehen wurde 1946 gegründet. Seit 75 Jahren setzen sich engagierte Bürger – die Frauen sind seit 1977 in der Bürgerinnenkorporation organisiert – mit der Organisation von geselligen Zusammenkünften aktiv für lokale Traditionen, den Zusammenhalt und das Gemeinwohl ein, um die Gemeinde Riehen als Heimat ihrer Bürgerinnen und Bürger lebendig zu erhalten.
Einleitend muss ich die geschätzte Leserschaft enttäuschen, sollte sie vom Schreibenden in den folgenden Zeilen hauptsächlich eine chronikalische Abhandlung über die Bürgerkorporation Riehen (BKR) erwarten. Vielmehr versuche ich zu begründen, weshalb eine derartige Körperschaft über Jahrzehnte mit vielen Veränderungen und Einflussnahmen erfolgreich bestehen kann. Dies führt mich zur Frage, ob Bürger-Sein in Gegenwart und Zukunft noch ausreichend Anreize schafft, sich einer Männervereinigung anzuschliessen. Aufschluss darüber gibt die nähere Betrachtung der bewegten 75 Jahre dieser aussergewöhnlichen Organisation. Zweifelsfrei wäre Riehen ohne seine Bürgerkorporation nicht ‹das grosse grüne Dorf› geworden, das uns täglich so erfreut, sondern vielleicht ein eingemeindeter Vorort von Basel. «Grosse Worte», denken Sie jetzt vielleicht – nachstehend finden Sie meine Argumente.
WIDER DEN DROHENDEN IDENTITÄTSVERLUST UND FÜR DIE GEMEINSCHAFT
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war der Gemütszustand der alteingesessenen Bürgerfamilien von Riehen alles andere als ruhig. Grund dafür war der 1945 einsetzende, frappante Bevölkerungszuwachs durch die Einbürgerung staatenloser Flüchtlinge. Das barg die Gefahr einer Verstädterung und in der Folge der Einverleibung des Dorfes Riehen in die Stadt Basel. Die sich abzeichnende Entfremdung zwischen Alt- und Neubürgern wollten die späteren Gründungsmitglieder der Korporation mit einer ‹indigenen›, am Basler Zunftwesen orientierten Körperschaft überbrücken. Mit der Zugehörigkeit zur ‹Corporation› (französisch für ‹Zunft›) sollte allen Bürgern von Riehen ein dörfliches Heimatgefühl und der damit ursprünglich verbundene Gemeinschaftssinn vermittelt werden, damit diese innerhalb der wachsenden Riehener Bevölkerung bewahrt bleiben. Nach zahlreichen Vorbereitungssitzungen und kontroversen Diskussionen in den Dorfbeizen wurde am 22. Februar 1946 im Lüschersaal der Alten Kanzlei die Bürgerkorporation Riehen im Beisein von 176 Bürgern feierlich gegründet.
75 Jahre später ist die Bürgerkorporation nicht minder in Bewegung. In all den Jahren sind über 1600 Mitglieder dieser Vereinigung beigetreten, die in und für Riehen Bürgersinn und Traditionen in gleichem Masse hochhält. Auf der Jahresagenda stehen zum Beispiel der am ersten Sonntag im Mai stattfindende Bannumgang mit anschliessendem ‹Klöpfer-Bankett›, die Jungbürgerfeier im Herbst oder neuerdings auch der Unterhalt der einzigartigen Landes- und Gemeindegrenzsteine, diesen wertvollen Zeitzeugen aus vergangenen Jahrhunderten. Bei diesen Anlässen und Aktivitäten handelt es sich um Aufgaben, die der Korporation von der Gemeinde Riehen übertragen worden sind.
Ihren Mitgliedern bietet die Bürgerkorporation unvergessliche Momente am gediegenen Korporations-Abend, der jedes Jahr an einem Samstag um den 22. Januar stattfindet. An diesem feierlichen Stelldichein werden Freundschaften gepflegt und Beziehungen geknüpft. Dieses ‹Bürger-Mähli› soll an die Aufrichtung des Freiheitsbaums vor der Riehener Dorfkirche am 22. Januar 1798 erinnern, mit dem die Aufhebung der Leibeigenschaft im Basler Herrschaftsgebiet gefeiert wurde und der die neu gewonnene Freiheit und Gleichheit der Untertanen in Riehen mit den Stadtbaslern symbolisierte.1 Weitere Aktivitäten sind exklusive Herbstführungen, die Einblicke in Betriebe, Institutionen und Unternehmungen der Region ermöglichen, oder kameradschaftliche Hocks, die auch schon spontan bei Bratwurst, Brot und Bier an der 2016 selbst initiierten Feuerstelle im Maienbühl abgehalten wurden.
DIE ORGANISATION UND IHRE SCHÄTZE
Die Bürgerkorporation ist gemäss ihren Statuten politisch und konfessionell neutral. Sie bezweckt, den Bürgersinn innerhalb der Gemeinde zu bewahren und zu fördern. Jeder volljährige und unbescholtene Bürger von Riehen, der im Genuss der bürgerlichen Rechte und Ehren steht, kann Mitglied werden. Der zehnköpfige Vorstand setzt sich aufgaben- und fähigkeitsorientiert zusammen. Er verwaltet auch das Vermögen und prüft die jährlichen Vergaben. Die Vorstandssitzungen finden im Haus der Vereine statt, wo auch das Archiv untergebracht ist.
Im Archiv befinden sich nicht nur die Dokumente aus 75 Jahren, sondern auch Objekte, die von der Vergangenheit zeugen. An erster Stelle die ehrwürdige Adrema, eine mechanische Adressiermaschine von 1946, mit deren Adressplatten die Couverts und Karten der Mitgliederkorrespondenz während 40 Jahren aufwendig bedruckt wurden. Ein anderes erwähnenswertes Zeugnis befindet sich im ersten Stock des Gemeindehauses: die massive Korporationstruhe aus Nussbaumholz mit geschmiedeten Beschlägen und wunderschönen Schnitzereien.2 Einen Einblick in die Riehener Dorfgeschichte von 1946 bis 1972 aus der Sicht ihrer Bürgerschaft erhalten Interessierte, wenn sie in den zwei ersten Protokollbüchern der Korporation in der Dokumentationsstelle Riehen blättern. Allein die darin enthaltenen unverkennbaren Zeichnungen von Hans Schlup-Schaub oder Rudolf Wild sind Trouvaillen. Das zentrale Objekt, das symbolisch für die Bürgerkorporation steht, ist ein massiver Silberkelch mit einer goldenen Meise auf dem Deckel, der liebevoll ‹Vögeli-Becher› genannt wird nach seinem Stifter und in der Korporationstruhe aufbewahrt wird: Traditionell dürfen Neumitglieder wie Veteranen am Korporationsabend daraus ‹lüdderle›.3
‹EUSER RIECHE› – DAS VERMÄCHTNIS VON 1946
Zu Beginn des ersten Protokollbuchs steht folgende Leitfrage: «Hiermit fängt eine Bewegung an, wer weiss, wohin sie führt?» Wie bewusst die zwei Initianten der Bürgerkorporation Otto Wenk und Hans Stump das Wort ‹Bewegung› einsetzten, entzieht sich meiner Kenntnis. Verstanden sie es im übertragenen Sinn als Ortsveränderung? Ging es um den eingebundenen Begriff Weg, was den Bannumgang anklingen lässt? Stellten sie Bewegung mit dem Streben gleich, einen visionären Weg zu verfolgen? Oder meinten sie damit eine soziale Bewegung?
Blicken wir auf die erste Ära der Bürgerkorporation zurück, zeigt sich, dass der wesentliche erste Akt dieser Gründungs- und Aufbauzeit darin bestand, mit den alten Riehener Bürgerfamilien eine Gesellschaft für neue Bürgergeschlechter zu bilden, um gemeinsam – und möglichst zahlreich – für die Selbstständigkeit der Gemeinde Riehen einstehen zu können. Ausserdem galt es, einen heimatlichen ‹Bürgersinn› zu teilen und zu fördern und die damit verbundenen Bürgerpflichten innerhalb der Gemeinde zu stärken.
Dieses Ziel wurde auf Anhieb erreicht: Es ziemte sich, der Bürgerkorporation anzugehören – innert drei Jahren hatte sie bereits 400 Mitglieder.4 Dieser Erfolg ist sicher auf die gesellschaftlichen Anlässe zurückzuführen. Mit Bannumgängen und heimatkundlichen Ausführungen wurden das Gemeindegebiet und seine landschaftliche Vielseitigkeit vorgestellt. Der vergessene Brauch des Fasnachtsfeuers5 wurde wieder ins Leben gerufen, aber auch soziale Dienste durften nicht fehlen: So wurden für die Senioren im Landpfrundhaus und die Diakonissen zu deren grosser Freude Ausfahrten organisiert. Bereits an den ersten, gut besuchten Korporationsabenden im damaligen Gasthaus zum Rössli oder im Restaurant Niederholz fanden aber auch rege Diskussionen zur Dorfkerngestaltung, zur Gefährdung des Riehener Baumbestands durch die Basler Grundwasserpolitik oder zur Verwendung des bürgereigenen Waldes statt. Denn das angestrebte Bürgertum bedeutet ein ortsgebundenes ‹Bürger-Sein›, das den ‹genius loci›, den einzigartigen Charakter seiner Gemeinde mit ihrer besonderen Atmosphäre und Geschichte kennt und fördert. Das ist keine Aufgabe einer politischen Partei und somit statutenkonform «politisch neutral». Damals stellten die weitläufigen verwandtschaftlichen Vernetzungen der Dorfbewohner untereinander ein grosses Bindungspotenzial dar und auch die geringe Mobilität begünstigte die Identifikation mit dem damals landwirtschaftlich geprägten Riehen. Im Vergleich mit anderen, auch ausländischen Gemeinden konnte Riehen seinen Charakter so gut bewahren, nicht zuletzt, weil es die Dorfgemeinschaft verstand, die Zugezogenen zu integrieren und für ihre Belange zu interessieren. Die Bürgerkorporation trug das ihre dazu bei mit ihrer Freude am Heimatort, die der Begrüssungsprolog ‹Euser Rieche› von 1946 verdeutlicht.6
DAS KOLLEKTIV ENTWICKELT SICH ZUR FESTEN GRÖSSE
Die nachfolgende Ära beschrieb der spätere Ehrenpräsident Theodor Seckinger7 liebevoll und ausführlich im ‹Jahrbuch z’Rieche› 1966. Besonders erwähnenswert ist in der nächsten Dekade der Bannumgang 1972, als anlässlich der 450-jährigen Zugehörigkeit Riehens zu Basel alle Einwohnerinnen und Einwohner eingeladen waren.8 Und im Jahr 1977 wurde die Bürgerinnenkorporation Riehen gegründet, dank deren Unterstützung zahlreiche Anlässe überhaupt erst möglich wurden.
Die Ära ab 1980 war geprägt von der Öffnung der Bürgerkorporation gegenüber den Nachbarn. Erstmals wurden politische Vertreter der angrenzenden baselstädtischen und deutschen Gemeinden an die Bannumgänge eingeladen – je nach begangenem Abschnitt. In diese Zeit fiel auch die Erneuerung der Statuten, ohne aber die ursprünglichen Absichten zu verändern. Zudem kam bei der inzwischen grossen Mitgliederzahl der Wunsch nach einem eigenen Haus auf, um die ortsbezogene Identität zu stärken und einen Raum der emotionalen Verbundenheit für regelmässigen Austausch und geselliges Jassen zu schaffen. Vorbild waren die Zunfthäuser der Stadtbasler Zünfte. Da das Korporationsvermögen in den vergangenen über 30 Jahren beträchtlich angewachsen war, erschien eine Kapitalisierung als durchaus möglich.9 Also prüfte der Vorstand Optionen wie die Alte Kanzlei, in den Drei Brunnen und im Landauer, ja sogar das Eisweiher-Gebäude. Der letzte entscheidende Schritt wurde aber nie gemacht. Der Wunsch nach einem eigenen Haus besteht bis heute.
Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war die Ära der Superlative für die Bürgerkorporation. Das Jahr 1991 brach sogar gleich mehrere Rekorde: Am Korporationsabend zählte der Vorstand im Landgasthof unvorstellbare 310 Mitglieder. Gar 650 Teilnehmende trafen sich nach dem Bannumgang anlässlich des 700-Jahr-Jubiläums der Eidgenossenschaft zum gemeinsamen Fest in der Reithalle des Wenkenhofs.
Das Signet der Bürgerkorporation Riehen kreierte Grafiker und Korporationsmitglied Fredy Prack 1994. Mit diesem Signet als konsistentem Erkennungszeichen – einem typischen ‹Corporate Design›, bestehend aus Logo und Erscheinungsbild – eigneten sich die Bürger eine weitere Identifikation gegen aussen an. Dieses fehlte fortan an keinem Anlass und auf keiner Korrespondenz mehr.
1996 beging die Bürgerkorporation Riehen ihr 50-Jahr-Jubiläum. Der Korporationsabend fand ausnahmsweise in der Reithalle des Wenkenhofs statt. Jedem Mitglied wurde das Signet als Anstecknadel und auf einem Zinnbecher überreicht.10 Mit dem ‹Korporationsmarsch›, den der in Riehen wohnhafte Komponist Emil Würmli eigens für diesen Anlass geschrieben hatte und selbst dirigierte, eröffnete der Musikverein Riehen die stilvolle Feier. Der Bannumgang wurde erstmals als Sternmarsch über drei Routen und in drei Rotten absolviert.11 Das gemeinsame ‹Klöpfer-Bankett› fand in einem grossen Festzelt im Sarasinpark statt. Angesichts der vielen Neuerungen mahnte der damalige Präsident Hans Löliger in seiner Festansprache, die Werte der Korporation nicht zu vergessen und weiterhin eine verlässliche Konstante im Wandel zu bleiben.
In dieser Zeit überlegte sich der Vorstand, einen Rebberg im Schlipf zu erwerben und das leerstehende Restaurant Warteck an der Baselstrasse als Vereinslokal zu übernehmen, gab aber beide Vorhaben wieder auf. Immerhin wurde die bereits erwähnte Pflanzung einer Dorflinde auf dem Kirchplatz realisiert. Und Michael Raith, der ehemalige Gemeindepräsident von Riehen, verfasste seinen umfassenden und lehrreichen Beitrag zum 50-Jahr-Jubiläum der Bürgerkorporation Riehen im ‹Jahrbuch z’Rieche 1996›. Das Projekt eines Geschlechterbuchs, das die Stammbäume der ursprünglichen Riehener Geschlechter und deren Sippen und Verwandtschaften aufzeigen sollte, konnte aufgrund des viel zu frühen Hinschieds von Michael Raith durch den Vorstand um den Präsidenten Willi Fischer nicht zum Abschluss gebracht werden.12
BEWEGT INS 21. JAHRHUNDERT
Die Bürgerkorporation Riehen blieb ihrer Sinngebung und sich als ‹indigener Bewegung› auch im 21. Jahrhundert uneingeschränkt treu und pflegte die Gemeinschaft, ihre Werte und Traditionen. Die statuarisch festgelegte Vorgabe, «politisch neutral» zu sein, galt es zu respektieren. Seit der Gründungszeit bekleideten zahlreiche Mitglieder, auch ausserhalb des Vorstands, höchste politische, gesellschaftliche und öffentliche Ämter in der Gemeinde und im Kanton Basel-Stadt. Einerseits stellte die Mitgliedschaft in der Bürgerkorporation in Bezug auf den Bekanntheitsgrad ein ‹Sprungbrett› dar bei politischen Wahlen und privatwirtschaftlichen Ernennungen, andererseits konnte die Bürgervereinigung durch ihre Mitglieder immer wieder Einfluss auf das politische und öffentliche Handeln nehmen. Diese Symbiose führte allerdings zu keinerlei Übervorteilung, ganz im Gegenteil: Oftmals trugen umsichtige Rücktritte von Vorstandsmandaten zur Entflechtung der Interessen bei. Kontakte und Beziehungen spielten dann eine entscheidende Rolle, wenn es darum ging, in der Bürgerkorporation Innovationen umzusetzen und Events durchzuführen. Manchmal wiederholte sich aber auch die Geschichte: Der Kauf der Riehener Waldhütte unterhalb des Maienbühls zum 60-Jahr-Jubiläum scheiterte an den Nutzungsauflagen.
Das digitale Zeitalter hielt auch im Alltag der Korporation Einzug, galt es doch, den Eindruck des ‹Altbackenen› gegenüber jüngeren Generationen abzulegen. ‹Netzwerken› findet seither nicht mehr nur an Anlässen statt, sondern jederzeit auf allen digitalen Kanälen. Auch die uneingeschränkte Mobilität veränderte die sozialen Aufgaben der Wohnort-unabhängigen Bürgerkorporation: Das Bürger-Sein kann man nicht nur auf dem Riehener Gemeindegebiet pflegen. Die Mitglieder leben in der ganzen Schweiz und im Ausland.
Die Ausfahrten mit den Diakonissen und den Bewohnern des Landpfrundhauses hatten sich schon länger erübrigt. Das gesellschaftliche Stelldichein an sich reichte nicht mehr als Teilnahmegrund, Zusammenkünfte mussten Informatives, Neues, Unbekanntes oder Unzugängliches beinhalten. Die Bannumgänge wurden zu Familienanlässen, die Korporationsabende leben von kulinarischen und künstlerischen Inszenierungen. Dennoch ist die Körperschaft gut beraten, nicht nur auf die Attraktivitätssteigerung zu setzen. Ein eigenständiges, wahrnehmbares Profil zur Abgrenzung von den vielen Angeboten anderer Vereine und Organisationen steht im Vordergrund. Dieses Profil besteht aus der gelebten Tradition und dem Weitergeben entsprechender Handlungsmuster, Überzeugungen, Gepflogenheiten und Konventionen über alle Generationen, kurz: was das Heimatgefühl nährt.
Heute werden Heimatgefühle eher traditionell orientierten Gesellschaftsformen zugeschrieben. Der Umgang mit Traditionen in der Korporation ist allerdings nicht protektionistisch. Es besteht daher keinerlei Gewähr für ihren Fortbestand. Darin besteht die zentrale Herausforderung für Gegenwart und Zukunft: Was soll junge Neubürger, denen in einer globalisierten Welt unbegrenzte Möglichkeiten zur Verfügung stehen und deren soziale Lebenswelten zunehmend in virtuellen Netzwerken stattfinden, dazu bewegen, ihre Zugehörigkeit zu einem Dorf wie Riehen zu bekennen und sich damit zu identifizieren? Die Auflösung traditionell orientierter Lebensweisen im Zuge von Postmoderne und Globalisierung verlangt nach Gegengewichten wie räumliche Verankerung, gesellschaftliche Solidarität und Gemeinwohlorientierung. Werden an einem Ort das menschliche Grundbedürfnis einer Person nach sozialer Anerkennung erfüllt und sein solidarischer Individualismus gefördert und diese Kontakte zudem als ortsspezifisch betrachtet, wird sich diese Person an diesem Ort wohlfühlen und ihn nicht freiwillig verlassen. Dieses Grundbedürfnis nach lokaler Identität will die Bürgerkorporation sicherstellen.
Dieser Kontext prägt die aktuelle Ära. Mein Vorgänger als Bürgerkorporations-Präsident, Peter Meier, reorganisierte und verkleinerte den Vorstand nachhaltig und wirkungsvoll. Er motivierte einige ‹Jungspunde› zur Vorstandsarbeit und brachte dadurch eine gesunde Durchmischung von Jung und Alt in diesem Gremium zustande, was sich ebenso positiv auf die Mitgliederwerbung wie den zeitgemässen Internet-Auftritt auswirkte. Der reizvolle Mix aus Fortschritt und Tradition scheint besonders verlockend für die Altersgruppe der unter 40-Jährigen. Gelingt es, sie aktiver ins Dorf- und Korporationsleben zu integrieren, kann das ihre lokale Identifikation mit Riehen positiv beeinflussen. Es braucht einen attraktiven Gegenpol zu den urbanen Gebieten mit ihren unzähligen Freizeitmöglichkeiten: Die feierliche Aufnahmezeremonie, die einzigartigen Begegnungen an ausserordentlichen Orten, die Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes und gemeinnützige Aufgaben sind unser Trumpf. Die gelebte Bescheidenheit und das Hochhalten von Werten lassen dabei weder Leistungszwang noch Standesdünkel zu. Gemeinschaftssinn ist wichtig: Auf unserer Website sind alle bisherigen Mitglieder aufgelistet, was zu einem Beitritt bewegen kann in der Familientradition – oder um Kontakte zu pflegen und aufzubauen. Das Heimatgefühl ist immer mit emotionalen Aspekten verknüpft. Lokale Identität kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Deshalb ist die Bürgerkorporation bestrebt, anlässlich der jährlichen Jungbürgerfeier mit dem neuen Jubiläumsbuch Interesse an der Mitgliedschaft in dieser Bewegung zu wecken, die seit 1946 unterwegs ist – um die eingangs gestellte Frage der Gründer zu beantworten. Und bislang ist kein Ende in Sicht.
Das Buch zum 75-Jahr-Jubiläum
Im Februar 2017 entschied der Vorstand, allen Mitgliedern und Interessenten anlässlich des Korporationsabends 2021 eine Jubiläumschrift über die vergangenen 75 Jahre der Bürgerkorporation abzugeben. Eine erste Auslegeordnung machte klar, dass keine eigentliche Chronik entstehen sollte, sondern ein kurzweiliges Potpourri aller Aktivitäten entlang den präsidialen Epochen. Und dass diese Geschichten aus der Sicht eines typischen ‹Urrieheners› verfasst werden sollten. Der imaginäre Migger von der Schlossgasse war geboren.
Bald stellte sich heraus, dass aus der angedachten ‹Schrift› ein edles Buch werden würde. Mit dem Reinhardt Verlag Basel fand sich ein zuverlässiger Partner und mit Beatrice Rubin eine Projektleiterin, die ganz offensichtlich grosse Freude hatte an den Geschichten dieser Männerbande. Als über die Auflage diskutiert wurde, entschied sich die Bürgerkorporation, nicht nur ihre Mitglieder, sondern fortan auch die Jungbürger in den Genuss des Jubiläumsbuchs kommen zu lassen. Inhalt und Layout erhielten eine moderne Ausrichtung und der schlichte Titel ‹Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Bürgerkorporation Riehen› unterstreicht dies.
Präsidenten der Bürgerkorporation
1946–1957 Adolf Vögelin-Donzé
1958–1978 Theodor Seckinger-Bouix
1979–1987 Hans Schmid-Bernhard
1988–1993 Fritz Weissenberger-Tanner
1994–2000 Hans Löliger-Ocariz
2000–2006 Willi Fischer-Pachlatko
2006–2015 Thomas Strahm-Lavanchy
2015–2021 Peter Meier-Borkholz
seit 2021 René Schanz-Pfister
1
1996 pflanzte der Vorstand der Bürgerkorpora-tion zum 50-Jahr-Jubiläum an derselben Stelle eine Linde. Am 1. Januar 2021 wurde das 75-Jahr-Jubiläum hier begonnen mit der Anbringung einer Erinnerungstafel.
2
Hans Lengweiler entwarf und schnitzte die Truhe. Er übergab sie der Bürgerkorporation 1957. Den handwerklichen Teil hatten die Mitglieder Schlossermeister Hans Roth und Schreinermeister Willi Wirz besorgt.
3
1958 von Ehrenpräsident Adolf Vögelin gestiftet; gefertigt von Eugen Seiler, Basler Goldschmied und Sohn des gleichnamigen früheren Gemeindepräsidenten von Riehen.
4
Die Einwohnerzahl Riehens erreichte 1950
die 10 000er-Marke.
5
Am Sonntag vor der Basler Fasnacht begrüsste die Riehener Bevölkerung auf dem Humperg (heute Bischoffshöhe) mit einem grossen Feuer den Frühling und zog danach in einem musikalisch begleiteten Fackelzug in den Dorfkern, vgl. Hans Lengweiler: s’Fasnachtsfüür, in: z’Rieche 1964, S. 77–80. Der Brauch wurde 1951 wieder aufgegeben.
6
Kurt Vögelin trug dieses Gedicht von Jakob Mory an der Gründungsversammlung vor. Es fällt auf, dass sich der damalige Riehener Dialekt stark vom stadtbaslerischen abgrenzt und die Arbeit der damals noch zahlreichen Bauernfamilien ehrt. Ausserdem deutet es an, dass der Korporationsgedanke nicht nur Befürworter hatte.
7
‹Thedi› hatte 21 Jahre lang das Amt des Präsidenten inne und schenkte der Bürgerkorporation bei seinem Rücktritt 1978 ein Bild von Rudolf Wild, das ‹Karli› Meyer als Weidmann zeigt und heute im Haus der Vereine hängt.
8
Danach war die Teilnahme am Bannumgang bis 2003 wieder ausschliesslich Bürgern und Bürgerinnen vorbehalten.
9
Es handelt sich dabei um den sogenannten «Unantastbaren Fonds», eine eigentliche ‹Kriegs-
kasse› für Notfälle, der durch eine – heute unvorstellbare – Verzinsung stark angewachsen war: Mit dem Zins allein konnte der jährliche Korporationsabend finanziert werden. In den prosperierenden 1990er-Jahren erschien eine solche Reservebildung zusehends unnötig.
10
Das Signet schmückt auch die 1998 eingeweihte Korporationsfahne oder die 2002 angeschafften Krawatten und Tischbanner.
11
Die Strecken waren: Hörnli Grenze–Ausserberg–Wenkenhof, Spittelmatten–Wiese–Schlipf, Stettenfeld–Rotengraben–Maienbühl.
12
Bereits 1975 prüfte Johannes Wenk, Vorstandsmitglied der Bürgerkorporation und Kom-
missionsvorsitzender, die Herausgabe eines Riehener Familienbuchs.